Читать книгу Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast - Страница 20

Ein schöner Silvestertag …

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„Na, was gibt’s denn?“ fragte Dagmar in harmlosem Ton und versteckte ein Lächeln. Anja kam die Leiter zum Heuboden so langsam herauf wie ihre eigene Großmutter. Dann setzte sie sich seitlich auf den Rand der Luke und versuchte, die Beine übereinanderzuschlagen.

„Oooooch“, stöhnte sie als einzige Antwort.

„Müde?“ fragte Dagmar hinterhältig.

„Auch. Aber –“, wieder ein Stöhnen. Dagmar platzte heraus.

„Entschuldige, wenn ich lache. Ich wußte, was kommt. Weißt du, was du hast? Muskelkater. Reitfieber. Das mußte ja kommen. Wenn man das erste Mal ein ordentliches Stück geritten ist, ohne es gewöhnt zu sein, und hinterher nicht sofort in die heiße Wanne oder wenigstens unter eine warme Dusche geht, kann man am anderen Tag nicht leben und nicht sterben. Gestern abend hab’ ich mit keinem Gedanken dran gedacht. Du warst mit uns geritten, als rittest du schon lange. Später, wenn man es gewöhnt ist, merkt man überhaupt nichts mehr. Oder hast du etwa Muskelkater, Petra?“ rief sie über Anja weg in den Stall hinunter, wo man Schritte kommen hörte.

„Dankeschön, keine Spur. Auch früher hatte ich nie welchen. Jedenfalls kann ich mich nicht besinnen. Aber andere schon. Wir hatten mal Besuch, der durchaus reiten wollte, eine Kusine aus dem Rheinland. Meine Mutter fragte, ob sie Stunden hätte, und diese Base sagte, sie ritte zweimal die Woche. Na, da nahmen wir sie halt mit. Aber so nach zwei, drei Stunden sagte sie überhaupt nichts mehr, und als wir einmal Schritt ritten, stieg sie ab und meinte, sie wollte lieber führen …“ Petra lachte aus vollem Hals. „Die beiden Stunden wöchentlich waren gelogen, sie hatte seit Urzeiten nicht mehr auf einem Pferd gesessen.“

„Ja, ja. Lügen haben kurze Beine. Und wenn wir gefüttert haben, gehst du auch heute noch ins heiße Bad, Anja, damit der Muskelkater etwas eher weggeht, hörst du? Wir wollen doch nachmittags wieder reiten.“

„O ja! Aber erst – uuuuah – soll ich die Netze stopfen?“ fragte Anja todesmutig, aber mit verzerrtem Gesicht. Die beiden anderen mußten bei allem Mitgefühl wieder lachen.

„Ja, los. Je eher wir fertig sind, desto besser. Zu dritt geht alles schneller.“

Nach dem Füttern verschwand Anja und kam erst wieder zutage, als die anderen schon kräftig beim Frühstücken waren – hochrot vom heißen Wasser und mit nassen Haaren. „Besser?“ fragte Dagmar und goß ihr ein.

„Gut“, sagte Anja tapfer, wenn auch nicht wahrheitsgemäß. „Ich kann heut nachmittag bestimmt wieder mit. Und einen Hunger hab’ ich! Bitte frühstückt noch eine Weile, damit ich euch einholen kann.“

„Heute ist Silvester“, sagte Dagmar und schob ihr die Marmelade hin, „da bleiben wir wach und feiern. Was wollen wir trinken?“

„Jedenfalls lieber keinen Punsch, wie ihn die Erwachsenen gut finden. Die haben einen Geschmack –“ Anja schüttelte den Kopf. „Jedenfalls meine Eltern. Sogar in den Obstsalat tun sie was, was bitter schmeckt. Danke, ohne mich. Apfelsinensaft oder so was schmeckt viel besser, auch heiß, aber nicht mit so was verdorben, bei dem die Großen die Augen verdrehen.“

„Schön, keinen Punsch. Wie wär’ es mit Eis?“ fragte Petra mit glitzernden Augen. „Eis zum Sattessen, das kriegt man sonst nie.“

„Eis zu Silvester? Etwas kalt für die Jahreszeit“, sagte Dagmar nachdenklich, „aber warum nicht. Ich könnte auch einen Apfelstrudel backen.“

„Apfelstrudel ist immer gut, heiß mit kalter Schlagsahne! Hmm! Vielleicht aber hinterher doch noch Eis?“

Sie einigten sich auf diese Speisefolge, und Dagmar begann, auf einem Zettel zu notieren, was sie alles kaufen mußten. Es wurde eine lange Liste. „Morgen ist schließlich Feiertag, und da sind die Läden zu, das müssen wir einkalkulieren.“

„Die Läden! Es gibt ja nur einen einzigen in eurer Metropole“, sagte Petra, „das ist ja das praktische. Dort kriegt man alles. – Und das willst du alles schleppen?“ fragte sie bedenklich, als Dagmar noch immer notierte.

„Ich denke ja nicht dran. Wißt ihr, was wir machen? Wir spannen Brumme vor den Rodelschlitten, und auf den Schlitten stellen wir den Wäschekorb. Da kommen die Einkäufe hinein. Wollen wir? Das mach’ ich immer so, wenn Schnee ist und Mutter mich einkaufen schickt.“

„Richtig, Schnee! Ist noch welcher dazugekommen?“ Petra war schon am Fenster. „Und wieviel! Herrlich! Aber Brumme ist schon eine alte Dame …“

„Einen Schlitten mit Einkäufen kann sie immer noch ziehen, das wirst du erleben“, sagte Dagmar. „Sie sieht halt nur ein bißchen schlecht. Wir führen sie. Sie ist immer sehr begeistert, wenn sie mitdarf.“

Nun war es vorbei mit dem Frühstückshunger. Petra rannte, um den Schlitten zu holen, und Dagmar ging in die Sattelkammer und suchte nach dem Hundegeschirr. Schließlich fand sie es. Es war ein selbstgebasteltes Brustblatt mit kleinem Kammdeckel und dazugehörigem Bauchgurt, daran lederne Zugstränge. Sehr einfach, aber ausreichend.

„Früher hat Brumme uns gezogen, aber wie! Wie eine Wilde! Man kann einem Hund ja keinen Zügel anlegen, sondern muß ihn mit der Gerte lenken, wenn man selbst fährt. Das haben wir im Fernsehen bei Eskimos gesehen, nur daß es da nicht ein Hund ist, sondern viele. Brumme ging immer los wie das Donnerwetter, und weil der Schlitten keine Deichseln hat, muß man aufpassen, daß es glatt ist oder bergab geht. Aber jetzt, wenn wir sie führen, kann nichts passieren. Komm, hier, trag das.“ Sie legte Anja das ganze Lederzeug in den Arm. „Ich hol’ inzwischen den Korb.“

Das ganze Dorf war verändert. Dikke Schneelasten auf Dächern und Zäunen, überall schippten die Leute die Gehsteige frei.

„Das müssen wir auch noch tun“, sagte Dagmar, „wir sind ja jetzt Hausherren und verantwortlich“, und sie versuchte, ein würdiges Gesicht zu machen.

Wenige Autos waren unterwegs; sie hatten rüttelnde Schneeketten angelegt. „Vielleicht können wir welche mit den Pferden aus dem Schnee ziehen, das hab’ ich schon gemacht“, erzählte Dagmar. „Da kriegt man Trinkgeld. Hoffen wir das Beste.“

Vor dem Geschäft, in dem Anja gestern ihr Tagebuch gekauft hatte, befahl Dagmar: „Sitz!“, und Brumme ließ sich gehorsam nieder. Sie nahmen den Korb und gingen in den Laden. Und nun wurde eingekauft, daß es eine Freude war.

„Ja, Schlagsahne, das haben wir doch ausgemacht, die brauchen wir zum Apfelstrudel und zum Eis. Mutter sagt, Schlagsahne muß man über die Feiertage immer auf Vorrat haben, es kann ja Besuch kommen.“

„Na, hoffentlich nicht“, sagte Petra menschenfreundlich und verstaute ein paar Büchsen Hundefutter zwischen den Apfelsinen, „lieber mehr für die Tiere als für Besuch. So, reicht das bis nächstes Jahr? Oder wollen wir noch mehr nehmen?“

„Ich glaube schon, daß es reicht. Ja, ein Bündel Mohrrüben kannst du noch dazutun, Anja, heute nacht bekommen die Pferde welche, wir gehen doch zu ihnen, wenn es zwölf ist. Auch noch Äpfel, ja, dort die dicken roten. Und –“

Als sie aus dem Laden kamen, den vollen Korb zwischen sich, war Brumme samt Schlitten verschwunden. Sie guckten alle auf die Stelle hin, auf der sie gelegen hatte, und dann einander an.

„Na so was! Nun aber los, Herrschaften! Hinterher!“

Petra war schon mit ihrem bekannten Blitzstart losgefegt, Dagmar und Anja folgten langsamer, weil sie den Korb zwischen sich trugen. Trotzdem beeilten sie sich, so sehr sie konnten. Anja rutschte einmal aus und setzte sich auf den Hosenboden, und Äpfel und Apfelsinen kullerten durch den Schnee. Sie sammelten in Eile alles auf und gingen nun vorsichtiger.

„Es hat keinen Zweck zu rennen, wir holen sie sowieso nicht ein, und wohin soll sie denn gelaufen sein, wenn nicht nach Hause“, sagte Dagmar atemlos.

So war es auch. Zu Hause vor der Tür hockte Brumme. Sie war ganz verwickelt in die Zugstränge, und Petra kniete neben ihr und versuchte sie zu befreien. Dagmar und Anja setzten aufatmend den Korb ab.

„So. Das war eine schöne Kraftersparnis“, seufzte Dagmar, „ein kleiner Silvesterscherz von Brumme. Eigentlich hätte ich ja mehr Einsicht von dir erwartet, Alte, du siehst doch, daß wir uns halb tot geschleppt haben.“

Brumme, jetzt vom Geschirr befreit, wedelte heftig und raste dann laut bellend ins Haus, als Dagmar die Tür aufgemacht hatte. Sie sprang die Treppe hinauf und bellte oben, dann kam sie wieder heruntergerast, wobei sie Anja, die gerade hinaufwollte, beinahe mitnahm. Anja konnte sich noch nach der Seite biegen und am Strick festklammern. Eine Dogge, die auf einen springt, hat eine ganz schöne Wucht.

„Was ist nur in sie gefahren, sie wird ja geradezu wieder jung“, sagte Dagmar kopfschüttelnd und zerrte den Korb in die Küche. „Wir müssen alles einräumen, vor allem das, was in den Kühlschrank gehört. Wenn man Hunde hat, darf nichts herumstehen. Zessi ist auch noch jung und sehr vernascht, sie macht alle Pakete auf, die herumliegen. Und dann gehen wir Straßenfegen. Oder fangt ihr schon an?“

Der Vormittag war schon weit fortgeschritten, und sie beschlossen, nachher gleich zu reiten.

„Mittagessen kann man das ganze Jahr über“, sagte Dagmar, „aber jetzt, wo die Tage so kurz sind, muß man die Zeit zusammennehmen. Willst du wieder Lotte, oder versuchst du mal Ströppchen, Anja?“

„Lotte“, schrie Anja, „und den Westernsattel –“ Sie war schon vorangelaufen, den Besen in der Hand. Petra folgte mit dem anderen. Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien.

Dagmar beeilte sich in der Küche und kam Anja und Petra nach.

„Es reicht, morgen fegen wir wieder“, sagte sie, „wir wollen lieber satteln. Das alte Jahr trabt uns sonst davon.“

Heute hatten sie kein direktes Ziel, und so lenkte Dagmar zum Wald hinüber. Dort zu reiten war bei solchem Wetter ein besonderes Ereignis. Noch keine Spur war zu sehen, weder von einem Menschen noch von einem Fahrzeug, nicht mal von einem Tier, denn alles schneite ja sofort wieder zu. Ganz, ganz weiß und unberührt waren die Wege, und weil nicht der geringste Wind ging, lag der Schnee auf Ästen und Ästchen, ja sogar auf den Dolden der Schafgarben und auf Schlehen- und Hagebuttengesträuch. Der Waldrand sah geradezu zauberhaft aus.

„Das ist etwas sehr Seltenes“, sagte Dagmar. „Wir hatten in den letzten Wintern fast gar keinen Schnee. Am Heiligen Abend war dies Jahr etwas gefallen, immer wünscht man sich da ja welchen, und diesmal gab sich der Petrus Mühe. Es war nicht viel, aber es sah doch weihnachtlich aus, und dann kommt man in die richtige Weihnachtsstimmung. Zu Silvester gehört eigentlich auch Schnee, finde ich. Wir gehen heute in die Kirche, um fünf, wollen wir? Unser Pfarrer ist jung und denkt sich immer etwas Besonderes aus. Aber allein schon durch das verschneite Dorf zu gehen und die goldenen Kirchenfenster im Dämmern leuchten zu sehen und die Orgel zu hören, lauter, wenn jemand die schwere alte. Tür aufschiebt, und dann wieder leiser, wenn sie zugeht, das ist so schön …“

Sie ritten Schritt, einerseits, um sich unterhalten zu können, andererseits aber auch, um „nichts kaputtzumachen“, wie Petra sagte. Einmal sprangen drei Rehe vor ihnen ab, grazil und leicht, quer über den Weg – danach weigerte sich Pußta weiterzugehen; sie dachte vielleicht, der Weg sei jetzt verzaubert. Petra versuchte sie weiterzutreiben, aber Pußta schnaubte und stieg und war nicht zu bewegen.

„Wir reiten voran, Anja und ich, da wird sie schon nachkommen. Pferde kleben ja bekanntlich aneinander. Sie sollen es eigentlich nicht, aber sie sind nun einmal Herdentiere. Wir versuchen es. Komm, Anja!“

Sie ritt vorwärts, und Lotte folgte. Aber Pußta dachte nicht daran nachzukommen.

Petra saß ab und versuchte, sie zu führen. Auch dazu war Pußta nicht zu bewegen. Sie stemmte die Vorderfüße in den Schnee und schnaubte und ließ sich keinen Zentimeter vorwärtszerren.

Dagmar und Anja kehrten wieder um.

„Laß mich mal versuchen“, sagte Dagmar, stieg ab und nahm Pußta am Zügel.

„Komm, komm, es ist ja nichts Schlimmes“, sprach sie ihr zu, „es waren doch bloß Rehe. Komm.“

Aber auch ihr gelang es nicht. Schließlich meinte sie, es wäre doch vielleicht klüger, umzukehren und einen anderen Weg zu reiten.

„Vielleicht sitzt irgendwo ein Fuchs oder ein Dachs, und sie wittert ihn und fürchtet sich zu Recht. Mit Gewalt möchte ich es nicht durchsetzen“, sagte sie. „Natürlich soll ein Pferd wissen, daß es gehorchen muß, manchmal aber ist es klüger als der Reiter. Lassen wir es lieber.“

„Gibt es hier denn noch Dachse?“ fragte Anja mit großen Augen. „Wie sehen die denn aus?“

„Schwarzweiß, und sie sind etwa so groß wie ein ausgewachsener Fuchs, etwas größer vielleicht“, erklärte Dagmar. „Ich bin mal einem begegnet. Da war ich – na, wartet mal, höchstens acht. Ich fuhr mit dem Fahrrad den Waldrand entlang, wollte Schlehen pflücken, war ganz allein. Und da saß einer mitten auf dem Weg. Ich war gerade abgestiegen und hatte immerzu nach rechts geguckt, wo die Schlehenbüsche stehen. Dann aber guckte ich nach vorn, und da saß er.“

„Und, was dann?“ fragte Anja gespannt.

„Ja, da wurde mir doch ein bißchen bange zumute. Ich wußte ja nicht, ob Dachse einen annehmen – das heißt, auf einen losgehen. Und da war ich froh, das Fahrrad dabeizuhaben, nicht um auszureißen – denn dazu war ich viel zu neugierig, das könnt ihr euch denken –, sondern um etwas zwischen ihm und mir zu haben. Ich wollte ihn genau angucken – denkt nur, einen Dachs in freier Wildbahn zu treffen, das haben viele alte Förster noch nicht erlebt. So schob ich das Rad ganz langsam auf ihn zu, aber so, daß es zwischen ihm und mir war, und guckte ihn mir ganz genau an. Dann machte er sich davon, nicht sehr schnell, mehr trottelnd. Zu Hause hab’ ich sofort in meinem Zoo-Buch nachgesehen, ob es wirklich einer gewesen sein kann. Es war einer, genau wie auf der Abbildung. Ich war vielleicht stolz, das erzählen zu können!“

„Sind Dachse so selten?“ fragte Petra. „Ich möchte auch mal einen treffen. Hallo, Dächslein, wo steckt ihr? Kommt, wir tun euch nichts!“

Die anderen lachten.

„So kriegst du keinen zu Gesicht!“

„Kann ich mir denken. Aber wie?“

„Ja, da müssen wir leiser sein. Ganz still, kein Wort. Wenn man Wild sehen will, muß man den Mund halten.“

„Aber die Pferde! Man hört sie doch trappsen!“

„Eben nicht. Vor dem Trappsen unbeschlagener Hufe fürchtet sich das Wild so gut wie überhaupt nicht. Man sieht, wenn man zu Pferde ist, viel mehr Wild als zu Fuß. Im Schnee schon gar. Morgen können wir ja mal einen Schweigeritt machen, wenn ihr es fertigbringt.“

Sie galoppierten dann noch ein Stück, und diesmal hatte Anja fast gar keine Befürchtungen mehr. Sie genoß es, sich vorwärts wiegen zu lassen; nur eins hätte sie sich gewünscht: daß sie sich verirrten. Es wäre doch zu schön, später erzählen zu können, daß sie sich bei einem weiten Silvesterritt im Schnee verirrt und nur mit Mühe nach Stunden heimgefunden hätten. Das aber genierte sie sich auszusprechen, bis Petra plötzlich sagte: „Ach ja, da ist also Hinterhopfingen wieder zu sehen. Und ich hatte so sehr gehofft, daß wir uns verirrt hätten.“

„Ich auch!“ gluckste Anja, und nun lachten sie alle drei. Dagmar schüttelte den Kopf.

„Wenn wir selbst nicht heimfänden, die Pferde würden es. Sie finden von überall her nach Hause.“

Und das war anderseits auch gut, fanden Petra und Anja. Auf jeden Fall war es ein wunderbarer Silvesterritt.

Die schönsten Pferdegeschichten

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