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Eilig riss Andre die Fahrertür des Rettungswagens auf und sprang auf den Sitz hinter das Lenkrad. Theo, ein noch relativ junger Rettungssanitäter, schwang sich ebenfalls in aller Eile auf den Platz neben ihn und legte sich innerhalb von zwei Sekunden den Sicherheitsgurt an. An diesem Abend hätte Andre lieber einen anderen Kollegen bei sich gehabt. Jemanden mit etwas mehr Erfahrung, dem nichts erklärt werden musste, der einfach, ohne zu fragen, handelte und somit auch das ein oder andere Leben retten konnte.

Doch heute sollte er derjenige sein, der Ton und Tempo vorgab. Es war nicht oft vorgekommen, dass er diese Verantwortung tragen musste. Zwar hatte er in seinem Metier immer eine gewisse Verantwortung, aber er fühlte sich wohler, wenn nicht er derjenige war, der Führungsqualität zeigen musste. 17 Jahre lang arbeitete er jetzt schon als Rettungssanitäter, und trotzdem hatte er in all diesen Jahren, weder im Beruf noch im Leben, gelernt, was es bedeutete, selbstständig zu sein.

Nachdem er im Alter von 17 seine Ausbildung zum Tischler abgebrochen hatte, war er viel in der Berufswelt herumgekommen und hatte sich nicht selten in einem gänzlich anderen Arbeitsbereich ausprobiert. Nach seiner kurzweiligen Beschäftigung als Azubi bei dem Tischler in seinem Wohnort hatte er sich als Koch in einem Vier-Sterne-Restaurant versuchen wollen, aber schlussendlich die Ausbildung abgebrochen, weil der Beruf ihm keinen Spaß und für die mangelnde Freude nicht genügend Geld einbrachte. Mit 22 hatte er es als Einzelhandelskaufmann versuchen wollen, aber sich nach den ersten praktischen Einheiten dagegen entschieden, da er sich nicht wichtig, beziehungsweise relevant genug gefühlt hatte. Auch mehrere Unterredungen mit seiner Mutter, bei der er nach wie vor wohnte, halfen nicht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Als Nächstes landete er über einen engen Freund von ihm bei der Werksfeuerwehr des hiesigen Mischkonzerns BOSCH, wo er zum ersten Mal etwas wie einen leichten Anflug von Zufriedenheit verspürte. Doch trotzdem verwarf er auch diese Idee wieder, da er sich in seinem zweiten Ausbildungsjahr mit seinem Ausbilder anlegte, weil dieser ihn als unreif und kindisch bezeichnete, als er herausfand, dass Andre immer noch zuhause wohnte. Aus diesem Grund quittierte er seine dort angefangene Ausbildung und fand mit 26 schließlich seine große Liebe zum Beruf des Rettungssanitäters. Der Beruf bot ihm sowohl das Gefühl, gebraucht zu werden, als auch den nötigen Thrill und die Spannung, die er bisher bei seinen vorigen Ausbildungen so unwissentlich vermisst hatte. Doch er war schon lange nicht mehr 26 und das machte ihm am meisten zu schaffen. Bis er einen festen Job fand, fühlte er sich immer noch wie ein wohlig behütetes Kind unter der Obhut seiner Mutter, das nie erwachsen werden und auf eigenen Beinen stehen musste. Er hatte seit seinen Zwanzigern keine Frau mehr, außer natürlich digital, ohne Oberteil gesehen, und das letzte Mal, dass er in einer Beziehung gewesen war, lag sogar noch einige Jahre weiter zurück. Eigentlich hatte er nie wirklich eine richtige Beziehung, die als solches bezeichnet werden konnte, gehabt. Jetzt war jede Chance auf eine Frau oder gar Kinder für ihn vertan. Jedenfalls machte sein ungepflegt aussehender Bart in Kombination mit seiner großmütterlichen Brille und seinem von Zeit zu Zeit größer werdenden Bierbauch keinen sonderlich ansehnlichen Eindruck. Zudem sah er noch gute acht bis zehn – wenn das Licht schlecht auf seine gekräuselten, hellen Haare fiel sogar fünfzehn – Jahre älter aus, als er eigentlich war, und auch der Zustand seiner übrig gebliebenen Gehirnzellen war mehr als fragwürdig.

Jedes Mal, wenn seine Mutter das Haus für einige Zeit verließ und ihn bat, die Wäsche zu waschen oder das Geschirr in den Geschirrspüler einzuräumen, grenzte es beinahe an ein Wunder, wenn er es tatsächlich ohne Schäden am Inventar geschafft hatte. Meistens allerdings verzweifelte er kläglich daran, und im Endeffekt blieb es immer wieder an seiner fast 70 Jahre alten Mutter hängen, die nur jedes Mal wieder den Kopf schütteln und in sich hineinseufzen konnte, dass er zwar ein lieber Junge wäre, aber eben auch nie ein Mann geworden sei. Er hingegen sah das selbstverständlich ganz anders. In seinen Augen war er ein erwachsener, selbstständiger, lediglich von allen missverstandener Mann, der wichtig und für die Welt unersetzlich ist.

Wenn man jedoch seinen Kollegen Glauben schenken mochte, dann konnte er froh sein, überhaupt diesen Job bekommen zu haben, und das auch nur, weil Rettungssanitäter so händeringend gesucht wurden. Doch dies war alles außerhalb seiner Wahrnehmung. Aus seinem Blickwinkel heraus war er nicht unnütz und lästig, sondern der gebrauchte Held. Nicht das Alter zeigte sich an ihm und er war keinesfalls unbeweglicher als früher, sondern sein Körper machte nur eine einstweilige Pause, von der er sich jederzeit wieder erholen könne. Er war nicht alleine und kindisch und Frauen widerten sich nicht vor ihm, sondern sie sahen nur, dass er zu gut für sei. Das war seine Sicht der Dinge, und sie war gut so. Für ihn jedenfalls. Es schadete nie, zufrieden mit seinem Leben zu sein. Und eben das war es, weswegen er trotz allem ein glücklicherer Mensch war, als die Meisten. Er wollte nicht viel und gab sich mit dem zufrieden, was das Leben ihm bot. Keine Sucht nach Erfolg, Sex oder der Ferne. Auch wenn es von außen nie so schien, war auch ein solches Leben es wert, akzeptiert und gewürdigt zu werden.

Hastig drehte Andre den Zündschlüssel herum und ließ den Motor aufjaulen. Er schaltete das Blaulicht mitsamt der Sirene ein und fuhr aus dem geöffneten Tor in die Richtung, aus der der Notruf abgesetzt wurde. Erst einige Stunden, nachdem der Einsatz vorbei war, wunderte er sich, dass er auch dieses Mal wieder aus Dulingen kam. In aller Eile stiegen die beiden aus dem Wagen aus und rannten zur Tür, an der bereits die vollkommen aufgescheuchte Frau Nitz wartete.

„Helfen Sie ihm! Helfen Sie meinem Jungen!“, kreischte sie in Tränen aufgelöst und zeigte zitternd auf die Treppe, die nach oben zu Eriks Zimmer führte. Ohne nachzufragen, rannten sie die Treppe hinauf und stürmten in das erste Zimmer auf der linken Seite des Flures. Eifrig kniete Andre sich neben das Bett, in dem, regungslos und friedlich wie ein Engel, Erik lag, und versuchte, ihn erfolglos anzusprechen, während Theo am Hals und wenige Sekunden später auch am Handgelenk des Jungen genauso erfolglos dessen Puls suchte. Einen Augenblick später legten die Rettungssanitäter das Kind unter den trauernden und schmerzerfüllten Blicken der Mutter auf den Holzboden und begannen, ihn zu reanimieren.

Zehn Minuten später kam der Notarzt, der jedoch auch nicht mehr machen konnte, als den Tod des Jungen festzustellen. Wenig später verlagerten sie den toten Jungen in einem Leichensack auf die Trage und brachten ihn aus dem Haus. Mit einem leisen Klick fiel die Haustür ins Schloss. Die einzigen Geräusche, von denen das Haus noch erfüllt war, war das laute Weinen von Eriks Mutter und das des laufenden Fernsehers im Erdgeschoss. Am Boden zerstört kauerte sie sich in der Ecke vom Bett ihres gerade verstorbenen Kindes zusammen und weinte in das Kopfkissen, das sie in ihren Armen hielt.

„Was ist los?“, fragte Harald aggressiv. Er stand in der offenen Zimmertür und hatte den ganzen Trubel mit einer Dose Bier in der Hand vor dem Fernseher gekonnt ignoriert. Seinem schäbigen Aussehen und seinem Geruch nach zu urteilen, war er betrunken. Die schwarze Dose, auf der in Weiß „5,0%“ geschrieben stand, war mit Sicherheit nicht die erste an diesem Abend gewesen. Auf seinem weißen Unterhemd prangten unzählige Flecken von Soße und Gewürzen, die er daran abgewischt hatte. Mit gereizten, roten Augen sah sie ihren Mann vom Bett aus an und schluchzte unverständlich in das Kissen vor ihrem Mund. Mittlerweile war die Seite, die ihr Gesicht trocknete, stark von Tränen und Speichel durchnässt.

„Ich habe dich etwas gefragt“, betonte Harald wütend und näherte sich ihr mit langsamen Schritten.

„Er ist tot!“, schrie sie ihn an und presste ihr Gesicht wieder laut schluchzend in das Kissen. Einen Moment blieb er stehen und sah seine weinende Frau an. Es war okay, dass sie weinte. Frauen taten so etwas immer wieder. Aus diesem Grund trafen auch Männer die wichtigen Entscheidungen, da sie nicht so schnell zu flennen begannen und sich alles zu Herzen nahmen. Solange sie ihm nicht auf die Nerven ging und Krach machen würde, sollte sie heulen, wie sie wollte. Er würde es nicht tun. Er war ein Mann und kein emotionales Waschweib, das anfangen würde, sich die Augen aus dem Kopf zu heulen.

„Versager sterben immer früher“, sagte er trocken, als versuchte er, sie damit trösten zu wollen.

Gleichgültig nahm er einen Schluck aus seiner Bierdose, stieß laut auf und verließ unter dem verstörten Blick seiner Frau das Zimmer, um sich wieder zu seiner Tüte Kartoffelchips vor den Fernseher zu setzen. In diesem Moment hasste sie ihn so abgrundtief, dass ihre Trauer für eine Sekunde in den Hintergrund geriet und sich in Hass verwandelte. Während sie sich selbst hinterfragte, wie sie jemals jemanden wie ihn geliebt haben konnte, versank ihr Gesicht wieder in dem Kissen, auf dem vor einer Viertelstunde noch ihr toter Sohn gelegen hatte.

Die Grenze

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