Читать книгу Die Grenze - Leon Grüne - Страница 22

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Da war sie wieder. Angst. Beklemmende Angst. In den letzten Tagen hatte Kris sie immer wieder und so oft wie selten zuvor erlebt. Er hatte Angst verrückt zu werden, wie sein Bruder Benjamin es gewesen war.

Im Alter von 15 Jahren wurde sein Bruder von ihrem Vater das erste Mal zu einem Neurologen geschickt. Ständig erzählte er von Feen und Elfen, die ihm den Weg ins Paradies zeigen wollten. Niemand hatte ihm geglaubt und als er wenige Wochen später immer noch nicht damit aufgehört hatte, zog sein Vater die Reißleine und gab ihn bei Dr. Winkler, einem ehemaligen Studienkollegen von ihm, in psychiatrische Behandlung. Doch bereits nach ein paar Sitzungen mit dem Jungen verflog jeder Gedanke daran, dass Benjamin bloß seine pubertäre Seite der Romantik und Weltflucht auslebte, wie es E.T.A. Hoffmanns junger Student Anselmus auch getan hatte. Anders als der Student, der in seiner Welt der Fantasie und der Mystik mit Serpentina in Atlantis bleiben konnte, konnte Benjamin nicht in seiner, in der Feen und Elfen ihn ins Paradies führen wollten, überdauern. So funktionierte die Welt der rational denkenden Menschen nicht, und aus diesem Grund musste man ihn aus seiner Traumwelt herausholen und in die Realität zurückbringen, um in dem System zu arbeiten, das alle anderen genauso hassten, wie er selbst.

Kris Vater hatte Benjamin immer als das schwierige Kind bezeichnet, das nur Flausen im Kopf hätte und es nie zu etwas bringen würde, wenn er nicht anfangen würde, klarzukommen. Von Anfang an hatte er versucht, ihn in die Zwangsjacke der Realität zu stecken und ihm immer aufs Neue gepredigt, dass es wichtig wäre sich, nicht auf märchenhaften Schwachsinn, sondern auf Erfolg und Bildung zu konzentrieren. Das Märchen bringt dich in die Klinik, die Bildung führt dich in den Wohlstand.

Auch Kris hatte die Weltanschauung seines Vaters aufgezwängt bekommen, allerdings nicht mit der Härte, die Benjamin erleben musste. Man konnte ihrem Vater zwar viel Realismus vorwerfen, aber nicht, dass er stets in der neuen Zeit lebte. Denn obwohl das Mittelalter bereits lange vorbei war, dachte er immer noch in dem Schema des erbenden Erstgeborenen, weswegen sein Hauptaugenmerk in allen erzieherischen Maßnahmen auf Benjamin ruhte. Kris war bloß die zweite Geige, die erst dann ins Spiel kommen würde, wenn Benjamin entweder tot oder aufgrund irgendeines Umstandes von ihm enterbt worden wäre. Und eben dieser Gedanke hatte sich ihm immer häufiger aufgedrängt, während er seinen Sohn in Behandlung schickte. Er versuchte gar nicht erst, sich selbst als Ursache für die psychischen Probleme seines Kindes verantwortlich zu machen. Den einzigen Vorwurf, den er sich machte, war, dass er ihn auf irgendeine Weise trotzdem liebte.

Schuld war etwas, das Philosophen und andere Theoretiker diskutieren sollten.

Er liebte ein Kind, das der Überzeugung war, dass Feen und Elfen existieren würden. Tiefer konnte er schlichtweg nicht mehr sinken. Nachdem Benjamin seine erste Behandlung in der Psychiatrie hinter sich gebracht hatte und laut Dr. Winkler wieder in der normalen Welt angekommen war, startete sein Vater direkt den nächsten Anlauf, um ihm seine Zwangsjacke anlegen zu können. Fernsehen war nur dann erlaubt, wenn es sich um Nachrichten oder Wirtschaft handelte. Mit Freunden durfte er sich nur treffen, wenn sein Vater sichergehen konnte, dass sie keine Spiele spielten oder Musik hörten. Da erschien es wenig verwunderlich, dass er nie Freunde gehabt hatte. Videospiele waren gänzlich verboten und Musik nur dann, wenn sie von Beethoven oder Bach komponiert worden war, denn Mozarts Stücke waren seiner Auffassung nach zu verspielt und kindisch. Das Einzige, das ihm nicht verboten, sondern aufgezwungen wurde, war das Lesen. Damit waren jedoch keine Romane oder fiktiven Geschichten gemeint, sondern Wirtschaftsmagazine, Biographien erfolgreicher Unternehmer und Wissenschaftler, sowie deren Abhandlungen und Dissertationen. Es sollte nicht überraschend sein, dass die Gründe für die psychischen Probleme und Halluzinationen von Kris großem Bruder das Ergebnis jahrelanger Isolation von den Freuden und der Fantasie des Lebens waren.

Eine Psyche, auf die Druck ausgeübt wird, ändert ihren Zustand dem Druck entsprechend.

Zwei Wochen waren vergangen, seitdem er aus der Psychiatrie entlassen wurde, und von einem Rückfall war noch keine Spur zu erkennen. Aber was sich lange in einem aufstaut, schlägt am Ende nur noch härter zu. Seine Fantasie brachte ihm den Tod, lautete der Text der Traueranzeige, die am nächsten Tag in der Zeitung erschienen war. Doch was war, wenn nicht die Fantasie, sondern der Tod der Fantasie ihn ins Grab befördert hatte? Diese Frage hielt Kris noch lange wach bis er in den frühen Morgenstunden schließlich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf fiel.

Die Grenze

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