Читать книгу Die Grenze - Leon Grüne - Страница 10
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ОглавлениеAngestrengt nahm Kris die Lesebrille von seiner Nase und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Er hatte gerade einige Gespräche mit seinen Psychos hinter sich, die den zeitlichen Rahmen mehr als einfach nur gesprengt hatten. Psychos, wie er sie gerne nannte, waren meist ältere Patienten von ihm, die eigentlich nur zu ihm kamen, weil es ihnen zuhause zu langweilig wurde und sie hofften, dass er etwas finden, würde, um sie als krank diagnostizieren zu können. Nicht, weil sie gerne krank sein wollten, sondern weil sie dann etwas hätten, worüber sie sich beklagen könnten, um etwas Abwechslung in ihren öden und langweiligen Alltag zu bringen. Sie waren schon mit einer Erkältung zufrieden, denn dies konnten sie Freunden, falls sie denn welche hatten oder meist einfach dem Nächstbesten, dem sie auf der Straße begegnen würden, als Bronchitis oder schwere Lungenentzündung verkaufen. Sie scherten sich nicht darum, wie es um andere stand, sondern interessierten sich hauptsächlich für das eigene Wohl. Kinder hatten sie meist keine, und wenn doch, waren sie entweder auch zu Psychos mutiert, oder sie hatten sie schon längst vergrault. Ein Psycho unterhielt sich am liebsten mit drei Gruppen von Menschen: Ärzten, anderen Psychos und jungen Erwachsenen, die ihnen, naiv wie sie oft waren, alles aufs Wort glaubten. Kritik oder gar Widerspruch duldeten sie keinen, außer er kam von ihrem Arzt und führte dazu, dass sie Medikamente bekommen oder sich längere Zeit ausruhen sollten, denn auch dies war wieder Gesprächsstoff, den man rumerzählen und dramatisieren konnte. Die Lieblingsbeschäftigungen der Psychos waren zum einen der Besuch bei ihrem Hausarzt, das Recherchieren von alternativen Fakten und Behandlungsmethoden – Krebs lässt sich mit homöopathischen Medikamenten heilen, vielleicht sollten sie das in Erwägung ziehen Doktor – und das Philosophieren über ihre unerträglichen Schmerzen, um sich dann als tapfer und stark aufzutun, dass sie diese durchstehen würden. Was sie außerdem mit Hingabe und viel Leidenschaft taten, war das Kommandieren anderer, denn Psychos liebten es, wenn sie sich selbst mit gutem Gewissen als intelligente und starke Führungspersonen ansehen können. Sie prahlen gerne vor ihrem Arzt mit Geschichten aus ihrem Leben, welches sie in den häufigsten Fällen bei der Post oder als Putzkraft verbracht haben und mit Wissen, welches sie sich durch das wundersame, aber doch allzeit wahrheitsgemäße Medium Internet angeeignet haben. Sie als philiströs oder spießbürgerlich zu bezeichnen, wäre mehr als verwerflich, denn schließlich waren sie ja, neben ihrem Hausarzt und ihrem ganz eigenen Arzt, namens Dr. Google, die einzig wirklich Aufgeklärten. So waren doch eigentlich nicht sie die Philister der heutigen Zeit, sondern der Rest der Menschheit einfach nur zu ignorant, ihren Intellekt zu würdigen. Die Bezeichnung als Erleuchtete oder als Reindenkende wäre der Wahrheit entsprechend weitaus angebrachter.
Doch zu seinem Glück waren es die letzten Erleuchteten, die er heute in der Sprechstunde betreuen musste. Sie hatten sich, nachdem klar war, dass er die Praxis am Montag wegen seines Umzugs schließen würde, sofort einen Termin für Dienstag machen lassen. Schließlich war der Herr Doktor ja Ewigkeiten nicht erreichbar gewesen, und man würde mit Sicherheit ein leichtes Ziehen im linken Ohrläppchen verspüren, das laut Dr. Google ein Vorbote für ein Magengeschwür, wenn nicht sogar für Hodenkrebs – ja auch bei der weiblichen Fraktion war dies durchaus beängstigend – sein konnte. Kris hatte schon etliche Psychos gehabt, die der Meinung waren, dass sie ihrer Diabetes nicht mit Insulinspritzen, sondern mit Roibuschtee, den man mit einer Hand voll Globuli einnehmen musste, entgegenwirken konnten. Wegschicken konnte er sie nicht, denn schließlich war auch geistige Armut in gewisser Weise eine Krankheit, gegen die es jedoch kein Heilmittel gab. Er könnte sie höchstens an einen Kollegen weiterleiten, der mit Menschen, die geistig verwirrt waren, arbeite, aber auch dabei stellte eine Eigenschaft der Psychos ein Problem dar, nämlich ihre Freude und Bereitschaft, ihr Verhalten in Sekundenschnelle anzupassen, sodass jeder durchschnittliche Neurologe Kris den Vogel zeigen würde, wenn er versuchen würde, ihm beizubringen, dass diese Patienten ein geistiges Problem hätten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ihnen, ihren Leidensgeschichten und neuen Erkenntnissen aus den Untiefen des World Wide Web zu stellen. Also Augen zu - die Ohren wären ihm in diesem Fall zwar lieber, aber was sollte er schon machen - und durch. Amen.
Er wischte sich mit den Händen über die Augenlider und gähnte müde. Die Uhr mit dem Schmetterlingsverschluss an seinem Handgelenk tickte fast stumm vor sich hin. Langsam wanderte der Minutenzeiger auf die neun, so dass er mit dem Stundenzeiger beinahe eine grade Linie bildete. Mal wieder war er fast drei Stunden länger in der Sprechstunde gewesen, als das Schild neben der Tür verriet. Es zeigte außerdem, dass er ab halb fünf wieder hinter dem Schreibtisch sitzen und sich um Patienten kümmern würde. Aber auch das stimmte nicht. Er würde frühestens gegen fünf wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Sein erster Termin für den Nachmittag war erst um viertel vor fünf. Eine Viertelstunde wäre schon zu verschmerzen. Um genau zu sein, war es eine herausragende und unterdurchschnittliche Wartezeit, wenn man bedachte, dass der Durchschnitt der Wartezeit beim Arzt bei einer halben Stunde lag.
Unmotiviert in knapp zwei Stunden wieder dort hinter dem Schreibtisch gegenüber einer seiner Patienten zu sitzen, erhob er sich von seinem Stuhl, nahm seine Jacke vom Haken und schloss die Tür seines Sprechzimmers hinter sich ab. In dem Moment, in dem er die Praxis durch die weiße Fronttür verlassen wollte, klingelte hinter der Rezeption das Telefon. Einen Moment hielt er inne und blickte sich zum Apparat um, der hinter dem 1,40 m hohen Tresen stand. Nachdem er hörte, dass der Anrufbeantworter den Anruf entgegennahm, schaltete er das Licht aus und verließ die Praxis für zwei Stunden.
Um Punkt vier Uhr öffnete Marion die Praxis von Dr. Kris Lindner wieder und hing ihre Jacke mitsamt ihrem Schal an die Garderobe im Eingangsbereich. Sie war eine der vier Medizinischen Fachangestellten - kurz MFA - die für ihn in der Praxis arbeiteten. Gemächlich setzte sie sich auf den runden Schreibtischstuhl ohne Rückenlehne und hörte die ersten Nachrichten von der Mailbox ab.