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Carl Spitteler 1897

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Im Jahr 1897 erschien ein Streckenbeschrieb aus der Feder des Schriftstellers Carl Spitteler. Ihm war dieser Text über den Gotthard eher peinlich. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit für die Betreibergesellschaft der Bahnstrecke, die das Büchlein als Marketing-Gag in die Bibliotheken aller Ozeandampfer gab. Spittelers Schrift hat so die Elite der entstehenden Weltgesellschaft gut auf den Gotthard aufmerksam gemacht. Sie war randvoll mit kulturhistorischen Betrachtungen und stellte die alte Kutschenfahrt auf der Gotthardstrecke der neuen Eisenbahnfahrt entgegen. Spitteler machte sich ganz fein über den Fortschrittsglauben seiner Zeit lustig. Er schrieb zu dem Streckenabschnitt um Wassen:

«Von Gurtnellen an ist es weniger die Grossartigkeit der Natur als diejenige der Bahnkonstruktion, welche die Aufmerksamkeit beansprucht. Nicht zwar, dass es an Naturschönheiten gebräche; wie wäre das auch überhaupt am Gotthard möglich?[…] Allein die Überraschungen treten von nun an nicht mehr in fortlaufender Kette, sondern vereinzelt in längeren Zwischenräumen auf. Dazu kommt die Verwöhnung der Aufnahmefähigkeit. Denn diese hat Grenze; sie heisst Ermüdung[…]. Was nun die berühmten Kehrtunnels betrifft, soll ich die tausendundeinmal beschriebenen zum tausendundzweiten Mal beschreiben? Die verblüffenden Wurmwindungen der Fahrt? Das rastlose Hin- und Hersuchen der Lokomotive talauf und talab, als hätte sie ihr Schnupftuch verloren?[…] Das verwunschene und verwünschte Kirchlein von Wassen, das mit uns Fangmaus spielt, jetzt uns mit wehmütigem Scheidegruss nachblickend, um ein Viertelstündchen später uns unversehens den Kirchturm entgegenzustrecken, spöttisch und triumphierend: ‹Ich bin schon da!›»11

Spitteler wusste, dass die Arsenale der touristischen Anziehungskraft in der mittelalterlichen Geschichte, in den kulturellen Traditionen und in der Erhabenheit der Landschaft lagen, und er bediente die Erwartung seiner Leserschaft gekonnt. Touristen wollen die originalen Schauplätze der historischen Ereignisse besuchen, unverbrauchte traditionelle Lebensformen kennenlernen oder spektakuläre Landschaften geniessen.12 Gerade der Gotthardpass ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als ein Ort von einmaliger Kraft beschrieben worden. So hielt zum Beispiel der Dichter Wilhelm Heinse in den 1780er-Jahren in seinem Tagebuch über das Gefühl auf der Passhöhe fest: «Ich habe den Anfang und das Ende der Welt gesehen […] Dies Anschauen war das Anschauen Gottes, der Natur ohne Hülle, in ihrer jungfräulichen Gestalt.»13 Solche literarischen Zeugnisse vom Gotthard sind vielfach überliefert.14

Oft ist die Mühsal des Zugangs zu den bedeutsamen Orten wie der Schöllenenschlucht oder der Passhöhe des St. Gotthard als wesentlicher Teil ihrer Ausserordentlichkeit betrachtet worden. Bequem in der Bahn zu ihnen zu reisen, galt als unzulässig. Als beispielsweise in den 1890er-Jahren das Projekt einer Jungfraubahn diskutiert wurde, stand umgehend die Frage im Raum, ob durch die technische Erschliessung der «Nimbus des Berges» zerstört werde.15 Mit den Alpenbahnen ging eine tiefgreifende Landschaftsveränderung einher. Das neue Transportmittel passte sich den landschaftlichen Verhältnissen dadurch an, dass es diese nach rein technischen Notwendigkeiten umgestaltete und vereinheitlichte. Das dominierende Prinzip des Streckenbaus war dabei die gerade Linie. Wo Hügel und Berge die relativ geringe Traktionsstärke der Lokomotiven zu einem Problem werden liessen, bohrte man Tunnel, grub Einschnitte oder schüttete Dämme auf. Ein neuartiges Instrumentarium der Trassenbaukunst entwickelte sich, dem es bald gelang, die nur schwer reduzierbaren Kurvenradien auch in engen Tälern zu platzieren.16 Zwischen die natürlich gewachsene topografische Form und den mobilen Aufenthaltsraum der Fahrgäste schob sich ein Gefüge von geometrischen Elementen, das die Eisenbahnfahrt gewissermassen vom lokalen Boden abstrahierte.

An der Eisenbahn entzündete sich eine Debatte über den vermeintlichen Verlust des ästhetischen Genusses. Das geschah vor dem Hintergrund eines etablierten Kanons standardisierter Sehenswürdigkeiten, die unter den neuen Transportbedingungen nicht mehr in der klassischen Art konsumierbar waren. Die Eisenbahn brachte ein funktionierendes Wahrnehmungssystem in Unordnung. Die alten Vorbilder und Standardblicke mussten durch neue ersetzt werden, damit sich beim Betrachter wiederum das Gefühl der Authentizität einstellte, nach der er suchte.17 Am Gotthard wurden die Teufelsbrücke und die Passhöhe ersetzt durch den neuen Eisenbahntunnel und durch die Kirche von Wassen.

Die Geschichte der modernen Transportinfrastruktur ist voll solcher bildhafter Marker, die ästhetische Korrespondenzen an die Stelle setzten, wo die Technik einen Schnitt zwischen den Reisenden und der durchreisten Landschaft vollzog.18 Diese Marker zeichneten sich dadurch aus, dass sie in einer standardisierten, gleichförmigen Art lokale Besonderheiten betonten. Ein augenfälliges Beispiel für die visuelle Möblierung des Eisenbahnraumes waren die Hinweisschilder, die in grossen Buchstaben an den Bahnhöfen den Namen des betreffenden Ortes angaben, sodass man sich auch aus schnell fahrenden Zügen orientieren konnte. Das System wurde im 20. Jahrhundert für den Strassenverkehr und die Automobilisten übernommen. Seither gibt es Ortstafeln. So wussten die Reisenden, wo sie gerade waren, wenn sie sich nicht bei den Einwohnerinnen und Einwohnern erkundigen konnten. Als Marker dienten auch Landkarten und Pläne, aus denen die Abfolge der Ortschaften leicht zu entnehmen war. Und auch die Reiseführer und die literarischen Reisebeschriebe funktionierten in diesem Sinne als Orientierungshilfen.

Carl Spitteler war beim Schreiben seines Reiseführers zur Gotthardstrecke im Jahr 1897 noch weit entfernt von der Industrialisierung des Reiseerlebnisses, wie wir es heute kennen. Er spürte jedoch die Kluft, die sich zwischen der Ästhetik und der Technik auftat. Er fand seine Schrift über die Gotthard-Reise künstlerisch unbefriedigend und verhinderte ihre Veröffentlichung.

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