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Grotesker Gegengotthard: Hermann Burgers Die künstliche Mutter

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Einen solchen Einspruch, wenn auch in ganz anderer Form, erhebt auch Herrmann Burger mit seinem 1982 publizierten Roman Die künstliche Mutter.22 Genau zum 100. Jubiläum der Tunneleröffnung liefert Burger das groteske Satyrspiel zum modernen Gotthard-Diskurs, ebenso vielschichtig wie dieser. Zwar steht in seinem Zentrum die Geschichte einer individuellen Katastrophe und ihrer Therapie: der Versuch des Germanisten und Glaziologen Wolfram Schöllkopf, im Gotthard vom Selbstmord seiner Geliebten, von seiner «Unterleibsmigräne» (S. 42) und von seiner Mutterbindung zu genesen.23 Umso ironischer, dass Schöllkopf, der Held mit der Gotthard-Schlucht im Namen und im Schädel, erst in jener österreichischen «Kur-Enklave» (S. 165) Heilung findet, die Burger mitten ins helvetische Kernmassiv hinein fantasiert. Die literarische Abzweigung des Gotthardtunnels nach Österreich, wie sie Spitteler nur andeutet, wird von Burger realisiert, als Satire auf das Verhältnis der Schweiz zum historischen Erbfeind und als ironische Reminiszenz an die eigene Katastrophenkultur. In der «thermischen Wärme des Österreichischen Gotthards» (S. 195) hört Schöllkopf die «Stimme des Gletschers», die «sein Katastrophengedächtnis» auffrischt mit älteren und neueren Naturkatastrophen (S. 180f.). Und er verliebt sich in die «katastrophenbergende Stimme» einer deutschen Tagesschausprecherin (S.226). Überall, selbst in der Sprache des Romans, stecken die latenten Katastrophen. Wortschöpfungen wie «Lawinenkegelbahnen» (S. 130) oder «Gebirgstrichterschwermut» (S. 188) zeugen von Burgers mutwilligen Abschweifungen zu jenen Abgründen, vor denen früher die Reisenden zurückschreckten. Burger spielt mit den Katastrophen, so wie er in jener Modelleisenbahn-Anlage, die als Mise en abyme der Gotthardbahn im Kirchlein von Wassen wiederum die Gotthardbahn nachstellt, einen Zugszusammenstoss in einem Tunnel inszeniert (S. 110).

Doch sowohl als souveräner Regisseur am Steuerpult seiner literarischen «Gegengotthardbahn» (S. 110) wie auch als leidender Schöllkopf bleibt Burger radikal allein. An jenen Katastrophen, die in der Geschichte der Schweiz und auch der Gotthardbahn immer wieder neu die Solidargemeinschaft begründen sollen, erlebt Schöllkopf gerade seine Vereinzelung. Gelegentlich erscheint der Roman zwar als Bericht, der sich vom Gotthard aus an die urbane Schweiz richtet, «an die Hinterbliebenen im Unterland» (S. 130). Das wäre noch jene Diskursform, wie sie für die Kohäsion der urbanen mit der alpinen Schweiz unentbehrlich ist. Doch Burgers Romanheld bleibt im Roman ohne Echo; er findet zwar schliesslich den Weg nach dem Süden, aber dort auch den Tod. Doch dazu braucht er nicht den Tunnel, die Abkürzung. Die künstliche Mutter ist alles andere als eine lineare Geschichte. Das literatur- und ideologiegeschichtlich sedimentierte Material, in dem sie sich bewegt, zwingt sie zu immer neuen Abzweigungen und Abschweifungen. Schon Spitteler hatte seinen Eisenbahnauftrag nur in recht abschweifender Form literarisch umgesetzt. Burger geht auch diesbezüglich viel weiter: Abschweifung wird zum eigentlichen poetischen Anti-System. Zwar hat auch Burger architektonische Planskizzen für sein monumentales Buch gezeichnet. Er erkennt jedoch, dass seine «Schreibingenieursvermessungarbeiten» für sein in jedem Sinn massloses Projekt eigentlich nicht taugen.24

Das ist symptomatisch. Denn die Literatur sucht, anders als die Ideologen und die Ingenieure, nicht den direkten Weg. Die literarische Gotthardpost fährt wissentlich gefährliche Umwege, setzt sich katastrophischen Bedrohungen und Widersprüchen aus, erkundet den Berg imaginär in sich verzweigenden Gedankenstollen, wählt das langsamere Verkehrsmittel statt des schnelleren. Das ist ihre Zumutung an den Leser, das ist ihr Eigenrecht. Dieses grundsätzliche Recht auf den Umweg sollte die Gotthard-Literatur weiterhin geltend machen. Dies erst recht, wenn die neue Direttissima von Erstfeld nach Biasca die alte Bergstrecke ihrerseits zum Umweg und zur poetischen Abschweifung hinein in die Gotthard-Gefahren machen wird.

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