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Die schweizerische «Katastrophenkultur» und Carl Spittelers Gedankendynamit

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Daraus hat sich in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert eine eigentliche helvetische «Katastrophenkultur» entwickelt.6 Die plurikulturelle Schweiz, die – anders als die meisten europäischen Staaten – ihren inneren Zusammenhalt nicht in Kriegen gegen aussen aushärten kann, beweist bei Erdrutschen, Überflutungen oder Lawinenkatastrophen ihr Existenzrecht als «Schicksalsgemeinschaft» unter den Alpen, zu denen sie von allen Seiten aufblickt. Und in breiten Spendenaktionen kann sie ihre Solidarität als «Willensnation» einüben, ein erstes Mal beim Bergsturz von Arth-Goldau von 1806, der über 400 Opfer fordert und eine topografische Kernzelle der Schweiz trifft. Die Idylle wird zum Katastrophengebiet. Erstmals wird eine gesamtschweizerische Hilfsaktion gestartet, die alle Landesteile erfasst. Der friedliche Spendenwettbewerb überbrückt politische, soziale und konfessionelle Gegensätze, und gerade die städtischen Gebiete können mit ihrem Beitrag die virtuelle Zugehörigkeit zur Alpenschweiz beglaubigen, der sie ökonomisch eigentlich bereits den Rücken zuwenden. Diese «Katastrophenkultur» wird in der Schweiz zum Kulturgut: auf die Liste des «immateriellen Kulturerbes der Schweiz» zuhanden der UNESCO hat der Bundesrat 2014 den Umgang mit der Lawinengefahr an die erste Stelle gesetzt.

Der Bau der Gotthardbahn ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Einerseits ist der Gotthardtunnel selbst eine effiziente Massnahme, um den Alpenübergang vor den Naturgefahren zu sichern. Andererseits setzt die Bahn auf den Zufahrtsstrecken zum Scheiteltunnel die Reisenden und Güter, die sie nun in Massen in die Alpenwelt hineinsaugt, diesen Gefahren gerade aus. Gleichzeitig behauptet sie, dagegen alle nötigen technischen Vorkehrungen treffen zu können. Sie setzt also im Kampf gegen die Naturgefahren ganz auf den technischen Fortschritt. Dies wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf: Wie verträgt sich dieser Triumph des Fortschritts mit den Gründungsmythen der Schweiz, die er eigentlich im Wortsinn unterminiert? Wird nun ein heroisches Techniknarrativ an die Stelle des militärisch geprägten Gründungsnarrativs gesetzt? Ist dieses Narrativ mit jenem gemeinschaftlich-solidarischen Sozialmodell kompatibel, das die Katastrophenkultur generiert? Welche Rolle spielen dabei die Alpen, der häufig personifiziert auftretende «Berg»? Ist er der älteste Verbündete der Schweiz, im Sinn des Réduits, oder der Gegner, den man mit der Technik besiegt?

Diese Widersprüche und Spannungen werden auch in der Literatur ausgetragen. Dabei werden sie nach aussen gestülpt, werden sichtbar und reflektierbar. Sie vermittelt diese Widersprüche an ihr Publikum, das ja meist im urbanen Flachland angesiedelt ist, und bindet dieses so zurück an die Alpenschweiz und ihre Katastrophenkultur, in die sie immer wieder abschweift. Ein erstes Beispiel dafür liefert Carl Spitteler. Er verfasst im Auftrag der Gotthardbahngesellschaft 1896 das Buch Der Gotthard – der erste bekannt gewordene Reklameauftrag an einen Schweizer Schriftsteller.7 Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert, von denen nur der erste den Auftrag direkt reflektiert: «Mit der Eisenbahn» und «Zu Fuß». Der Fahrt mit der Gotthardbahn, in deren Auftrag Spitteler ja schreibt, wird die archaische Fusswanderung in der Gotthard-Region gegenübergestellt, die den dichterischen Journalisten erst richtig an die harte Natur und ihre archaischen Gefahren heranführt. Fast wie die Gartenlaube beschwört Spitteler herauf, wie eine Fahrt über den Pass früher eine «dreitägige Schlacht des wehrlosen Menschen mit der Natur, die heimtückisch aus dem Hinterhalte droht» (S. 145) gewesen sei. Diese Bedrohung ist auch durch die Eisenbahn nicht gelöscht: Im Zentrum des Buchs rückt ein erstaunlicher Exkurs über das 1895 von einer Lawine verschüttete Airolo die Naturgefahren ganz dicht an die neue Bahnstrecke und an den Leser heran.

Gegenüber diesen breit ausgemalten Katastrophenszenarien bleibt Spitteler beim Gotthardtunnel selbst erstaunlich wortkarg. Ja, die «erhabenste Tunnelnacht» scheint sich kaum zu unterscheiden von einer banalen «Kellernacht». Kein Gedanke an die heroischen Erbauer des Tunnels, wie man sie später auch literarisch immer wieder feiern wird. Um sich selbst Angst zu machen, und damit die Tunnelquerung doch noch zu einem Ereignis würde, muss man sich schon eine Katastrophe imaginieren:

«‹Was geschähe jetzt, wenn jetzt –? Eine Entgleisung mitten im Tunnel zum Beispiel –› oder, wie jene Bäuerin meinte, ‹wenn sich der Zug unter der Erde ‹verirrte›, so daß er statt nach Italien gegen Österreich führe und unterwegs stecken bliebe, daß man ihn ausgraben müßte wie der Dachs in der Höhle?›» (S. 44)

Eigentlich hat der Tunnel die Schrecken des Berges beseitigt. So braucht es eine schon dichterische Fantasie, ein «Was wäre wenn …», um dem Tunnel-Thema noch neue Schrecken abzugewinnen. Friedrich Dürrenmatt wird dieses Szenario 60 Jahre später in seiner Novelle Der Tunnel zu Ende denken, in der ein Zug aus der helvetischen Fahrplan-Topografie heraus dem Erdinnern entgegenstürzt. Eine andere fantastische Abzweigung wird Hermann Burger wählen, die sogar nach Österreich führt. Jedenfalls scheint der Banalität des Tunnelerlebnisses nur eine Katastrophenfantasie beizukommen, mit der jedoch auch Spittelers Text selbst definitiv von seinem Auftragsgleis abkommen würde.

So taucht der Text die Gotthardbahn trotz allen guten Reklamevorsätzen in ein merkwürdiges Zwielicht: Sie führt uns zwar elegant ins Herz der Gotthard-Landschaft hinein, doch droht sie mit den alpinen Gefahren auch deren besondere Erlebnisqualität zu beseitigen. Darum sucht der Text imaginativ die Faszination der Katastrophe, ohne aber deren Solidaritätskontribution zu verlangen. Ohnehin kommen in Spittelers Text keine schweizerisch-nationalen Gefühle auf, wie sie 50 Jahre später beim gleichen Thema obligatorisch wären. Im Gegenteil: Auf dem Gotthard weiss man sich «mehr in Europa als überall sonst.» (S. 12) Euphorisch wird Spitteler nur, wenn er jenen Süden heraufbeschwört, den man dank dem Tunnel nun schneller erreicht.

Die Alpen dagegen haben für Spitteler letztlich keinen Eigenwert. Das sagt er in diesem Buch aber nicht explizit. Nur seinem Freund Joseph Viktor Widmann schreibt Spitteler:

«Ich hasse im Grunde die Berge, weil sie kälten und dem Himmel, also der Lichtkugel Stücke wegfressen, den Horizont verringern […]. A propos Gotthard u. meine alpine Natur: meine Lieblingsphantasie ist jetzt, den Gotthard mit allen Alpen mit Dynamit in die Luft zu sprengen auf die andere Seite, gegen Norden, damit wir italiänische Luft direct bekämen.»8

Als Tunnelbauer eigenen Rechts hantiert hier der spätere Nobelpreisträger ganz unbefangen mit jenem Gedankendynamit, das ihm nur als Dichter in unbegrenzter Menge zur Verfügung steht.

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