Читать книгу Die Grenze - Leon Grüne - Страница 9
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ОглавлениеMit gesenktem Kopf betrat Jonas Kleinert das Schulgebäude. Am Freitag würde sein kleiner Bruder seinen letzten Weg unter die Erde finden, und er war alles andere als bereit dafür. Noch am Freitagmorgen hatte ihr Vater sie mit Tickets für das Fußballspiel von Hannover 96 am nächsten Wochenende überrascht. Es wäre das zweite Fußballspiel gewesen, das Jonas sich im Stadion angesehen hätte. Für Ben wäre es das Erste gewesen. Sein Vater hatte die Karten am Montag an Freunde verschenkt. Ihm war die Lust auf das Stadion vergangen. Allerdings wäre es vielleicht die Ablenkung gewesen, die ihnen allen gutgetan hätte, aber wer wollte, beziehungsweise konnte schon abgelenkt werden, wenn es um den unvorhergesehenen Tod des eigenen Kindes gehen würde. Niemand, der auch nur einen Funken Liebe für seine Kinder übrig hatte, verschmerzte so etwas leichtfertig, und Ben und Jonas Eltern hatten eine Menge Liebe für sie übrig. Folglich waren auch die Schmerzen der beiden von beträchtlichem Ausmaß.
Seitdem der Arzt im Krankenhaus Ben offiziell für tot erklärt hatte, liefen alle, sowohl seine Eltern als auch Jonas, in einer eigenen Gefühlsglocke mit der Stabilität von Obsidian, einem Vulkangestein, herum. Man konnte von außen hineinsehen und erkennen, wie es ihnen ging, aber hineingelangen, um ihnen zu helfen oder sie gar hinauszuziehen, war unmöglich. Sie isolierten sich selbst in ihre eigene unerreichbare Gefühlswelt. Sie verließen sie nicht einmal, um sich um ihren anderen, noch lebenden Sohn zu kümmern. Jeder lebte von da an quasi für sich alleine und empfand nicht einmal das eigene Leben noch länger als lebenswert.
In der ersten großen Pause setzte Jonas Kleinert sich auf einen der großen Steine, die wie im Kreis neben der Schulkantine angeordnet waren, und ließ den Kopf in seine verschränkten Arme sinken.
„Hey Jonas“, sagte Mark, ein guter Freund von ihm, vorsichtig und setzte sich zu ihm auf den Stein. Er antwortete nicht, sondern drehte sich noch ein Stück weiter von ihm weg. Respektvoll akzeptierte Mark sein Schweigen, blieb einfach stumm neben ihm sitzen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Zumindest stieß er sie nicht weg. Scheinbar wollte er nicht tatsächlich alleine sein, sondern nur nicht reden. Das war in Ordnung. In einer Freundschaft musste man manchmal dem Anderen einfach etwas Freiraum geben, ohne ihn dabei komplett allein zu lassen. Manchmal tat es gut einfach schweigend nebeneinanderzusitzen, ohne in Not zu sein etwas sagen zu müssen. Manchmal sagte Stille schon genug aus.
„Ey Jungs seht mal, was wir da haben. Ne Schwuchtel“, lachte Erik dreckig und stieß seinem Kumpel in die Seite. Erik war das Alpha Tier des siebten Jahrgangs und versuchte sich mit Worten, die für ihn alt klangen, als schlau hervorzutun. Nicht wirklich glaubhaft, wenn man bedachte, dass seine Eltern ihn erst mit sieben eingeschult hatten und er trotz dessen in der fünften Klasse noch eine Ehrenrunde drehen musste, um nicht auf eine Sonderschule geschickt zu werden. Er war groß, stämmig und außerdem vierzehn Jahre alt und somit fast zwei Jahre älter als der Rest der Kinder aus dem Jahrgang, den er besuchte.
„Verzieh dich“, drohte Mark ihm zornig, wobei seine Drohung mehr wie eine kleinlaute Bitte, nicht verprügelt zu werden, klang. Erik hatte ihn schon oft mit blauen Flecken und Rissen in seinen Brillengläsern nach Hause geschickt, weil Mark sich aufgrund seiner Angst und Feigheit, den Mund gegenüber einem Lehrer oder gar seinen Eltern aufzumachen, als das perfekte Opfer seiner Gemeinheiten eignete. Mark war klein, ein wenig pummelig und trug eine Brille. Er war im Grunde genommen also wie dafür geboren, die Fresse eingeschlagen zu bekommen.
„Halt die Klappe, Speckie“, blaffte er ihn an und wandte sich Jonas zu, der immer noch geistesabwesend den Kopf in seinen Armen versteckte und gewissermaßen die Vogelstrauß-Taktik ohne Sand ausführte.
„Hab gehört, deinen Bruder hats erlegt, hä? Weißt du, was mein Vater gesagt hat?“, fragte er und beugte sich zu ihm hinunter, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit Jonas gesenktem Kopf war.
„Lass ihn in Ruhe, Erik!“, versuchte Mark es dieses Mal mit ein wenig mehr, aber trotzdem kaum hörbarer, Kraft in der Stimme.
„Wenn du nicht die Schnauze hältst, dann nehme ich deine Brille und schiebe sie dir in deinen Fettarsch, kapiert?“, grunzte Erik ihn wütend an.
Ängstlich verstummte Mark, blieb aber trotzdem mit rotem Kopf neben seinem Freund sitzen. Vielleicht auch einfach, weil er wissen wollte, was passieren würde. Einen anderen logisch erkenntlichen Grund gab es jedenfalls nicht, denn es war zu offensichtlich, dass Erik nicht vorhatte, die Pause ohne ein paar Schläge seinerseits zu beenden.
„Weißt du, was mein großer Bruder gesagt hat, als er davon gehört hat?“
Ein weiteres Anzeichen von Eriks geistiger Schwäche war, obwohl allein seine Art, jedes Wort am Ende eines Satzes unnötig in die Länge zu ziehen, zur Genüge davon zeugte, dass er bei jeder Gelegenheit auf seinen Vater oder seinen großen Bruder verwies. Beide waren wie er nicht sonderlich intelligent, geschweige denn begabt, aber grade deswegen waren sie seine Vorbilder. Sein Bruder, der mit siebzehn seinen Hauptschulabschluss geschafft hatte, war nach absolvierter Ausbildung auf die Baustelle gegangen, wo er sich bis zur für ihn mit Sicherheit mickrigen Rente seine Gelenke und seinen Rücken kaputtschuften durfte. Eriks Vater hingegen hatte es sogar geschafft, eine Ausbildung zum Straßenwärter zu machen und arbeitete nun seit mittlerweile fast dreißig Jahren im öffentlichen Dienst bei der Straßenbauverwaltung der Stadt Dulingen. Keine geistige Meisterleistung, aber die strebte Erik auch nicht an. Alles, was er wollte, war arbeiten und Geld verdienen, ohne sich zu sehr anstrengen zu müssen, wobei Anstrengung für ihn bloß auf geistiger Ebene durch den Versuch zu denken vorkam. So waren sein Vater und sein Bruder in dem Sinne also seine idealen Vorbilder.
„Gut, dass der kleine Wichser tot ist. Noch eine Schwuchtel weniger“, zitierte er seinen Bruder, während er Jonas schief angrinste.
„Hör endlich auf, Erik!“, keifte Mark ihn an. Dieses Mal mit hörbarer Wut. Zornig sprang Mark auf und schubste den vor Jonas hockenden Erik um. Erik verlor das Gleichgewicht und plumpste wie ein nasser Sack nach hinten auf die noch leicht vom nächtlichen Regen befeuchtete Erde.
„Na warte du …“, schimpfte Erik, als er sich wieder aufrappelte und Mark, der den verzweifelten Versuch gestartet hatte wegzulaufen, sämtliche Beleidigungen und Flüche hinterherrief. Mark kam wenige Stunden später mit blutiger Lippe, blauem Auge und einer weiteren zerbrochenen Brille nach Hause. Jonas blieb von Eriks Wutausbruch verschont. Zumindest heute.