Читать книгу Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast - Страница 8

Ein lustiger Krankenbesuch

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Anja sprang vom Fahrrad und schob es den Fußweg hinauf; jetzt müßte eigentlich die Hausnummer kommen, die sie im Telefonbuch herausgesucht hatte. Eine lange weiße Mauer, dahinter Bäume, wie man sah, jetzt eine Haustür mit einer schmiedeeisernen Zahl darüber: 68. Und da stand auch der Name, ebenfalls in Schmiedeeisen: Hartwig. Sie war also an der richtigen Stelle.

Sie lehnte das Fahrrad an die Mauer und ging zur Tür. Jetzt müßte sie läuten – sie hob die Hand und ließ sie gleich darauf wieder sinken. Immer war das so bei ihr – wenn sie in ein Haus gehen sollte, in dem sie noch nie gewesen war, verließ sie plötzlich der Mut. Sie mußte sich ganz schrecklich überwinden, um hineinzugehen. Wenn Mutter sie schickte, gab sie sich früher oder später einen Stoß und läutete Sozusagen mit geschlossenen Augen, da mußte man eben. Wenn sie aber freiwillig irgendwohin ging, das erstemal …

Petra würde ihr bestimmt nicht aufmachen. Die lag im Bett, und das war der Grund, sie zu besuchen. Wer aber würde ihr öffnen? Petras Mutter? Woran sollte sie erkennen, ob sie das war? Oder eine von Petras Schwestern? Oder …?

Nein, sie drehte lieber wieder um. Irgendwo hier war vielleicht eine Telefonzelle, und da konnte sie anrufen und so tun, als wollte sie sich nur nach Petras Befinden erkundigen, und wenn diese dann sagte: „Kommst du nicht mal?“ Dann konnte sie antworten: „Ja, warum nicht, aber bei euch ist ja zu“, oder so ähnlich.

Sie nahm das Fahrrad wieder auf und schob es an den Rand der Straße. In diesem Augenblick bremste ein Wagen hinter ihr, und unwillkürlich drehte sie sich um. Gleich darauf waren alle ihre Sorgen vergessen.

Diesen VW kannte sie doch!

„Na, Anja, warst du bei Petra? Das ist recht, daß du dich um deine Freundin kümmerst!“ sagte Cornelia freundlich und klappte die Autotür zu. Sie trug einen weißen Mantel, aus dem am Halsausschnitt weißes, wolliges Fell hervorkam, darunter flaschengrüne Hosen, und sah darin bezaubernd aus. Anja fühlte, wie sich ihr Herz dehnte.

„Ich war noch nicht drin. Ich wollte eben wieder ausreißen“, sagte sie wie im Traum, sah Cornelia an und lachte. Immer, wenn sie mit dieser jungen Ärztin zusammen war, hatte sie das Gefühl, als müßte alles gutgehen. Alles, alles. Als könnte sie dann alles sagen, was sie bedrückte, und brauchte sich nie zu genieren, wenn sie sich dumm und falsch benahm. O Cornelia!

„Ausreißen wolltest du? So was gibt’s ja nicht“, sagte Cornelia munter und nahm ihre Hand. „Komm, wir wagen es zu zweit. Hast du geläutet?“

„Eben nicht.“ Anja lachte, Cornelia führte ihre Hand nach oben und drückte mit Anjas Zeigefinger auf den Knopf unter dem schmiedeeisernen Namen.

„Siehst du, so macht man das. Und das nächstemal kannst du es allein. Und wenn jetzt jemand kommt, da sagt man – na, wie sagt man?“

„Guten Tag, ich bin Anja und möchte Petra besuchen“, sagte Anja, und es ging ganz leicht und glatt.

„Genau. Achtung, jetzt geht’s los!“

Wirklich ging die Tür auf, und ein freundliches Mädchen sah heraus. Anja sagte ihren Spruch auf, während sie ihre Hand noch in Cornelias liegen hatte. Dann durften sie beide eintreten, und gleich darauf standen sie vor Petras Couch in einem weiten, hellen, wunderschönen Raum, dessen Wände mit Holz verkleidet waren, was das Zimmer so herrlich gemütlich machte. Anja sah sich um, unauffällig, aber genau. Die Decke war nicht glatt wie bei anderen Zimmern, sondern sie bildete einen sicherlich acht Meter hohen Giebel, der in der Mitte einen dunklen Balken hatte; ringsum an den Wänden standen Bücherregale, die so hoch hinaufreichten, daß man mit einer Leiter hinaufklettern mußte, wenn man etwas aus den obersten Reihen herausholen wollte. Die Leiter stand auch da, im selben hellen Holz. Allein die Leiter überwältigte Anja. Ja, hier gefiel es ihr. Hier würde sie auch gern im Bett liegen wollen, das Telefon neben sich, Bücher ringsum, den Fernseher in greifbarer Nähe – Anjas Eltern hatten kein Fernsehen –, und den Meisen zusehen, die sich vor dem Fenster tummelten, an aufgehängten Futterbällen pickten und in das große, flache, strohgedeckte Futterhäuschen hüpften, wieder herauskamen, wieder wegflogen und im Sturzflug zurückkamen.

„Na, du sagst ja gar nichts, Anja. Du guckst dich nur um, und das lohnt sich hier auch. Habt ihr es aber gemütlich! Weißt du, Petra, daß Anja gerade ausreißen wollte, als ich kam? Sie hatte wahrscheinlich Angst, daß ein Gespenst aus der Haustür kommen und auf sie losgehen könnte, wenn sie klingelte“, erzählte Cornelia und legte drei Apfelsinen vor Petra hin. „Ich kam gerade im letzten Augenblick, um diese Flucht zu vereiteln.“

„Das war lieb von Ihnen!“ Petra strahlte. Sie sah überhaupt nicht krank aus, war es ja auch nicht im eigentlichen Sinne. Gleich darauf ging die Tür, und Petras Mutter kam herein. Sie begrüßte Cornelia und Anja und setzte sich zu ihnen, fragte, ob Cornelia Kaffee haben wollte, und gab dann durchs Haustelefon Bescheid. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und sah gepflegt und vornehm aus. Anja war goldfroh, daß Cornelia mit war und die Unterhaltung führte.

„Ach, die Gehirnerschütterung!“ sagte Frau Hartwig und sah erst Petra und dann Cornelia an. „Sie sind Ärztin und waren dabei, habe ich gehört. Also wird es wohl alles mit rechten Dingen zugehen. Ja, ja, ich bin etwas mißtrauisch. Wissen Sie, was mir mal passiert ist? Mit meinen beiden größeren Töchtern, die auch reiten?“

„Nein. Erzählen Sie!“ bat Cornelia.

„Ja, also, die waren in den Osterferien bei Bekannten eingeladen, wo sie reiten durften – woandershin fahren meine Töchter überhaupt nicht, alle drei reiten ja – na, ich auch, ich kann eigentlich nichts dazu sagen. Nun also, am letzten Ferientag machten sie mit meiner Freundin, die sie eingeladen hatte, und deren Kindern noch einen größeren Ritt, und eine von meinen, die mittlere, schmierte ab. Nicht schlimm, halt so, wie man runtersaust; es war dunkel geworden, und sie beeilten sich heimzukommen und galoppierten einen Feldweg entlang, der weich war und sich zum Galopp anbot. Martina flog runter, war aber gleich wieder auf den Beinen, sagte, es wäre nichts passiert, und ritt noch mit heim. Am nächsten Tag kam meine Freundin, um die Mädels zu wecken; sie schliefen in einem Zelt auf der Koppel. Sie hatten sich das sehnlichst gewünscht. Meine Freundin blieb stehen, weil sie vor dem Zelt, das halb offen war, die Spur davon sah, daß jemand gebrochen hatte. Aha, also doch, dachte sie und guckte ins Zelt. Die drei Mädchen waren gerade aufgewacht. ‚Dir ist schlecht geworden, Martina? Ach du armer Kerl! Ich dachte gar nicht, daß es gestern abend ein ernstlicher Sturz war. Von nun an wird aber nur mit Sturzkappen geritten, das sage ich euch. Mit Kappe hätte es nichts geschadet. Ja, Martina, du kannst nun nicht heim, Gehirnerschütterungen muß man ausliegen. Da bleibst du noch acht Tage hier.‘

Die Mädels schrien vor Begeisterung. Martina wurde ins Haus bugsiert und ins Bett gesteckt, und einen Tag blieb sie auch darin liegen. Die nächsten Tage aber, du lieber Himmel!

,Ich habe ja selbst vier Kinder und kenne mich in manchen Dingen aus‘, schrieb mir meine Freundin damals, ‚aber so was von Temperament auf dem Krankenlager habe ich noch nie erlebt. Wie muß Martina erst sein, wenn sie gesund ist!‘

Ich fuhr natürlich sofort hin und redete Martina gut zu, still zu liegen, aber sobald wir den Rücken drehten oder das Zimmer verließen, war der Teufel los. Sie hopsten herum und trieben das Kalb aus, wir waren machtlos.“

Cornelia lachte. „Es war wahrscheinlich nur eine ganz leichte Gehirnerschütterung gewesen, meine ich, oder?“

„Überhaupt keine war es! Zwei Jahre später erfuhr ich durch Zufall, was es gewesen war. Das Häufchen vor dem Zelt stammte von einer Katze; meine Freundin hatte eine Katze, die sehr an den Kindern hing. Die muß ihnen nachspaziert sein, und da hat sie vielleicht einen Mäusebraten nicht recht vertragen und wieder von sich gegeben. Die Kinder wußten das, aber sie fanden es so herrlich, daß Martina nun noch acht Tage bleiben durfte, daß sie allesamt den Mund gehalten haben. ‚Es ist unhöflich, Erwachsenen zu widersprechen‘, sagte eine dieser freundlichen Blüten süffisant, als sie zur Rede gestellt wurde – was sollte man machen, nach zwei Jahren!“

Sie lachten alle.

„Und dann – erzähl von der Zeltlampe, Mutter!“ drängelte Petra. Frau Hartwig stand auf, gerade schob das Mädchen einen Teewagen mit Tassen und Kanne und frischen Brötchen durch die Tür. Sie nahm ihn entgegen und begann einzugießen, während sie erzählte.

„Ja, das war auch so eine Geschichte. Da waren sie bei anderen Reitbekannten, Petra und Angelika. Sie lassen sich ja mit Vorliebe dorthin einladen, wo es Pferde gibt und sie im Gelände reiten können. Bei diesen Bekannten durften sie im sogenannten Sommerstall schlafen, einem Holzgebäude, das auf einer etwas abgelegenen Weide steht. Vorn können die Pferde hinein, hinten ist Heu gelagert. In diesem Heu schliefen sie mit ihren Schlafsäcken. Das war das schönste. Dafür mußten sie Wasser tragen, die Wiese von Pferdemist säubern – der Fohlen wegen wird dort jeder Mist abgelesen – und auch sonst helfen. Das taten sie gern und ordentlich, wie mir berichtet wurde. Das war Ehrensache.

Nun haben meine Töchter außer ihrer Passion zu reiten noch eine, nämlich zu lesen. Auf deutsch, sie verschlingen alles, was ihnen an Gedrucktem vor die Augen kommt. Und einschlafen, ohne gelesen zu haben, können sie alle nicht. Ich hatte sie hingebracht und mir ihre Schlafgelegenheit angesehen, und da ich sie kenne, spendierte ich ihnen eine Lampe. Es gibt elektrische Zeltlampen mit Batterie, die man an die Decke hängt. Eine andere wäre nie in Frage gekommen, wegen des Heus. Aber ich stellte eine Bedingung: Sie durften diese Lampe nur haben, wenn sie versprachen, jeden Tag zu duschen.

Es ist nämlich leider bei uns so, daß die Kinder wahre Wasserfanatiker sind, wenn es um Schwimmen oder Bachwaten geht. Sollen sie sich aber waschen, auch nur warm in einem warmen Raum, dann tun sie, als wollte man ihnen ans Leben. Jeden Tag versuchen sie, sich darum zu drücken, und das ist ein Punkt, an dem ich keinen Spaß verstehe. Ungewaschene Leute, puh, scheußlich! Mögen sie im Dreck waten, da habe ich nichts dagegen. Aber einmal am Tag muß man sauber sein, das gehört zu den allerersten Regeln, finde ich.

Sie versprachen goldene Berge. Ich fuhr ab. Nach acht Tagen kam ich sie besuchen, und im Laufe des Tages fielen mir die Zeltlampe und meine Bedingung ein. Ich fragte meine Bekannte, ob sich die Mädels auch jeden Tag duschten.

,Nie‘, sagte sie, ‚noch kein einziges Mal. Ich habe mich schon gewundert.‘

Na, ich wurde wütend und stellte meine lieben Töchter zur Rede, sobald ich ihrer habhaft wurde.

,Ihr habt doch versprochen zu duschen. Nur deshalb hab’ ich euch die Zeltlampe spendiert‘, sagte ich, begreiflicherweise empört.

,Aber wir – wir haben doch oft gebadet. Jeden Tag – im Bach‘, versicherten sie. Ich aber war voller Zorn, mir war es auch peinlich meiner Bekannten gegenüber, und ich ging stracks zum Sommerstall und holte mir die Zeltlampe.

,So, nun könnt ihr abends nicht mehr lesen‘, sagte ich strafend. Die Mädchen standen mit eingezogenen Köpfen da und sahen mir nach. Sie wissen, ich fackele nicht lange.

Abends saß ich mit meiner Bekannten und deren Mann noch ein wenig hinter dem Haus, von wo aus man die Weide mit dem Sommerstall sehen kann. Wir unterhielten uns und tranken etwas und dachten an nichts Böses. Auf einmal sagte meine Bekannte: ‚Haben Sie den Kindern die Zeltlampe nicht weggenommen? Ich hörte doch so was. Aber da hinten ist doch Licht im Stall, sehen Sie? Oder täusche ich mich?‘

Ich guckte zum Stall hinüber. Wahrhaftig, da war Licht, nicht immerzu, aber immer wieder. Manchmal sah man es und manchmal nicht. Wir spähten alle drei aus.

,Ob sie sich eine Kerze mitgenommen haben?‘ fragte der Vater nach einer Weile. ‚Das wäre ja –‘

,Das wäre unerhört. Also das gibt’s nicht’, sagte meine Bekannte und stand auf. ‚Eine Kerze dort, wo Heu liegt –‘

Sie ging los, so schnell, daß ich kaum mitkam. Ich betete innerlich, daß nicht meine auf diese schreckliche Idee gekommen sein möchten – Heu und offenes Licht – da gibt es kein Pardon. Wir gingen immer schneller, alle drei, zuletzt liefen wir fast, denn es war ganz bestimmt Licht dort …“

„Hatten sie wirklich eine Kerze?“ fragte Anja gespannt, als Frau Hartwig eine Pause machte und Cornelia noch einmal Kaffee eingoß. „Hatten sie wirklich –“

„Nein, sie hatten keine Kerze“, sagte Petras Mutter, und ihre Augen funkelten vor Vergnügen, „wissen Sie, was sie sich ausgedacht hatten, die Schlawiner? Sie hatten eins ihrer Fahrräder mitgenommen, an dem am hinteren Rad ein Dynamo war. Dieses Fahrrad hatten sie verkehrt herum an den Eingang des Stalles gestellt, dorthin, wo kein Heu lag, auf Lenkstange und Sattel, so, wie man es macht, wenn man etwas daran repariert. Die Lampe zeigte in Richtung auf ihr Lager. Dort rekelten sich alle in ihren Schlafsäkken, die Bücher vor den Nasen, und eine von ihnen – das Los bestimmte die erste, dann ging es reihum nach der Uhr, jeder zehn Minuten lang – eine von ihnen also mußte die Pedale des Fahrrads drehen, damit die anderen Licht hatten. Es ging wirklich ganz gut, natürlich nicht so gleichmäßig wie mit der Zeltlampe, aber immerhin, Licht hatten sie.

,Die Batterie war sowieso fast aus‘, berichteten sie, ‚und hier gab es keine Batterie, die nachließ. Wir haben keine Kerze genommen. Daß man im Heu kein Streichholz anzündet, na, das wissen wir auch, wir sind ja keine Säuglinge. Und es ging ganz gut so.‘

Wir haben sehr gelacht. Der Mann meiner Bekannten sagte, die Mädels hätten eins zu null gegen uns gewonnen, und ich besorgte am nächsten Tag eine neue Batterie für die Zeltlampe und gab ihnen die wieder. Diesmal ohne Bedingungen, weil wir es genial fanden, wie die Kinder sich geholfen hatten. Und was glauben Sie, von da an duschten die Mädels, jeden Tag taten sie es, sagte meine Freundin, als ich sie abholte, gewissenhaft und pünktlich. Was sagen Sie dazu?“

„Dasselbe wie Sie: eins zu null für die Kinder“, sagte Cornelia und lachte auch. „Sich so zu helfen, alle Achtung! Ja, wo viele zusammen sind, kommt immer eins auf den richtigen Trichter. Drei Töchter haben Sie?“

„Ja. Angelika, Martina und Petra. Und einen Sohn, den Werner. Der kommt nach Petra. Als er geboren wurde, telegrafierte meine Schwester an uns: Endlich erreicht! Ich habe mich natürlich auch sehr gefreut, noch einen Sohn zu bekommen, unseren Werner, aber erfindungsreich sind Töchter auch, wie man sieht, und manchmal schwieriger als Söhne.“

Da öffnete sich die Tür, und ein Junge, etwas kleiner als Anja, erschien im Zimmer. Er sah Petra ziemlich ähnlich, hatte dasselbe emporstrudelnde Haar über der Stirn und braune Augen. Er begrüßte die Anwesenden mit einem flauen „Tag!“ und setzte sich an den Teewagen, um sich dort, stumm und ohne Pause, voll frischer Brötchen zu stopfen, bis seine Mutter „Schluß!“ sagte und den Wagen aus seiner Reichweite schob. Petra sah Werner entrüstet an.

„Du kannst auch nichts als futtern“, sagte sie und machte ein Gesicht wie Anjas Lateinlehrerin, „einmal wirst du platzen. Lieber solltest du reiten, du Angsthase!“

„Hab’ keine Angst. Hab’ bloß keine Lust“, nuschelte Werner, den Mund noch voller Brötchen, „wenn man von früh bis abends nichts anderes hört als reiten und reiten und reiten –“ Er stand auf und verließ den Raum, und man sah ihm von hinten an, was er für ein Gesicht machte.

„Ihr sollt ihn in Ruhe lassen. Er kommt schon von selbst auf den Geschmack“ ‚sagte Petras Mutter und lächelte ein wenig betrübt. „Mein Kummer ist es ja auch, daß er nicht aufs Pferd will. Und mein Mann bedauert es ebenso.“

„Wie alt ist er?“ fragte Cornelia.

„Neun. Da kann es ja noch kommen.“

„Ich hab’ von klein auf vom Reiten geträumt. Aber erst als Studentin bekam ich Gelegenheit dazu. Und Sie, Sie reiten auch? Ich hab’ Sie noch nie im Verein getroffen.“

„Wir reiten immer früh, mein Mann und ich. Mein Mann ist von der Firma sehr eingespannt, da geht es nicht anders als morgens um sechs. Sie kennen unsere Pferde sicher, oder? Ja, sie stehen im Vereinsstall, rechts vorn, in Laufboxen. Lady und Rumpel, die Namen passen wahrhaftig nicht zueinander, aber wäre Rumpel männlichen Geschlechts, so hätten wir sie wahrscheinlich in Lord umgetauft. Aber es sind zwei Stuten.“

Sie mündeten in ein Gespräch über Pferde, bei dem Anja und Petra schweigend und aufmerksam zuhörten. Petras Mutter hatte früher Remonten zugeritten, verstand also wirklich etwas vom Thema. Kein Wunder, daß die Töchter so passioniert waren.

Als Anja heimradelte, war sie tief in Gedanken. So eine Mutter müßte man haben! So ein Zuhause. Sie hatte sich gut umgesehen: Überall hingen Pferdebilder, überall standen Pferdebücher. Ein Schrank stand voller Preise – Pokale, Teller aus Silber, eingravierte Daten. Der Garten, der ums Haus lag, war geradezu ein Park. Und Frau Hartwig! Schön und schlank gewachsen und gepflegt und trotzdem nicht „feun“, wie Anja Leute nannte, die sich Schmuck umhängten und nirgends hinfassen mochten, wo sie sich vielleicht ein wenig schmutzig machen konnten. Ja, wenn Mütter reiten … Anja dachte an ihre eigene, die rotbackig und rundlich war, den ganzen Tag mit Wickelschürzen herumlief, mit weißen, wenn sie die Jungen versorgte, sonst mit bunten, hübsch und appetitlich, das schon, aber …

Die sich gar nicht dafür interessierte, wenn man von Pferden erzählen wollte, die verstrubbelte Haare hatte und sich einfach ein Kopftuch darüber knüpfte, weil sie es selbst nicht mehr mit ansehen konnte …

Freilich, keiner will seine Mutter tauschen. Aber ein bißchen ändern könnte sich ihre Mutter schon, dachte Anja rebellisch, nicht nur das Muttertier für die beiden kleinen Jungen sein, die sie von morgens bis abends versorgte, fütterte, badete, schlafen legte oder herausnahm – etwas anderes tat sie eigentlich nicht mehr, so schien es Anja. Die beiden Kerlchen waren süß, zugegeben, aber es gab ja auch noch andere Dinge auf der Welt.

Und Werner, dieser Dummkopf! Könnte dreimal die Woche reiten – Petra ritt dreimal, wenn es mit der Schule einigermaßen paßte – und mochte nicht! So dumm, so unverständlich dumm! Wenn sie an seiner Stelle wäre, sie wüßte, was sie täte! Sogar eigene Pferde hatten Hartwigs, und –

„Na, Anja, du kommst ja so verträumt daher ‚daß du nicht mal deinen Vater erkennst!“ hörte sie es sagen – sie war eben in ihre Straße eingebogen.

„Ach, Vater, du! Ich war bei Petra, weißt du, die aus dem Reitverein, die die Gehirnerschütterung hat. Ja, es geht ihr gut, nur aufstehen darf sie noch nicht.“

„Hauptsache, es ist nichts Schlimmes. Komm, ich trag’ dir das Rad in den Keller – lauf zu Mutter, sie ruft.“

Anja hatte es schon gehört.

„Anja – endlich! Ich hab’ den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Wo warst du denn wieder, natürlich im Reitverein, oder?“

„Nein. Ich soll ja nicht.“ Anjas Stimme klang jetzt anders als vorhin, da sie mit Vater gesprochen hatte. Wütend, verbockt …

Es wurde kein schönes Heimkommen.

„Mit Anja ist wirklich nichts anzufangen, ich komm’ mit ihr in letzter Zeit überhaupt nicht zurecht“, klagte Mutter am Abend. „Den ganzen Nachmittag läßt man sie laufen, wohin sie will, und wenn sie dann endlich kommt, ist sie bockig und unfreundlich.“

„Zu mir war sie freundlich. Sie hat eine Freundin besucht, die im Bett liegt“, sagte Vater vorsichtig. „Daß es eine aus dem Reitverein ist, sag’ ich jetzt besser nicht“, dachte er und schwieg. Aber es nutzte nichts.

„Ja, Petra wahrscheinlich. Es ist ja nett von ihr ‚sich um sie zu kümmern, aber den ganzen geschlagenen Nachmittag dort zu hocken, ohne daß sie vorher sagt, wohin sie geht … ich habe mich gesorgt! Ach ja, mit ihr ist es zur Zeit wirklich schwierig.“

Vater schwieg. Er mochte seine neue Tochter ausgesprochen gern, wünschte sich sehr‚ ein gutes Verhältnis zu ihr zu bekommen. Das aber mußte man behutsam anfangen. Und daß seine Frau so gar kein gutes Haar an dem Kind ließ, machte ihn doch nachdenklich.

So, wie sie es sagte, war es sicherlich auch nicht. Aber Anja wurde meistens sofort unzugänglich und patzig, wenn ihre Mutter etwas von ihr wollte. Mit Vorwürfen aber änderte man da nichts.

Er unterrichtete Kinder im Alter von Anja, und da erlebte er oft, sehr oft, daß Mütter kamen und behaupteten, mit ihren Töchtern wäre überhaupt nicht auszukommen; er aber fand in der Schule, daß es nette und aufgeschlossene und gescheite Schülerinnen waren.

„Abwarten“, sagte er. Aber Abwarten war nicht so leicht, wenn man das Temperament von Anjas Mutter besaß …

Die schönsten Pferdegeschichten

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