Читать книгу Die Grenze - Leon Grüne - Страница 8
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ОглавлениеEs war ein sonniger Montagmorgen, an dem Kris zusammen mit seiner frisch verheirateten Juleen in das kleine Haus am Ende der Herrenhäuser Straße einzog. Ihr vierjähriger Sohn, Merlin, lief aufgeregt zwischen den Handwerkern und den Möbelpackern der Umzugsgesellschaft hin und her. Während seine Mutter ihn grade zum ungefähr tausendsten Mal ermahnte, dass er das ewige Rumgerenne doch bitte unterlassen solle, wies Kris die Möbelpacker an, das Ehebett, welches sie vorher für den Transport zum Teil auseinandergebaut hatten, in das Schlafzimmer zu bringen. Die Spedition, die sie für ihren Umzug engagiert hatten, war zum Glück alles andere als unkoordiniert, sodass der große Lastwagen mitsamt den Möbelpackern Dulingen gegen Mittag bereits wieder verließ. Eine halbe Stunde später, nachdem die Satellitenschüssel auf dem Dach angebracht und mit dem Fernseher verbunden worden war, verließ auch der schmierige Elektriker mit Haaren, die vor Fett nur so glänzten, das Haus.
Am Nachmittag waren auch Kris und Juleen mit dem Einräumen der letzten Sachen fertig und ließen sich erschöpft auf das große Sofa neben Merlin fallen, der bereits den Kinderkanal auf dem Fernseher für sich entdeckt hatte. Heute würden sie ihm etwas mehr Freiheiten gewähren als sonst. Schließlich war es auch für ihn ein aufwühlender und mit Sicherheit auch anstrengender Tag gewesen. Sollte er heute ruhig etwas Aufregung abbauen können, ehe er ab morgen wieder seine geregelten Fernsehzeiten – von 12 bis 13 Uhr und von 17 bis 18:30 Uhr - bekommen würde.
Gegen halb sechs machten die drei sich auf den Weg und erkundeten ihre neue Umgebung ein wenig. Zwar hatten sie das schon, nachdem sie sich das Haus angesehen und für sich entschieden hatten, dass sie es kaufen würden, aber immerhin lag dies auch schon ein paar Monate zurück. Auf dem Rückweg kauften sie in der Bäckerei, die sich im Eingangsbereich des Supermarktes befand, für sich einen Käsekuchen und für Merlin ein Stück Schokoladenkuchen mit Vanillepudding. Beides war verhältnismäßig trocken und schmeckte ziemlich langweilig, aber auch das spielte heute keine Rolle. Heute war es in Ordnung, dass nicht alles nach Plan lief.
Wieder zuhause angekommen, - Merlin trank einen Kakao mit drei Löffeln Pulver anstatt der üblichen zwei, denn heute war auch das in Ordnung - befüllte Kris die Kaffeemaschine für fünf Tassen Kaffee und setzte sich mit seiner braunen Ledermappe voller Briefe und anderer zu unterschreibender Dokumente auf einen der Holzstühle mit rotem Sitzpolster an den langen, rechteckigen Esstisch. Er war Arzt und hatte sich, nach nicht ganz zehn Jahren im Krankenhaus, entschieden eine eigene Praxis zu führen. Nach etlichen Bewerbungen, die alle gnadenlos abgeschmettert wurden, fand er schließlich einen Arzt in Dulingen, Dr. Beram, der für seine Praxis einen Nachfolger suchte. Umgehend schickte er seine Bewerbung ab und bekam zwei Tage später die Einladung für ein Bewerbungsgespräch.
Nachdem er zwei Jahre bei ihm als Assistenzarzt gearbeitet hatte, ging Dr. Beram in Rente und übertrug die Führung der Praxis an Kris, der wenig später aus diesem Grund in die nähere Umgebung der Praxis, nach Dulingen, zog. Nicht wenige, um genau zu sein zwei Drittel seiner Patienten, wohnten genau wie er in Dulingen und kamen jeden Montag bis Freitag zu ihm in die Praxis, um ihm von ihren Leidensgeschichten und anderen Wehwehchen zu berichten. Da er weder ein Verfechter der simplen Drei-Minuten-Medizin, noch der unorthodoxen Methode, alles im kompliziertesten und unverständlichsten Fachlatein zu erklären, das nur er selbst verstand, war, nahm er sich immer besonders Zeit für seine Patienten. Natürlich beanspruchte dies auch seine Zeit und seine Sprechstunden dauerten meist deutlich länger, als es auf dem Schild neben der Eingangstür stand, und wie immer beschwerten sich seine Patienten über die langen Wartezeiten, wollten aber zugleich selbst eine halbe Stunde mit dem Herrn Doktor reden. Wenn man selbst etwas hinnehmen muss, ist man der Erste, der direkt zeter und mordio schreit, aber wenn andere einen Nachteil haben, heißt es, dass sie sich doch nicht so anstellen sollen. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass der Mensch tatsächlich ein intelligentes Lebewesen sein soll. Würden die verstaubten und knochigen Wissenschaftler eines Tages aus ihren Laboren, abgeschnitten von Sauerstoff und Tageslicht, hervorkommen und sich die Welt nicht bloß unter dem Mikroskop ansehen, dann würden vielleicht einige von ihnen sich an den Kopf schlagen und feststellen, dass wir alles andere als intelligent sind.
Nachdem Merlin seinen Kakao ausgetrunken hatte, verzog er sich in sein neues Zimmer und begann seine Playmobilfiguren aus dem großen Umzugskarton auszuräumen. Eine Stunde später, als Juleen nach ihm sehen wollte, fand sie ihn eingeschlafen auf dem Fußboden neben seinen Figuren liegen. Vorsichtig hob sie ihn hoch und legte ihn in sein Bett, wobei er kurzzeitig verwirrt die Augen öffnete, aber sie sofort wieder schloss und weiterschlief. Liebevoll küsste sie ihn auf die Stirn, dann ging sie zurück ins Wohnzimmer, wo Kris grade, sichtlich fertig mit dem Unterschreiben sämtlicher Dokumente, dabei war seine prall gefüllte Ledermappe zu schließen.
„Und? Was macht er?“, fragte Kris mit einem erleichterten Seufzen und griff nach seiner Tasse mit Kaffee. Es war bereits die Vierte, die er trank.
„Er ist eingeschlafen“, sagte Juleen mit einem Lächeln auf den Lippen und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von ihrem Mann.
„Gut. Ich hatte Sorge, dass wir ihn heute wegen der ganzen Aufregung gar nicht ins Bett bekommen würden“, sagte er, wobei er ihr Lächeln müde erwiderte.
„Ich glaube, er steckt die Aufregung echt gut weg. Wir können wirklich stolz auf ihn sein.“
„Ja das stimmt“, antwortete Kris. Das Lächeln verschwand langsam aus seinem Gesicht, und er starrte nachdenklich auf die Holzmaserung des Tisches.
„Was ist los?“, fragte Juleen besorgt und strich ihm seine dunklen Haare von der Stirn, wie bei einem Kind.
„Nichts weiter“, entgegnete er und lächelte sie gezwungen an.
Sie erwiderte sein Lächeln nicht. Sie wusste, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Sie waren schon zu lange zusammen, als dass er sie mit so einer billigen Ausrede abspeisen konnte. Früher einmal hatte sie es sich gefallen lassen, dass er nicht mit ihr über manches reden wollte, das ihn bedrückte, aber inzwischen hatte sich das geändert. Inzwischen waren sie verheiratet und hatten einen gemeinsamen Sohn. Es wäre mehr als unfair, ihr nicht zu sagen, was mit ihm los sei. Das könne er mit jemand anderem, jemand Unbedeutenderen für ihn machen, aber nicht mit ihr. Fragend und mit einem Blick, der mehr als genug sagte, musterte sie ihn sorgfältig.
„Was soll das?“, fragte sie schließlich, nachdem er immer noch keine Anstalten machte, seinen niedergeschlagenen Blick zu erklären.
„Was soll was?“
„Du verheimlichst mir etwas.“
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte er und schmunzelte verlegen, wodurch er sich endgültig enttarnte.
„Bitte hör auf, mir etwas vormachen zu wollen, Schatz. Ich weiß doch, dass dich etwas bedrückt. Ist es wegen des Jungen? Ben Klein oder so ähnlich.“
„Ben Kleinert. Ja es ist wegen ihm. Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte“, gab er zu und griff hilfesuchend nach ihrer Hand. Sie ließ ihn gewähren.
„Der Junge war kerngesund. Er hatte gar keine Beschwerden. Er war nicht krank. Er hatte ja nicht mal eine Allergie.“
Ben Kleinert, der zehnjährige Junge, wegen dem am vergangenen Samstag in der Nacht die Sirene losgegangen war, war Freitag erst noch bei ihm in der Sprechstunde gewesen. Nicht aus einem besonderen oder drastischen Grund, sondern bloß zu seiner Jugendschutzuntersuchung 1. Das bedeutete eine körperliche Untersuchung sowie eine Urinprobe und das Ausfüllen eines Fragebogens zur allgemeinen Befindlichkeit. Nichts Hochkomplexes. Alles war unauffällig ausgefallen.
„Menschen sterben halt…“, versuchte Juleen ihren verzweifelten Mann zu trösten, doch der ging kein Stück darauf ein.
„Alte Menschen sterben halt. Menschen mit unheilbaren Krankheiten sterben halt. Menschen im Koma sterben halt. Aber ein zehnjähriger, kerngesunder Junge stirbt nicht einfach so, nachdem er eingeschlafen ist!“
Nachdenklich sah sie ihrem Mann in die Augen. Sie wollte ihm widersprechen, aber das ging nicht. Sie wusste, dass er Recht hatte. Ben war laut der Aussage seines Vaters wie jeden Abend von ihm ins Bett gebracht worden und fast sofort eingeschlafen. Nachdem er wenige Minuten neben seinem vermeintlich schlafenden Sohn saß, war ihm aufgefallen, dass sich sein Brustkorb nicht mehr hob und er keine Luft mehr durch die Nase oder den Mund ausstieß. Panisch hatte er nach seinem Puls getastet und feststellen müssen, dass er keinen mehr besaß, woraufhin er ohne zu zögern den Rettungswagen gerufen hatte.
„Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte“, wiederholte er sich und sah Juleen überfordert an.
Doch auch sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Das ganze Thema war ihr unangenehm. Sie erlebte es selten, ihren Mann verzweifelt und schwach zu sehen, aber wenn sie es sah, dann jagte es ihr einen regelrechten Schauer über den Rücken. Normalerweise war Kris ein selbstbewusster und starker Mann, aber wenn er verzweifelt war, dann wirkte er fast wie ein kleines, weinerliches Kind, das mal wieder in der Schule gemobbt wurde und sich nun bei seiner Mutter ausheulen würde, während sie sich im Stillen fragen würde, was sie in ihrem Leben nur falsch gemacht hätte, um jetzt so dazustehen. Verlegen senkte sie den Blick auf das leere Glas vor ihr. Sie wollte nicht, dass ihre Illusion eines starken und unerschütterlichen Mannes an ihrer Seite zerstört wurde. Nicht heute. Eine ganze Weile saßen sie noch schweigend am Tisch und lauschten der Musik, die aus dem alten Radio hinter ihnen mit gelegentlichen Störungen lärmte. Keiner der beiden schlief heute Nacht besonders gut.