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Die Heroen der Technik und das helvetische Kollektiv

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Der Gotthard fliegt jedoch nicht in die Luft, im Gegenteil: Nach der Eröffnung der Bahnstrecke wird er gar militärisch befestigt, und gleichzeitig wächst er zum Zentralmassiv des eidgenössischen Selbstbehauptungswillens heran. Die Gotthardbahn wird nach 1909 nicht nur materiell, mit der Eingliederung in die «Schweizerischen Bundesbahnen», sondern ebenso ideologisch nationalisiert. Auch die Dichter des 20. Jahrhunderts arbeiten auf dieser neuen geistigen Gotthard-Baustelle.9 Sie re-inszenieren den Bau des Tunnels, dessen Eröffnung man 50 Jahre zuvor (im Jahr 1932) feierte. Im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung wird der Tunnelbau zur nationalen Gründungstat umgedeutet. Dabei entstehen allerdings Spannungen zwischen dem modernen Technikdiskurs und der mythischen Gründungsgeschichte wie auch zwischen dem heroischen Einzelnen und dem Kollektiv. Doch auch dafür liefert – so die bestehende These – die helvetische Katastrophenkultur eine vermittelnde Matrix.

Dies zeigt sich zunächst an dem wirkungsmächtigen Jugendbuch von Robert Schedler Der Schmied von Göschenen. Eine Erzählung aus der Urschweiz für Jung und Alt, das zwischen 1920 und 1971 elf Auflagen erlebt.10 Der jugendliche Titelheld schart mit seinem Projekt, die Schöllenenschlucht durch den «stiebenden Steg» begehbar zu machen und dadurch den Gotthard zu erschliessen, die ganze Talschaft hinter sich. Er ist der erste Technikheld der Schweiz, ein Tell mit Amboss statt mit Armbrust, der in der Schöllenen die neue Willens- und Solidargemeinschaft zusammenschmiedet. Als solcher ist er auch ein impliziter Vorläufer von Louis Favre, dem Ingenieur des Gotthardtunnels. Dieser rückt ins Zentrum weiterer Gotthard-Romane, am entschiedensten im Roman des Österreichers Oskar Maurus Fontana Der Weg durch den Berg: Ein Gotthard-Roman, der 1936 in Wien erscheint.11 Favre kämpft hier als heroischer Einzelner nicht nur gegen die Naturgefahren, sondern auch gegen die Widerstände aus der Bevölkerung. Felix Moeschlin scheint als Schweizer darauf zu antworten: Mit dem monumentalen Roman Wir durchbohren den Gotthard (1947/49) gibt er jenem «Wir» seine Stimme, das allein den Gotthard bezwingen könne.12 Auch wenn dieses Kollektiv wesentlich aus italienischen Tunnelarbeitern besteht, rückt der Bahnbau so ein in die alten Strategien des kollektiven helvetischen Kampfs gegen die Naturgefahren.

Die Geistige Landesverteidigung steht dabei zwischen der Rückbesinnung auf eine mythische, naturnahe Solidargemeinschaft und dem Fortschrittsglauben. Die alpine Sagenwelt, wie sie etwa Eduard Renner mit dem Goldenen Ring über Uri 1941 heraufbeschwört,13 steht gegen eine Publikation wie die von Walter Angst im «Schweizerischen Jugendschriftwerk» von 1944: Mit 12 000 PS durch den Gotthard. Technische Reise eines jungen Eisenbahnfreundes.14 Diesen Widerspruch kann man gerade am Gotthard im Zeichen der eingeübten Bewältigungsstrategien von Naturgefahren aufheben. Das versuchen auch weitere Gottharderzählungen der Zeit.15 Am formvollendetsten Meinrad Inglin mit seiner Novelle Die Lawine.16 Der Titeltext der gleichnamigen Sammlung erscheint 1947. Jener Lawine im Reusstal, die er zum Titel erhebt, setzt er eine Eisenbahnbrücke entgegen, die schliesslich einen Triumph der Technik und ein fast unverschämtes Liebesglück ermöglicht, in dem sich auch die vom Krieg verschonte Schweiz erkennen kann – eine geniale literarische Ingenieursleistung.

Gotthardfantasien

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