Читать книгу Die Grenze - Leon Grüne - Страница 16
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ОглавлениеMit schlurfenden Schritten näherte Kris sich der Tür seiner Praxis. Diesen Morgen war es wieder soweit gewesen, dass er sich zwei Straßen weiter einen Platz suchen musste, an dem er sein Auto abstellen konnte. Seine Armbanduhr zeigte 17 Minuten nach acht an. Er hatte nach einer durchwachsenen und kurzen Nacht verschlafen und kam mit Augenringen, die aussahen, als wenn Merlin ihn mit der schwarzen Farbe aus seinem Wasserfarbkasten von Pelikan angemalt hätte, in die Praxis.
Schwach stieß er die Praxistür auf und begrüßte Marion, die bereits hinter der Rezeption am Eingang saß.
„Guten Morgen, Doktor Lindner“, erwiderte sie seine Begrüßung und lächelte ihn förmlich an. Es war ein typisches Lächeln, welches man von einer Mutter im mittleren Alter erwartete. Freundlich und besorgt. Worüber sie sich sorgte? Höchstwahrscheinlich um den Doktor selbst. Sein Gesicht hatte keine gesunde rosa Färbung, wie sie es eigentlich gewohnt war, sondern leuchtete blass und ließ ihn in Kombination mit seinen dunklen Augenringen wie Graf Dracula höchstpersönlich aussehen.
Alles in Ordnung Frau Kiesing. Nichts worüber Sie sich das Maul zerreißen müssten. Ich bin nicht verrückt. Nicht ich. Keine Lichtkugeln und keine Feen.
„Wie gehts Ihnen? Viele Termine bis zum Mittag?“, fragte er, um unterschwellig von seinem vermutlich makaberen Aussehen abzulenken.
„Gut, danke der Nachfrage. Es sind zumindest nicht so viele wie gestern. Manche Leute machen sich Sorgen wegen des Jungen, der am Wochenende gestorben ist, und haben ihre Termine abgesagt“, erzählte sie ihm und wischte sich eine Strähne ihrer kurzen, rot gefärbten Haare aus dem Gesicht. Ziemlich unreif für eine Frau, die innerhalb der nächsten fünf Jahre die 50 erreichen würde, fand Kris, aber er wusste, dass die Diskussion unnötig war. Sie machte ihre Arbeit gut und auch die Patienten sahen sie mit Respekt an. Es störte Kris zwar, aber er wollte nicht spießig sein, da er wusste, dass er Probleme damit bekommen würde, eine seiner MFAs zu behalten, wenn er ihnen vorschreiben würde, wie sie ihre Haare zu tragen oder zu machen hätten. Er konnte es sich nicht leisten, eine seiner Mitarbeiterinnen zu verlieren, da er sich sicher war, dass es schwer sein würde, eine Neue zu besetzen, wenn erstmal erzählt werden würde, was der Herr Doktor doch für ein spießiger Tyrann sei. Aus diesem Grund verhielt er sich diplomatisch und sagte schlichtweg nichts zu Marions Haaren, Ninas Tattoo am rechten Unterarm oder Lines Nasenpiercing.
Ich bin nicht der Verrückte hier! Das könnt ihr vergessen!
„Es wird immer Leute geben, die sich Sorgen mache und Gerüchte erzählen, Frau Kiesing. Das wird sich mit Sicherheit genauso schnell legen, wie es gekommen ist“, sagte er und ging rechts am Tresen vorbei in sein Sprechzimmer. Gelangweilt öffnete er die Tür und trat in den kühlen, leeren Raum. Er streifte seine Jacke ab und hing sie an den Kleiderständer, der neben der Tür stand. Grade, als er zu dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch gehen wollte, hielt er in der Bewegung inne und warf einen erneuten Blick auf den Haken, an den er seine Jacke gehängt hatte. Langsam stellten sich seine Armhaare auf und eine noch länger anhaltende Gänsehaut machte sich bemerkbar. Zwei Plätze neben seiner Jacke hing eine altmodische, fast durchsichtige Schlafmütze mit weißem Bommel.
„Verzeihen Sie, aber haben Sie einen Termin?“, fragte plötzlich eine krächzende Stimme hinter dem Computer. Erschrocken drehte er sich zu seinem Schreibtisch herum und sah wie der kahlrasierte Kopf des alten, runzligen Mannes im Schlafanzug hinter dem Rechner hervorschaute. Zufrieden begann der Alte zu lachen und machte eine abwinkende Handbewegung, während er sich wieder dem vor ihm leuchtenden Bildschirm zuwandte.
„Nur ein Spaß, Doktorchen. Nur ein Spaß“, beschwichtigte er ihn scherzhaft und hämmerte wie ein Berserker auf die Tastatur des Stand-PCs.
Übermüdung. Halluzination. Atme aus. Du bist nicht verrückt. Übermüdung ...
„...Halluzination. Atme aus. Du bist nicht verrückt. Fällt Ihnen nichts Besseres ein?“, fragte der Mann im Schlafanzug belustigt und erhob sich von dem Drehstuhl und musterte Kris mit einem gewitzten Schmunzeln.
„Wer sind ...“, fing Kris kleinlaut an, aber wurde rasch unterbrochen.
„Nichts weiter als ein alter gebrechlicher Mann“, sagte er und buckelte symbolisch seinen Rücken und machte zwei Schritte auf ihn zu.
„Hören Sie auf mich ...“
„...zum Narren zu halten?“, beendete der Alte den Satz vor Kris und schaute verschmitzt aus seiner Buckelpose zu ihm hoch. Inzwischen konnte man Kris Gesicht nicht mehr als blass, sondern musste es als kreideweiß bezeichnen. Sein Kopf war überfordert und das auf vielen verschiedenen Ebenen.
„Aber Doktor, was ist denn mit ihnen? Sie sehen so blass aus“, sagte der Mann im Schlafanzug und setzte eine besorgte Miene auf.
„Sind Sie etwa krank?“
Hastig erhob er sich aus seiner gekrümmten Pose und machte zwei schnelle, fast lautlose Schritte auf Kris zu. Kris fiel auf, dass er barfuß war und seine Zehennägel die Farbe von einem dreckigen Gelb hatten.
„Strecken Sie die Zunge raus, singen sie mit geschlossenem Mund die Nationalhymne von Nigeria in D-Dur und drehen Sie sich zehn Mal im Kreis“, forderte er ihn ernst auf und legte ihm den Handrücken an die Stirn. Kris reagierte nicht. Er stand einfach nur stumm da und blickte in die Augen des alten Mannes, die ihn auf irgendeine Weise zu hypnotisieren schienen. Kurzzeitig war er versucht, reflexartig den Mund zu öffnen und ihm tatsächlich seine Zunge raus zu strecken. Doch glücklicherweise hatte sein Verstand rechtzeitig die Kontrolle über seinen Körper wiedergewonnen und hielt ihn von diesem Vorhaben ab.
„Welche Symptome haben Sie? Nein, verraten Sie es mir nicht. Halluzinationen, Schlafmangel, Impotenz, stimmts?“, fragte er immer noch mit demselben ernsten Gesichtsausdruck und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. Schwach und mit gespielter Trauer schüttelte er den Kopf.
„Tut mir leid, Doktorchen, aber Sie sind wohl doch verrückt“, sagte er und legte ihm mitfühlend seine knochige Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich leicht, aber zugleich auf irgendeine Weise, die mehr von seinem psychischen Empfinden ausging, als von seinem physischen, drückend an. Plötzlich fing der seltsame Mann an, sein krächzendes Lachen hören zu lassen und nahm die Hand von Kris Schulter.
„Bleiben Sie ganz unbesorgt. Als Arzt unterliege ich selbstverständlich der Schweigepflicht“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand und zwinkerte ihm belustigt zu.
„Was ...“, versuchte Kris erneut eine Frage zu stellen, aber wurde unlängst wieder von dem Mann unterbrochen.
„Sie entschuldigen mich, Doktorchen, aber ich habe noch andere Patienten, die meine unfehlbare Diagnose benötigen. Lassen Sie sich einen Termin geben“, sagte er und fischte mit seinem dürren Arm die Mütze vom Kleiderständer.
„Wir sehen uns, Doktorchen.“
Dann setzte er seine Schlafmütze auf und einen Wimpernschlag später war Kris wieder alleine im Raum. Verwirrt blickte er sich um. Der Computer war ausgeschaltet und sein Stuhl stand wie immer unter dem Tisch. Nichts deutete darauf hin, dass vor wenigen Sekunden jemand hinter seinem Schreibtisch gesessen und den Rechner bedient hatte. Mit einem unwohlen Gefühl, als wenn er sich das Frühstück erneut durch den Kopf gehen lassen würde, stellte er seinen Arztkoffer neben dem Schreibtisch ab und zog den Stuhl unter dem Tisch hervor.
Du bist nicht verrückt. Komm wieder zu dir. Du bist nicht verrückt. Nicht du.
Angespannt drückte er auf den Power-Knopf des PC-Towers und setzte sich auf den Stuhl. Langsam und mit einem lauten Rauschen startete der Computer. In dem Moment, in dem er die Datei des ersten Patienten öffnen wollte, tauchte ein gelbes rechteckiges Feld auf und begann unaufhörlich in der Mitte des Bildschirmes zu blinken.
„SEHEN SIE GENAU HIN DOKTOR“, leuchtete die rote Schrift auf dem Feld auf. Unsicher blickte er sich im Raum um. Er war immer noch leer. Als er seine Augen auf den Bildschirm richtete, war das rechteckige Feld mit der roten Schrift verschwunden und der Windows Homescreen mit allen Programmen und Dateien tauchte auf, als wäre nichts gewesen. Vorsichtig rollte er mit dem Stuhl näher an den Computer heran. Zögerlich griff er nach der Maus und wählte eines der Icons auf dem Bildschirm aus.
Doch anstatt, dass sich das ausgewählte Programm öffnete, erschien innerhalb weniger Millisekunden ein Video. Sofort erkannte Kris das Baby, das er glaubte am gestrigen Abend erst überfahren und dann in seinem Auto sitzen gesehen zu haben. Wie am gestrigen Abend saß es dort mit überfahrenem Kopf und von Blut und Tränen geröteten Wangen und schrie ununterbrochen. Erschrocken wich er vom Bildschirm zurück und hielt sich die Hand vor den Mund, während er das Baby weiterhin schreien und plärren hörte. Eilig versuchte er das Video zu stoppen, bevor Marion oder gar ein Patient etwas davon hören würde, aber er konnte es nicht. Wenige Augenblicke später verschwand das Video vom Bildschirm und das gelbe Textfeld blinkte erneut in der Bildschirmmitte auf.
„DAS IST IHRE ZUKUNFT“, zeigte die rote Schrift, dann startete sich der Computer neu.
Ehe Kris wusste, was er tun sollte, klopfte es an der Tür und Marion streckte den Kopf in das Zimmer.
„Dr. Lindner? Der erste Patient wäre da“, sagte sie emotionslos. Immer noch unter Schock warf er einen flüchtigen Blick auf den Rechner, der inzwischen wieder hochgefahren war und nur darauf wartete benutzt zu werden.
„Schicken Sie ihn rein“, bat er seine Angestellte mit einem wirren und überforderten Lächeln. Mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn verließ Sie das Zimmer, um dem Doktor den ersten Patienten des heutigen Tages zu bescheren. Verunsichert rückte Kris näher an den PC und öffnete probeweise den Internetbrowser.
Du bist nicht verrückt.
Dieses Mal erwarteten ihn keine bösen Überraschungen und er begann mit dem vertrauten Tagesgeschäft.
Aber was, wenn doch?