Читать книгу Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast - Страница 12

… und was beinahe dabei passiert wäre

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Anja schob sich zwischen den Zuschauern durch, um zu Petra zu gelangen. Es war schwierig; die Leute standen dicht an dicht, und sie kam nicht vorwärts. Schließlich gab sie auf. Petra hatte sicher schon abgesattelt und stürzte sich nun ihrerseits in das Gewühl, das auf der Tribüne herrschte. Gleich darauf klingelte es, und die Tür der Halle ging auf: Der Nikolaus kam.

Na, dann blieb sie also, wo sie war, um so mehr, als sie sah, daß der Nikolaus von einem Engelchen begleitet wurde, das sie sogleich erkannte: Petra. Sie mußte sich in rasender Eile umgezogen haben; sie trug jetzt ein langes weißes Nachthemd – über Hose und Stiefeln, wenn man genau hinsah hatte eine Perücke mit goldenen Lokken auf, die sie sehr veränderte, und sogar ein paar Flügel an die Schultern geschnallt. Ihr rundes Lausejungengesicht als Engelsköpfchen – alle lachten. Sie zog ein Pferd hinter sich her, das zwei vollgestopfte Säcke auf seinem Rücken trug. Das Pferd war Kerlchen. Anja fand es einerseits etwas belämmernd, daß man gerade Kerlchen genommen hatte; denn eigentlich kommt der Nikolaus ja mit einem Esel. Stufte man Kerlchen, der das Gnadenbrot bekam und höchstens hie und da einmal aushalf, jetzt als Esel ein? Andererseits war sie in seinem Sinne geschmeichelt. Es war doch eine Ehre, mit dem guten und geliebten Kinder-Heiligen gehen zu dürfen. Der Nikolaus hatte einen roten Mantel an mit weißem Fell innen, das am Kragen und an den Rändern eine ganz schmale Pelzkante bildete, auch die Taschen waren verziert. Er trug eine Maske, so daß man nicht sehen konnte, wer darunter steckte. Der Reitlehrer sicherlich nicht, zu ihm paßte die Rolle des Nikolaus’ auch nicht, er war eher streng als gütig. Eine hohe rote Mütze machte ihn noch größer.

Anja war von den immerzu drängelnden Zuschauern nach vorn an die Barriere geschoben worden und stand nun dort, hatte die beste Sicht und lachte Petra zu, die sie sah und ein wenig zu ihr emporwinkte. Mit dem Nikolaus, dem Engel und Kerlchen war noch jemand in die Halle gekommen: Othello. Er machte sich sehr drollig in seiner kleinen schwarzen Dickbäuchigkeit. Die Zuschauer lachten. Er ging um Kerlchen herum, hob die freche Nase und stellte sich dann zum Nikolaus, der ein Gedicht aufzusagen begann. Erst verstand man nicht viel, dann aber, nach einem allgemeinen Zischen: „Ruhe! Wir wollen was hören!“, legte sich das Gemurmel der Zuschauer, und nun konnte man verstehen, was der Heilige sagte. Es bezog sich auf die Reiterei, das Pech oder das Glück der einzelnen Reitvereinsmitglieder, das sie im letzten Jahr gehabt hatten, und war in drollige Verse gekleidet. Immer wieder gab es Gelächter bei den Zuhörern.

Dann hob der Nikolaus mit Hilfe seines Engelchens den ersten Sack von Kerlchens Rücken herunter, machte ihn auf und entnahm ihm ein eingewikkeltes Geschenk nach dem anderen. Auf den Päckchen stand in großen Buchstaben der Name des jeweiligen Vereinsmitgliedes, und der Nikolaus las ihn, sagte zwei Zeilen, die darunter standen, etwa:

„Ein Mähnenkamm für Thilos Flieder,

und für ihn selbst auch hin und wieder“,

und dann lachte alles, weil Thilo zu den jungen Männern gehörte, die sich mit wallenden Locken schmücken, ob es Mode ist oder nicht, und diese nicht ganz so sorgsam pflegen, wie das bei einer solchen Haartracht nun einmal nötig ist, mögen sie Männer oder Mädchen tragen. Der Jubel der Zuhörer war jedesmal groß.

Freilich, einer störte diese hübsche Vorführung: Othello. Er fand sich wohl zuwenig beachtet, jedenfalls lief er dauernd zwischen dem Nikolaus und seinem Engel, der die Geschenke auf die Tribüne hinaufreichte, hin und her, knabberte am Sack und steckte seine lackschwarze Nase hinein, und wenn der Nikolaus ihn wegscheuchte, erhob er sich drohend auf die Hinterbeine, legte den Kopf schief und boxte nach ihm. Die Zuschauer lachten. Dann aber begann er, Kerlchen zu ärgern – er stieß ihn gegen die Vorderbeine und biß schließlich in seinen Schweif.

Kerlchen, sonst rührend geduldig, fing nun auch an, unruhig zu werden. Er schubste Othello mit seinem großen Kopf weg, so daß dieser ein Stück durch die Halle sauste, begann hin und her zu treten und ging schließlich rückwärts.

Der Nikolaus, durch seine Maske am Sehen etwas behindert, verlor sein Konzept, und die ganze Aufführung geriet ins Wackeln.

„Schmeiß ihn raus!“ brummte er Petra zu. Die lief hinter Othello her, der sich an die Barriere flüchtete. Dort aber bekam Petra überraschend Hilfe. Anja war blitzschnell auf die hölzerne Schranke gestiegen und in die Halle hinuntergesprungen, zu zweit erwischten sie den kleinen Bock sogleich, und Anja zerrte ihn an seinen Hörnern mit sich, dem Ausgang zu. Othello, der sich nicht gern an den Hörnern packen ließ, stemmte sich und versuchte zu stoßen, aber es half ihm nichts, Anja blieb Sieger.

„Gut so, endlich hat man seine Ruhe!“ brummte der Nikolaus, rückte seine Maske zurecht und grub aufs neue in seinem Geschenksack, während Anja, nachdem sie den Bock hinausgeschoben hatte, die Tür schnell wieder schloß. Sie blieb aber vorsichtshalber in der Halle, gewärtig, noch einmal aus diesem oder jenem Grund einspringen und helfen zu können. Gerade lachten die Zuschauer wieder laut, es wurde sogar geklatscht – Anja sah auf und verstand sogleich, warum: Kerlchen hatte, um auch etwas von der Bescherung abzubekommen, seine Nase in die eine Tasche des Nikolausmantels gesteckt und diese, wie es seine Spezialität war, dabei halb abgerissen.

„Also, man kommt doch zu keiner vernünftigen Arbeit“, schalt der Heilige und betrachtete seinen lädierten Mantel, „da wird die Mutter Maria aber ärgerlich sein, wenn sie mir die Tasche wieder annähen muß.“

„Ich mach’ es dir, Nikolaus!“ rief Petra beschwichtigend. „Die Mutter Maria hat jetzt vor Weihnachten so viel zu tun, da kann sie nicht noch Flickarbeiten verrichten. Der Stall wird renoviert, weil es durchs Dach regnet, und die Krippe von Ochs und Esel soll mit einer automatischen Tränke versehen werden.“ Alle Reitvereinsmitglieder lachten schallend und klatschten in die Hände. In den letzten Wochen hatte der Streit um solche Tränken im Stall wild getobt, man behauptete, es sei nicht zumutbar, daß immerzu das Wasser in Eimern herbeigeschleppt werden müsse. Das war echt Petra, darauf anzuspielen. Der Vorsitzende des Vereins, Herr Heinrich Starke, sah sich ein wenig verlegen lächelnd um – alle lachten ihn an und winkten ihm zu. Nun würde er wohl diese Neuerung genehmigen müssen.

Die Bescherung ging weiter, nun ohne Unterbrechung von anderer Seite. Einmal kam Petra zu Anja herüber und flüsterte ihr etwas zu.

„Im Stand von Kerlchen, vorn auf der Krippe, liegt noch ein Paket, das soll der Nikolaus haben. Ich überreiche es ihm dann“, flüsterte sie. „Kannst du es holen? Hat Zeit, mit dem zweiten Sack haben wir ja erst angefangen, und der Nikolaus bekommt das Päckchen erst zum Schluß.“

Anja nickte. Sie sah noch ein Weilchen zu, dann ging sie unauffällig rückwarts und schlüpfte aus der Tür. Sie hatte schon wieder solchen Durst. Schnell lief sie den kleinen steilen Weg zum Stall hinauf, ging hinein und hielt erst einmal den Mund unter den Wasserhahn. Hach, tat das gut! Und dann ging sie in Kerlchens Stand und fand auch sogleich das Paket.

„An den ehrwürdigen und schenkfreudigen Nikolaus als kleine Gegengabe für noble Weihnachtsgeschenke“, las sie. Es war schwer. Was mochte darin sein?

Als sie den Berg wieder hinunterging, vorsichtig am Rand, wo es nicht so glatt war, sah sie sich noch einmal um, ob sie im Stall auch das Licht ausgedreht hatte. Da stutzte sie. An der Längswand des Stalles, dort, wo der Weg zwischen Mist und Stallgebäude hindurchführte, stand der Nikolaus und sprach mit einem kleinen Jungen, den er an der Hand hielt. Besser: den er an der Hand mit sich fortzuziehen versuchte, wogegen der Junge sich aber wehrte.

„Nein, ich will nicht!“ hörte Anja. Die Stimme kannte sie doch! Und den bockigen Ton! Natürlich, der Junge war Werner, jetzt erkannte sie ihn, Petras kleiner Bruder. Genauso hatte er heute gekreischt, als er Kerlchen reiten sollte.

„Komm, komm, ich hab’ auch was Schönes für dich!“ lockte der Nikolaus halblaut. Anja war, eigentlich einer ihr selbst nicht erklärlichen Regung folgend, wieder bergauf gelaufen und hatte sich hinter die Stallecke gestellt. Um diese spitzte sie nun herum – was machte denn der Nikolaus hier draußen? Er konnte doch nicht alle in der Halle im Stich lassen, nur um sich um Werner Hartwig zu kümmern?

Es begann schon zu dämmern. Aber Anja sah den Nikolaus noch ziemlich genau, seinen roten Mantel, seine Stiefel, seine Maske und die hohe Mütze. Die Stimme konnte sie nicht erkennen, durch eine Ganzmaske hört man sie nicht so gut, und er stand auch etwas entfernt von ihr. Aber vorhin in der Halle hatte sie auch nicht feststellen können, wer den Nikolaus spielte. Herr Anders sicherlich nicht, den kannte sie an den Bewegungen. Hinter dem Nikolaus und Werner tauchte jetzt Othello auf und guckte die beiden aufmerksam an. Anja blickte von ihm zum Nikolaus und zu Werner hin, und plötzlich fühlte sie einen heißen Schrecken: Der Nikolaus hatte sich, weil Werner versuchte, seine Hand aus der des Nikolaus’ zu ziehen, ein wenig gedreht, und man sah ihn jetzt von der rechten Seite. Die Manteltasche dort war nicht abgerissen … Und Kerlchen hatte doch vorhin seine Nase hineingesteckt und sie zur Hälfte abgefetzt!

Oder war es die linke gewesen?! Anja glaubte ganz sicher zu wissen, daß es die rechte war …

Einer blitzschnellen Überlegung folgend, rannte sie um den Stall herum und guckte von der anderen Seite zu den beiden hin. Jetzt sah sie den Nikolaus von links. Auch dort war die Tasche in Ordnung. Und weiße Pelzkanten an der Kapuze konnte sie auch nicht erkennen. Es mußte ein anderer Nikolaus sein.

„Lassen Sie Werner los!“ hörte Anja sich schreien, während sie aus ihrem Versteck heraus auf die beiden zurannte.

„Werner, komm her – lassen Sie ihn los, oder ich hole jemanden!“

Der Nikolaus hatte sich aufgerichtet und starrte einen Augenblick zu ihr hinüber. Dann drehte er sich um und lief weg.

„Werner! Werner! Komm her!“ gellte Anjas Stimme. Der Nikolaus hatte ihn losgelassen, er rannte jetzt am Rand des hier aufgestapelten Misthaufens entlang, der großen Straße zu, Anja hinterher. Sie wußte selbst nicht, warum sie hinterherrannte, sie würde einen großen und starken Mann nicht aufhalten können, aber sie lief, so schnell sie konnte!

Und da passierte es. Othello war schuld. Er hatte wohl angenommen, das wäre ein lustiges Spiel, und war halb neben, halb vor dem Mann im roten Mantel über den Schnee gesprungen, manchmal bockelnd, manchmal verharrend.

Als der Nikolaus einmal eine kleine Kurve um einen der Pfosten herum machen mußte, die hier den Mist vom Weg abgrenzten, kam ihm der Ziegenbock vor die Füße. Er stolperte, fluchte, versuchte sich zu fangen, und es sah einen Augenblick lang so aus, als käme er wieder ins Gleichgewicht. Dann aber fiel er doch vornüber, in den Schnee, die Maske löste sich von seinem Gesicht und flog voraus, und da sah Anja etwas.

Sie sah es nur einen ganz, ganz kurzen Augenblick lang. Dann hatte der vermeintliche Nikolaus sich aufgerafft, die Maske ergriffen und wieder vors Gesicht gesetzt, und nun rannte er, rannte, rannte –

Aber sie hatte die Narbe gesehen. Eine Narbe, die sich an der linken Wange entlangzog, von der Schläfe bis zum Mundwinkel. Wenn Anja vorher nur rein gefühlsmäßig gemeint hatte, hier lauere Gefahr, so wußte sie es jetzt klar und genau: Dieser Nikolaus mußte der Mann sein, von dem Vater damals erzählt hatte. Der Mann, der kleine Jungen an sich lockte und mitnahm, vor dem die Lehrer gewarnt hatten, wegen dem die Eltern auf ihre Kinder aufpassen sollten …

Was tun? Hinterherrennen? Sie konnte ihn nicht festhalten. Jemanden holen? Wen?

Irgendeinen Erwachsenen.

Ohne weiter zu überlegen, fegte Anja zurück, an Werner, der verdutzt und mit offenem Mund stehengeblieben war, vorbei, der Reithalle zu. Und wie es manchmal der Zufall fügt: Dort kam ihr jemand entgegen, in Stiefeln, Reithosen, die Kappe in der Hand: Cornelia. Besser konnte es gar nicht sein!

„Cornelia! Cornelia! Ein Mann – ein – ein – er hat sich als Nikolaus verkleidet und wollte Werner mitnehmen –“

„Was sagst du?“ fragte Cornelia. Anjas Worte überstürzten sich. Gleich darauf hatte die junge Ärztin verstanden.

„Komm“, sagte sie nur und rannte los. Ihr VW stand an der Schmalseite des Stalles, vorn, also nicht zwischen Halle und Stall, sondern auf der entgegengesetzten Seite. Cornelia riß die Tür auf und war schon drin, stieß die andere nach außen.

„Komm rein! Roter Mantel, sagst du? Den finden wir!“

Sie startete. Die Gebäude des Reitvereins lagen etwas außerhalb der Siedlung, ein Weg – für Kraftfahrer verboten, für Anlieger frei – führte hin. Cornelia konnte hier nicht allzuschnell fahren, aber schneller als ein rennender Mensch war ihr Wagen natürlich immer noch. Am Ende des Weges sah sie eine Gestalt …

„Ist er das?“ fragte sie und deutete mit dem Kinn nach vorn. Anja strengte ihre Augen an.

„Ich weiß nicht –“

„Guck genau hin.“

„Und was machen wir, wenn er es ist?“ fragte sie dann. Cornelia hob die Schultern.

„Ja, was! Einen Polizisten suchen.“

Wo sollte wohl hier ein Polizist auftauchen! Die Gestalt, die sie beide vorhin gesehen hatten, war jetzt verschwunden. Wo konnte der Mann hin sein?! Cornelia hatte die Straße erreicht und nahm das Gas weg. Einfach ins Blaue oder besser Graue hineinzurasen hatte keinen Zweck. Da sah sie das Telefonhäuschen.

„Warte, dort …“

Sie hielt, sprang aus dem Wagen, riß die Glastür auf. Anja krabbelte auch heraus, sah die Straße hinauf und hinunter. Nichts. Wo konnte der Kerl nur hin sein?

Sie sagte das zu Cornelia, als diese wieder herauskam. Die wunderte sich auch.

„Nicht wahr? Wie vom Erdboden verschluckt.“

Gleich darauf war der Streifenwagen da. Cornelia gab kurz Bescheid, der Polizist hörte zu, stellte ein paar Zwischenfragen, auch an Anja, sie antwortet so genau wie möglich. Daß es dunkel wurde, war natürlich ärgerlich.

Sie fuhren dann zurück, Richtung Reitverein, und sahen sich dort um. Am Rand des Fahrweges stand Werner, Othello neben sich. Der Polizist fragte auch ihn aus. Er wußte nicht viel, nur daß der Nikolaus ihm allerlei versprochen hatte, wenn er mitkäme.

„Und es war der Nikolaus. Ich habe ihn doch in der Halle gesehen! Mit dem roten Mantel!“

„Ja, ja“, sagte der Polizist und nahm Werners Hand, „zeig mir mal, wo er gestanden hat. Und wohin ist er denn gelaufen?“

Der Schnee war überall von unzähligen Fußspuren zertreten; es war unmöglich, eine Spur zu finden.

„Dort rüber“, sagte Werner unsicher. Da wurde auf einmal Cornelia aufmerksam.

„Dort rüber, sagst du?“

Auf der anderen Seite des großen Misthaufens ging es steil bergab – hier war es ja überhaupt nicht eben, auch die Halle lag unterhalb des Stalles –, auf dieser Seite befand sich der kleine Sprunggarten. Der große für die Turniere lag hinter der Halle, nach dem Wald zu, der kleinere hier. Hier wurden von den Anfängern die ersten Sprünge gemacht, im Sommer standen blauweiße und rote Hindernisse aufgebaut, auch einen Graben und einen Tiefsprung gab es.

„Kommen Sie“, sagte Cornelia halblaut und machte dem Polizisten ein Zeichen. Und dann gingen sie los, kletterten quer über den Berg aus gefrorenem Mist und dann zum kleinen Sprunggarten hinunter. Hier gab es so gut wie keine Möglichkeiten, sich zu verstecken; nur dort, wo eine Senkung ausgehoben worden war, damit der Reiter hinunterreiten, unten einen Sprung machen und wieder hinaufreiten mußte; Tiefsprung nennt man das. Und dort – wahrhaftig, als sie näher kamen, sahen sie es –, dort kauerte ein Mensch.

Er trug keinen roten Mantel mehr, den hatte er ausgezogen und in einem Klumpen zusammengeballt auf der Erde neben sich liegen. Auch die Nikolausmaske hatte er nicht mehr auf, nur die Mütze. Die hatte er tief ins Gesicht gezogen.

Cornelia fühlte trotz Zorn, Aufregung und Empörung ein tiefes Mitleid mit diesem Menschen in sich aufsteigen. Sie versuchte es zu unterdrücken. Aber es blieb. Sie als Ärztin wußte zu genau, daß es oft nur eine schreckliche Veranlagung ist, die einen Menschen zu solchen Dingen treibt, eine Art Krankheit, eine Besessenheit. Eine schuldlose –

Deshalb aber mußten die Kinder doch vor ihm bewahrt werden. Es half nichts.

Sie stand und beobachtete den Polizisten, wartete, ob sie noch irgendwie gebraucht würde. Als sie sah, wie der Verfolgte sich aufrichtete, auf Geheiß des Polizisten den Mantel nahm und wortlos vor ihm hertrottete, wandte sie sich ab, Anja zu. Die stand halb neben, halb hinter ihr, mit aufgerissenen Augen, blaß und verängstigt.

„Komm“, sagte Cornelia und faßte Anjas Hand, „hier haben wir nichts mehr zu tun. Komm, und sei nicht so verschreckt. Es gibt halt solche Dinge in der Welt, Dinge, die man nicht ändern und nur schwer begreifen kann, auch als Erwachsener.“

„Kommt er – muß er jetzt ins Gefängnis?“ fragte Anja leise. Cornelia drückte ihre Hand warm und gut.

„Ins Gefängnis nicht. Er kommt in eine Art Krankenhaus, wo er behandelt wird, weißt du. Vielleicht ist es sein Glück, daß man ihn gefunden hat. Und du hast dich so tüchtig und tapfer benommen!“

„Hab’ ich?“ fragte Anja und sah zu ihr auf. In ihren Augen leuchtete es. Cornelia lächelte ihr zu.

„Ja, du hast. Woher wußtest du denn davon?“

Anja erzählte von dem Gespräch ihrer Eltern, das sie mit angehört hatte.

„Aber nicht an der Tür gehorcht, es war reiner Zufall“, versicherte sie. Cornelia nickte ihr zu.

„Das glaub’ ich dir. Da ist ja auch Werner. Na, Werner, warum strolchst du auch hier draußen herum, wenn drin in der Halle der Nikolaus ist?“

„Ach, ich –“ Werner war sehr verlegen. Daß er sich heute geweigert hatte zu reiten, wußte Cornelia hoffentlich nicht. „Ich wollte nur – Othello war aus dem Stall ausgerissen und lief hier draußen herum, da wollte ich ihn wieder hereinbringen.“

„Das ist recht. Sehr vernünftig“, sagte Cornelia und nahm Werners Hand.

„Jetzt aber gehen wir alle wieder zu den anderen. Vielleicht sind sie noch nicht fertig mit der Feier, und keiner hat uns vermißt.“

„Halt! Halt! Ich muß ja noch das Geschenk für den Nikolaus holen. Für den richtigen!“ Anja sauste ab, dem Stall zu. Cornelia stand, Werner an der Hand, und wartete auf sie. Jetzt erst kam das Gefühl der Erleichterung in ihr hoch, daß alles gutgegangen war, die Gefahr abgewendet, ein Unheil verhütet. Einen Augenblick lang war ihr ganz schwindlig und schwach vor Dankbarkeit und Erlösung – sie meinte, seit Jahren nicht mehr so glücklich gewesen zu sein wie in diesem Augenblick. Was hätte geschehen können, heute und weiterhin …

„Es schneit! Sehen Sie, es fängt wieder an zu schneien!“ sagte Werner in diesem Moment. Seine Stimme klang hell und froh und glücklich. „Anja, es schneit!“

„Wunderbar, nicht?“ rief Anja, den Weg herunterrennend, glitt aus und landete genau vor Cornelia und Werner auf dem Hosenboden. „Aua – lach nicht, Werner, du Ungeheuer –“

Werner lachte trotzdem weiter. Und Cornelia mußte auch lachen, es hatte zu komisch ausgesehen.

„Ärgere dich nicht, Anja, ärgern macht häßlich.“

„Und schön bist du so nicht, sonst wirst du gräßlich“, ergänzte eine fröhliche Männerstimme. Sie guckten alle drei – Onkel Kurt.

„Wo wart ihr denn? Drinnen sind sie gleich fertig mit der Bescherung“, sagte er. Anja hatte sich aufgerappelt und hielt das Paket in der Hand, das für den Nikolaus bestimmt war.

„Wenn jetzt was kaputt ist. Wenn da was Zerbrechliches drin war“, sagte sie düster.

„Wird schon nicht“, sagte Onkel Kurt tröstend, „warum soll denn was Zerbrechliches drin gewesen sein.

Heute ist doch ein Glückstag, oder nicht?“

„Wenn du wüßtest“, dachte Cornelia, aber sie sagte es nicht. Alle vier wandten sich wieder der Halle zu. Ach doch, es war ein Glückstag, dieser Nikolaustag, den sie nie vergessen würden. Gott sei Dank!

Die schönsten Pferdegeschichten

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