Читать книгу Die Grenze - Leon Grüne - Страница 23
19
ОглавлениеUrplötzlich öffnete Kris die Augen und begann, schwach zu blinzeln. Verwirrt und auf der Suche nach einer Uhr blickte er sich um. Neben ihm lagen Juleen und Merlin, der, wie immer, in der Nacht zu ihnen ins Bett gekrochen war. Es konnte noch nicht sonderlich spät sein, denn für gewöhnlich stand Juleen bereits um sechs auf, um für ihn und den Kleinen das Frühstück vorzubereiten und Kaffee - jeden Morgen vor der Arbeit trank er zwei Tassen schwarzen Filterkaffee - aufzusetzen.
Irgendetwas war anders, ging es ihm durch den Kopf, dann sah er, dass die grünen Zahlen auf seinem Wecker erst 5:30 anzeigten. Eine Stunde noch schlafen, dachte er und schloss die Augen, aber öffnete sie nach wenigen Sekunden bereits wieder, als ihm auffiel, was nicht stimmen konnte. Er war nicht müde, sondern hellwach.
Wie lange konnte er geschlafen haben? Vier Stunden? Vielleicht sogar nur drei oder zweieinhalb? Sein Schlaf konnte nicht mehr als ein nächtlicher Powernap gewesen sein. Es kam ihm nicht einmal so vor, als wenn er überhaupt jemals geschlafen, sondern bloß einmal geblinzelt hatte, wobei sein Wecker um ein paar Stunden nach vorne gesprungen sein musste. Anders konnte Kris sich seinen aktuellen Zustand jedenfalls nicht erklären. Rational gesehen natürlich. Spinner und Abergläubige würden mit Sicherheit tausend Gründe und mehr für das komische Gefühl, das er hatte, finden und vermutlich den Mondzyklus oder den Stand der Planeten dafür beschuldigen. Auch sie waren doch im Endeffekt nur Psychos und Romantiker, die versuchten, der normalen Realität zu entfliehen, weil sie es in dieser zu nicht mehr brachten, als der bekannte Dorfbusfahrer oder die unansehnliche Bürosekretärin zu sein. Alles, wodurch sie sich jemals hervortun oder bemerkbar machen konnten, war, wenn sie gegen etwas rational Erklärbares oder unanfechtbar Bewiesenes mit Halbwahrheiten protestieren konnten. Viren können nicht existieren, weil ich niemanden kenne, der sie schon gehabt hat, Vitamine sind ein Mythos, weil wir sonst zu Pflanzen mutieren würden und der Klimawandel ist eine Lüge, da nicht weit von uns ein Wald mit genug Bäumen steht, der nicht gerodet wird.
Doch da er weder ein Spinner noch abergläubig war, akzeptierte er es, wie es war, und erhob sich aus seinem Ehebett. Da er ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, marschierte er unmotiviert in die Küche, um erst Kaffee, den er, wenn er ehrlich war, gar nicht brauchte, zu machen und dann den Tisch für das Frühstück, auf das er eigentlich gut und gerne verzichten konnte, vorzubereiten.
Gelangweilt öffnete er den Schrank über der Spüle und holte einen Kaffeefilter, sowie die hohe zylinderförmige Keramikbox mit dem Kaffeepulver heraus. Nachdem er erst den Filter in die Maschine eingelegt hatte, füllte er in Gedanken versunken Löffel für Löffel das Pulver hinein. Abgelenkt von seinen Gedanken rutschte er ihm aus der Hand und fiel mit einem stillebrechenden Klingen auf den Boden. Verärgert bückte er sich, legte den Löffel auf die Ablage über ihn, holte das weiße Kehrblech samt Handfeger unter der Spüle hervor und machte sich daran, die verschütteten Kaffeekrümel aufzukehren und in den schwarzen Treteimer zu entsorgen. Mit dem Kehrblech in der Hand öffnete er mit seinem Fuß den Eimer und klopfte es darüber aus. Doch, als er den Deckel des Mülleimers wieder zufallen lassen wollte, hielt er inne und beugte sich ein wenig über den Müll. Unter ein paar vereinzelten Krümeln lag der gelbe Zettel, den er gestern an dem Bildschirm des Computers in der Praxis entdeckt hatte. Hatte er ihn nicht gestern eigentlich auf dem Weg zu seinem Auto weggeworfen?
Du bist nicht verrückt. Du hattest vor, ihn auf dem Rückweg wegzuwerfen, aber hast es vergessen und ihn hier in den Müll geworfen. So wird es gewesen sein.
Aber so war es nicht gewesen. Das wusste er. Er hatte ihn gestern in die Hecke eines Grundstücks in der Nähe der Praxis geworfen. Der Wind würde ihn verschwinden lassen, hatte er gedacht, und wenn er ein paar Sekunden länger in sich gegangen wäre, dann wäre er mit Sicherheit zu dem Schluss gelangt, dass es keine Einbildung war, dass er den Zettel in der Hecke entsorgt hatte. Doch seine selektive Wahrnehmung überzeugte ihn lange genug, dass er den Deckel des Mülleimers wieder herunterschnellen ließ und sich wieder dem Decken des Tisches zuwandte.
Verwundert über den frühen Wachheitszustand ihres Mannes kam Juleen eine halbe Stunde später in die Küche, wo es bereits nach Toast und Kaffee roch. Noch mehr, als er seine Frau überrascht hatte, überraschte er sich selbst, als er wie aus einem plötzlichen Impuls heraus um zehn nach sieben aufbrach, um sich zu seiner Praxis zu begeben. Um kurz vor halb acht kam er mit dem Auto vor dem weißen Bungalow, in dem er arbeitete, zum Stehen und zog mit zittrigen Fingern den Schlüssel aus dem Zündschloss. Warum er so zitterte, wusste er nicht, schließlich gab es keinen erklärbaren Grund dafür. Jedenfalls noch nicht.