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Unsicher warf Kris einen letzten Blick auf den Bildschirm, ehe er den Computer auf seinem Schreibtisch herunterfuhr. Marion war vor einer halben Stunde gegangen und hatte ihn mit seiner Arbeit am Rechner alleine gelassen. Sein letzter Patient, ein Junge namens Erik Nitz, war vor einer Stunde gegangen. Er hatte sich wegen ein paar Prellungen, von denen er partout nicht erzählen wollte, woher er sie hatte, eine Salbe und ein schwaches Schmerzmittel aufschreiben lassen. Das Schmerzmittel hatte Kris ihm erst nach einiger Überlegung verschrieben, denn schließlich wäre jedes Medikament, das nicht zwingend nötig sei, im Endeffekt schädlicher, als wenn man einfach die Zähne zusammenbeißen und keine Mimose abgeben würde. Doch nachdem Erik demonstrierte, dass er vor Schmerzen nicht mehr in der Lage war, seinen linken Arm vollständig auszustrecken, hatte Kris sich schlussendlich dazu durchgerungen, ihm eine Packung Ibuprofen 200 mg aufzuschreiben.

Es war bereits das zweite Mal diesen Monat, dass der Junge mit Prellungen und teilweise schlimm aussehenden Blutergüssen zu ihm gekommen war. Rechtlich gesehen dürfte er in diesem Fall seine Schweigepflicht brechen, um dem Jugendamt eine begründete Vermutung vorzulegen. Doch er hatte weder handfeste Beweise dafür, dass der Junge zuhause geschlagen wurde, noch wollte Erik darüber reden, was der wirkliche Grund für seine Verletzungen war. Zumindest waren seine bisherigen Erklärungen immer ziemlich unstimmig und passten nicht in das Gesamtbild. Das musste zwar nicht zwangsläufig bedeuten, dass seine Aussagen falsch waren und er ihn anlog. Allerdings war es mehr als merkwürdig, dass er sich beim Fußballtraining verletzt hätte, wenn er eine schwere Prellung am Arm hatte, wegen der er diesen nicht vollständig nutzen konnte. Ebenso seine Erklärung am Anfang des Monats, als er Kris gesagt hatte, dass er die Leiter, die zum Dachboden führte, hinuntergefallen war, obwohl diese schon längst nicht mehr existierte. Harald, Eriks Vater, war Anfang des Jahres in seiner Praxis gewesen und hatte sich beim Ausmisten des Dachbodens den Arm gebrochen, da er von jener Leiter gestürzt war. Wutentbrannt, aber in angemessener Lautstärke, hatte er ihm erzählt, dass er das „Scheißding“ abbauen und auf den Schrott schmeißen würde, wenn da oben alles ausgeräumt wäre. Nach dem, was seine Patienten ihm erzählt hatten, lag die Leiter einen Monat später tatsächlich als Sperrmüll auf dem Bürgersteig und wartete darauf, abgeholt zu werden. Wirklich glaubhaft erschienen seine Begründungen folglich nicht, aber was sollte er machen? Es war nicht seine Entscheidung, dass er nichts tun konnte, was dem Jungen in irgendeiner Weise helfen würde. Aber wer entschied so etwas schon? Der Staat? Wohl kaum. Das Schicksal? Eher nicht. Gott? Vermutlich weniger. Vielleicht war es nicht wirklich sinnvoll, in dieser Sache einen Schuldigen ausfindig machen zu wollen. Es war ja doch bloß vergebene Liebesmüh, und ohnehin war die Frage nach der Schuld etwas, das Philosophen und andere Theoretiker, die mit ihrer „Arbeit“ gerne den Sauerstoff anderer aufbrauchten, diskutieren sollten. Es war nicht seine Aufgabe, sich mit derartigen Dingen auseinanderzusetzen und er wollt es auch gar nicht. Also schwieg er.

Die Realität war der Arbeitsbereich von Lehrern, Ärzten und Handwerkern. Philosophen, Schriftsteller und Künstler hingegen haben keinen Arbeitsbereich. Sie haben einen Spielplatz, gegründet von den Gebrüdern Fantasie und Gedankenspiel, auf dem sie sich, ohne müde zu werden, austoben können. Sie sind wie die verlorenen Kinder in Peter Pan, die nie erwachsen werden und sich dem Ernst des Lebens und der Härte der Realität in ihrer eigenen Welt nie ausgesetzt sehen. Manchmal erwischte Kris sich selbst dabei, wie er in Gedanken schwebte und sich selbst gerne für nur eine Sekunde auf diesem Spielplatz verlieren wollen würde, ehe er wieder mit dem Kopf in der Realität ankam und sich seiner Verantwortung und seines Berufes bewusst wurde. Er hatte keine Zeit, sich mit dem Surrealen und anderen Märchen aus nie existierenden Traumwelten auseinanderzusetzen. Fantasie war etwas für Träumer, Nichtsnutze, Bettler und Kinder. Nichts für jemanden mit seiner Bildung und seines Standes, wie es ihm immer wieder von seinem Vater eingebläut worden war.

Mit leichtem Unbehagen nahm er seinen Koffer und seine Jacke und verließ die Praxis. Unruhig machte er sich auf den Weg zu seinem Auto, das er zwei Straßen weiter geparkt hatte. Seine Gedanken kreisten seit gestern Abend immer wieder um den Mann im Schlafanzug, den er heute bereits zum zweiten Mal gesehen hatte. Auch das Ereignis am Morgen war noch nicht genug gewesen. Nachdem er während seiner Sprechstunde kurzzeitig den Raum verlassen hatte, um die Toilette aufzusuchen, klebte bei seiner Rückkehr an seinem Bildschirm ein gelber Zettel mit einer Notiz.

„Doktor Aeterna Somnum bittet morgen um 7:30 zur Sprechstunde. Seien Sie pünktlich!“, lautete die Schrift auf dem gelben Post-it, den er aus seiner Hosentasche kramte und fragend betrachtete. Kopfschüttelnd bog er um die Straßenecke. Neben die Nachricht hatte jemand mit einem schwarzen Edding einen Sichelmond mit geschlossenen Augen und Mütze gemalt und symbolisierend den Buchstaben Z in mehrfacher Ausführung über ihn gekritzelt. Er betrachtete ihn noch ein paar Sekunden, dann warf er ihn in die Hecke des Grundstücks, an dem er vorbeiging. Der Wind wird ihn verschwinden lassen, dachte er sich und verdrängte den Gedanken an das kleine beschriebene Stück Papier. Er würde jetzt zu seinem Auto gehen, und dann würde er seinen Sohn von der Kita abholen.

Alles ist in Ordnung. Du bist nicht verrückt, also benimm dich auch so!

So einfach war das. Keine Männer in Schlafanzügen und keine halb überfahrenen, schreienden Babys. So einfach und verständlich, denn das war die Realität meistens auch, und genauso sollte sie sein. Zumindest ließ sie sich dann am leichtesten ertragen.

Immer noch etwas zerstreut, atmete er einmal tief durch, bevor er in sein Auto stieg und zu der Kita fuhr, die sein Sohn besuchte.

Eine Viertelstunde später kam er mit seinem Wagen auf der kleinen Parkfläche vor dem alten, flachen Holztor der Kita zum Stehen. Müde schaute er auf seine Uhr. Es war bereits halb vier geworden. Gerade als er sich abschnallen und aus dem Auto aussteigen wollte, sah er, wie sein Sohn lächelnd auf ihn zugelaufen kam. Er trug immer noch die blaue Regenjacke, die Juleen ihm, trotz Protest seinerseits, heute Morgen angezogen hatte. Gelassen öffnete Kris die Tür. Leichter Schwindel überkam ihn, als er das Auto verließ.

„Papa“, quietschte er glücklich und stürmte in seine offenen Arme.

„Na, mein Großer. Hast du dich gut benommen?“, fragte Kris und hob ihn hoch. Die Wärme, die von seinem kleinen Körper ausging, hatte etwas Beruhigendes und Zufriedenstellendes an sich. Sie brachte den Eisblock, der Kris‘ Psyche beschwerte, ein wenig zum Schmelzen. Erhielt den Atem an als er sein Kind an sich drückte und schloss in einem Moment der Zufriedenheit die Augen.

„Guten Tag, Herr Doktor“, begrüßte ihn Charlene, die Erzieherin, und blieb lächelnd im geöffneten Holztor stehen. Ein wenig traurig, dass sein Augenblick von seelischem Frieden vorbei war, öffnete Kris die Augen und erwiderte die Begrüßung mit einem aufgesetzten Lächeln. Charlene hatte Merlin schon des Öfteren mit nach draußen gebracht, wenn Kris ihn abholte. Er versuchte, sich nichts darauf einzubilden, aber ihre Blicke sprachen häufig eine andere Sprache, als dass es nichts wäre. Zwar war er verheiratet, aber es schmeichelte ihm ungemein, dass er scheinbar immer noch eine Anziehung auf andere Frauen hatte. Besonders, wenn es eine Frau wie Charlene war. Sie war etwas kleiner als Kris, Mitte 20 und ihre weiblichen Rundungen ließen sich auch von dem Pulli, den sie trug, nicht verstecken. Manchmal spielte Kris mit dem Gedanken, wie es wohl wäre, mit ihr im Bett zu sein. Wäre sie ein Mauerblümchen oder verbarg sich unter der Maske der sympathischen und kinderliebenden Erzieherin in Wahrheit eine lüsterne Nymphomanin? Der Gedanke, dass Charlene in Wirklichkeit alles andere als harmlos und unschuldig war, erregte ihn. Manchmal machte er sich Vorwürfe, wenn er darüber nachdachte, aber was könnte er gegen den ältesten Trieb des männlichen Geschlechts schon ausrichten?

Schuld war etwas, das Philosophen und andere Theoretiker diskutieren sollten.

Aus diesem Grund arrangierte er sich mit seinem stillen Gedankengang und versuchte, dessen Präsenz bestmöglich zu unterdrücken.

„Ich hab dir ein Bild gemalt, Papa“, erzählte Merlin ihm und hoppelte leicht auf seinem Arm auf und ab. Kris schenkte ihm ein ehrliches Lächeln und küsste ihm die Wange.

„Das ist aber lieb. Hast du Mami denn auch eins gemalt?“, fragte Kris und sah Merlin in die Augen. Sie waren eisblau und ein nahezu perfektes Spiegelbild zu seinen. Aufgeregt begann er zu nicken.

„Da wird sie sich bestimmt drüber freuen“, sagte er und öffnete die Tür zur Rückbank. In aller Seelenruhe setzte er ihn auf seinen Kindersitz hinter dem Fahrersitz und schnallte ihn an. Als er ihn anschnallte, fiel ihm auf, dass die Ärmel seiner Jacke zu kurz waren und seine Arme bereits mehr aus den Öffnungen herausschauten, als sie eigentlich sollten. Innerlich machte er sich eine Notiz, dass er am Wochenende mit ihm und Juleen in die Stadt fahren müsste, um eine Neue zu besorgen. Vielleicht würde er seiner Frau dann auch ein kleines Geschenk kaufen. Er hatte ihr schon länger nichts mehr einfach so geschenkt. Wahrscheinlich gehörte das zu den Dingen, die, wie man so schön sagte, mit der Ehe immer weniger wurden. Doch Kris wollte nicht das Standardbild des immer weniger fürsorglichen und aufrichtigen Ehemanns sein, denn er liebte seine Frau immer noch über alles. Auch seine gelegentlichen Gedankenspiele, die sich um Merlins attraktive Erzieherin drehten, änderten nichts daran.

„Ich bin sofort da, okay?“, versicherte er ihm und bückte sich in den Wagen hinunter.

„Okay“, antwortete er knapp und untersuchte neugierig die Taschen seiner Jacke.

„Ich liebe dich“, sagte er lächelnd, doch erhielt keine Antwort, da Merlin von der kleinen Superheldenfigur, die er gefunden hatte, so fasziniert war, dass er ihn gar nicht hörte. Leise schlug er die Autotür zu und wandte sich Charlene zu, die mit dem Rucksack von Merlin in der Hand am dunklen Holztor stand.

„Harter Tag?“, fragte sie freundlich und reichte ihm den gelb-blauen Kinderrucksack.

„Kann man so sagen“, erwiderte er und nahm ihr dankend den Rucksack aus der Hand. Ihr Dior-Parfum stieg ihm in die Nase. Nichts Billiges, so viel stand mal fest. Es war ein Weihnachtsgeschenk ihres Ex-Freundes gewesen, der als Bankier arbeitete und sie während der Arbeitszeit mit einer seiner Kundinnen auf der Angestelltentoilette betrogen hatte, weswegen sie schlussendlich die Beziehung für beendet erklärt hatte.

„Kann ich mir gut vorstellen“, sagte sie und schmunzelte verlegen, da sie merkte, dass die Chance, ein richtiges Gespräch zu beginnen, gerade in den Minusbereich sank.

„Wie macht Merlin sich? Gibt es irgendwelche Probleme mit ihm?“, fragte er höflich, um ihr die Verlegenheit ein wenig zu nehmen.

„Er ist ein lieber Junge, und er hat eine unglaubliche Fantasie. Aber er ist oft alleine und findet keinen richtigen Anschluss, weil er sich lieber mit seinem eigenen Kopf beschäftigt als mit anderen“, erzählte sie ihm und sah den Jungen durch die Scheibe hindurch leicht bemitleidend an.

„Er ist ein Träumer. Das sind die meisten Kinder in dem Alter.“

„Ich hoffe, dass sich das schnell legen wird“, erklärte Kris und sah betreten den Asphalt unter seinen Füßen an.

„Ich hoffe nicht“, seufzte sie.

„Wieso?“, fragte er ein wenig beleidigt. Er war kein großartiger Fan von Widersprüchen. Seine ganz eigene Arroganz ließ etwas wie Gegenwehr oder andere Meinung nicht gerne zu, weswegen er ziemlich ungern Diskussionen über Themen führte, zu denen es vielfältige Meinungen gab, wovon er den meisten nichts abgewinnen konnte. Zustimmung war für ihn das höchste Gut, das er erhalten, aber nur sehr selten abgeben konnte.

„Unsere Träume und unsere Fantasie sind oft das Einzige, das uns vor den Grausamkeiten des Lebens bewahren. Kinder leben sorglos, weil sie Träumer sind. Erst ab dem Zeitpunkt, in dem wir aufhören zu träumen, verlieren wir uns in Problemen und fangen an, das Leben als Krankheit und nicht als das Wunderland anzusehen, das es eigentlich sein sollte“, erklärte sie ihm.

„Es ist besser, wenn die Kinder früh lernen, dass die Welt alles andere als ein Wunderland ist. Die Welt ist Korruption, Betrug, Arbeit und vor allem Geld. Man kann keine Prinzessin wie im Märchen oder Cowboy wie im Wilden Westen werden. Wir belügen sie, um ihnen nicht unverblümt ins Gesicht sagen zu müssen, dass die Welt kein Spielplatz, sondern ein Gefängnis ist“, erwiderte er verärgert. Bemitleidend sah Charlene ihn an.

„Und genau deswegen mache ich diesen Job und nicht sie“, sagte sie langsam und mit einer Ruhe, die mehr als beneidenswert war.

„Einen schönen Tag noch, Herr Doktor.“

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück in das Gebäude der Kita. Kopfschüttelnd, aber trotzdem nachdenklich stieg Kris in das Auto und legte den Rucksack zu seinem Sohn auf den Rücksitz. Nachdem er mit gesenktem Kopf einige Sekunden seinen Sohn im Rückspiegel ansah, startete er den Motor und ließ den Wagen vom Parkplatz rollen.

Die Grenze

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