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„Mein erster Ausritt“

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Eigentlich kam Anja erst richtig zu sich, als sie das Dorf schon hinter sich gelassen hatten und einem Feldweg folgten, der leicht bergan führte. Sie ritten im Schritt. Dagmar hatte den Zügel von Lotte in der rechten Hand, und Lotte ging brav neben Ströppchen her. Anja rückte sich zurecht; der Sattel war wirklich sehr tief, man fühlte sich darin irgendwie geborgen und sicher.

„Ich hab’ lieber Ströppchen genommen, weil er sich mit Lotte verträgt. Bei Pußta ist das nicht so sicher“, sagte Dagmar. Petra folgte mit Pußta. Die warf mit dem Kopf und versuchte, an Ströppchen vorbeizukommen und schneller zu werden. Dagmar sah kurz zu ihr hin.

„Laß die Unterschenkel ein bißchen weg, Pußta ist kitzlig“, sagte sie, „aber du, Anja, kannst sie anlegen. Versuch, die Knie dicht am Pferd zu halten, Lotte ist das nämlich gewöhnt.“

„Und Pußta nicht? Ich merk’s“, sagte Petra vergnügt. „Ola, ola, meine Gute –“ Pußta hatte einen Satz gemacht. Petra sprach beruhigend auf sie ein. „Immer dasselbe, was ein Pferd für Macken hat, wird einem immer erst gesagt, wenn man drauf sitzt. Warum eigentlich nicht vorher?“

„Macke! Daß sie ein bißchen kitzlig ist, ist ja noch keine Macke“, sagte Dagmar friedlich. „Und Lotte hat überhaupt keine Macken, höchstens, wie gesagt, vorm Wagen. Beim Reiten geht sie nicht durch. Hier, du kannst die Zügel selbst haben, Anja, du siehst ja, sie bleibt neben mir. Nimm sie auf, so, wie ich sie halte – Fäuste aufrecht, ja, gut so. Und aufrecht sitzen, aber kein hohles Kreuz machen. Komm neben uns, Petra, dann geht die Pußta auch wie eine Eins. Traben können wir später. So, auf meine linke Seite, mit der Lotte ist sie manchmal etwas giftig.“

„Wieder was, was man vorher nicht erfuhr“, sagte Petra, gehorchte und kam an Dagmars Seite. „Nun sag nur noch, daß sie sich im Galopp aufs Gebiß legt.“

„Wir galoppieren ja noch gar nicht“, sagte Dagmar vergnügt, „nein, jetzt wird erst Schritt geritten. Wie fühlst du dich, Anja? Gut, was?“

„Wunderbar“, seufzte Anja. Es war die Wahrheit. Sie holte tief Atem und sah nach vorn: „Ich reite!“

„Der Kopf sei der höchste Punkt des Reiters, die Schultern sollen ein wenig zusammengenommen werden, kein Hohlkreuz bitte, das Gesäß im Sattel vorschieben, die Oberschenkel angesaugt, die Unterschenkel nur ganz leicht am Pferd, so daß ein Seidenpapier dazwischen nicht zerknittert würde – die Hacken nach unten gedrückt und die Fußspitzen in Richtung des Pferdekörpers angehoben, Arme leicht gewinkelt und Fäuste aufrecht – locker und ungezwungen bleiben“, betete Petra halblaut vor sich hin. „Das letzte finde ich immer als Höhepunkt. Für alles, für jedes einzelne Fingerglied gibt es Vorschriften, und dann wird verlangt, daß man ganz natürlich und ungezwungen sitzen soll …“

„Ja. Später ist einem das alles ganz selbstverständlich“, sagte Dagmar. „Anfangs klingt es unmöglich. So, und jetzt traben wir an. Keine Sorge, Anja, Lotte wirft so gut wie überhaupt nicht, sie geht so weich, daß man denkt, sie läuft auf Daunen.“

Anja konnte das nicht finden. Lotte hatte sich gehorsam in Trab gesetzt, und das war wahrhaftig etwas anderes als vorhin der Schritt. Vielleicht war Lottes Trab gegen den anderer Pferde wirklich weich, Anja aber hatte das Gefühl, als hopste sie auf und ab, fiel einmal rechts und dann wieder auf der anderen Seite aufs Pferd zurück, wurde geschüttelt und geworfen …

Ein Glück, daß sie sich am Horn festhalten konnte. Sie tat es, und als Dagmar dann auch noch zu ihr herüberschauend: „Gut so, sehr gut“, sagte, kam sie langsam wieder zu Atem.

„Mach die Beine lang, so lang es geht“, sagte Dagmar, „ja, so sitzt man sicherer. Wie eine Kneifzange. Sobald du dich nach vorn beugst, rollst du seitlich ab. Schön aufrecht!“

Wahrhaftig, Anja merkte es. Und dann hieß es zum großen Glück wieder: „Schritt!“, und man konnte aufatmen.

Petra kämpfte ein wenig mit ihrem Pferd, das den Kopf warf und mit dem Schweif schlug.

„Gib acht, daß du mit dem Zügel kein Mähnenhaar erwischst, das mag sie nicht“, rief Dagmar zu ihr hinüber, „dann schüttelt sie. Na, du wirst dich wohl nicht mehr an der Mähne halten müssen, nicht wahr!?“

„Nein, aber aus Versehen kriegt man manchmal eins zu fassen“, sagte Petra und bekam ihre Stute endlich in Schritt, versuchte, sie wieder an Ströppchens Seite zu bugsieren. „Das kommt bloß von den Handschuhen. Kannst du sie nehmen?“ Sie hatte sie mit den Zähnen abgezerrt und reichte sie Dagmar hinüber. Die nahm sie ihr ab und stopfte sie in die Jackentasche. „Aber frieren wirst du jetzt.“

„Na, wenn schon. So, so, Pußta, jetzt geht‘s besser, nicht wahr?“

Während die beiden miteinander beschäftigt waren, versuchte Anja zu begreifen, daß endlich wahr geworden war, was sie seit Monaten ersehnte: Sie ritt! Sie ritt wirklich, saß nicht nur auf einem Pferd, das jemand führte, sondern ritt neben anderen aus, die Zügel selbst in der Hand. Weit lag das Land vor ihr, ein wenig wellig, nicht bergig, sondern sanft auf und ab schwingend. Und jetzt – es war, als sollte das Glück vollkommen werden – begann es ganz, ganz sachte zu schneien. Erst waren es nur ein paar winzige Flöckchen, die herabtaumelten, hier eins und dort eins, dann aber besann sich der Himmel und öffnete sich. Petra behauptete, sie wäre schon ganz weiß vorn. „Hier, mein Anorak, seht ihr?“ Dagmar lachte sie aus. „Denkst du, bei uns ist es anders? Ich hab’ den Schnee doch bestellt, extra für euch. Da will ich auch was davon abkriegen!“

Als sie eine kleine Steigung hinter sich hatten, sahen sie das Dorf, zu dem sie reiten wollten.

Die Mühle war allerdings noch nicht auszumachen, sie lag im Tal.

„Es ist eine Wassermühle, keine Windmühle“, erzählte Dagmar, „und sie wird seit einigen Jahren elektrisch betrieben. Aber es spukt noch immer dort. In Mühlen spukt es ja oft. Das Rad ist noch zu sehen, ich zeig’ es euch.“

„Spukt es wirklich?“ fragte Anja, als Dagmar einen Augenblick schwieg. Sie hatte das so erzählt wie alles andere, sachlich und ruhig, so, wie wenn man sagt: Es ist kalt heute. Spuk – den gab es doch nicht!

„Doch, ja, irgendein alter Müller geht da um. Aber nicht am Tag. So, nun können wir noch mal traben und dann ein Stück galoppieren, damit Anja weiß, wie das ist. Wenn sie hinterher absteigt und zum Nachhauseritt wieder aufsitzt, ist sie schon ganz zu Hause auf dem Pferd. Also – Terrab – so –“, die Pferde gehorchten, „und jetzt – Galopp marsch!“

Anja hatte es oft gehört und nie geglaubt, aber es stimmte: Galopp ist die leichteste Gangart. Wenn man beim Trab von rechts nach links geschüttelt wird, wiegt man dagegen im Galopp gleichmäßig vorwärts. Der Galopp wiegt einen; jedenfalls tat er es bei Lotte, sanft und gleichmäßig.

„Na?“ fragte Dagmar, als sie am Ende des Feldwegs, der hier in eine größere Straße einmündete, wieder in Schritt gefallen waren.

„Wunderbar“, seufzte Anja, und im gleichen Augenblick quiekte sie auf, erschrocken und unkontrolliert. Ein paar Schritte vor ihr, links von Ströppchen, war Petra von ihrer Stute geschossen, die aus einem unerfindlichen Grund plötzlich gestoppt hatte. Sich in der Luft zusammenkugelnd, überschlug sich Petra und landete in einem Haufen Gestrüpp, das hier am Wege stand. Anja war furchtbar erschrokken.

Dagmar nicht. Sie hatte ihren Ströppchen sofort neben Pußta gedrängt und erwischte deren Zügel.

„Hast du dir weh getan?“ rief sie zu Petra hinüber.

Die stand aber schon wieder auf den Beinen. „I wo. So steig’ ich immer ab“, behauptete sie und lief zu ihrem Pferd hin. „Danke. Aber wenn du wieder mal so plötzlich stoppst, geliebte Pußta, sag es vorher!“ Schon war sie wieder oben.

Sie ritten dann das letzte Stück im Schritt, hier war die Straße hart. Als sie an der Mühle angekommen waren, sprang Dagmar ab, hielt Lotte, damit Anja absitzen konnte, und führte die Pferde in den Hof. Die Frau des Müllers kam ihnen entgegen und begrüßte sie freundlich. Sie durften die Pferde einstellen – die Mühle hatte noch einen richtigen Stall dabei –, absatteln und anbinden. Jedes bekam einen Armvoll Heu vor die Nase gelegt, und sogleich fingen sie an zu fressen. Dagmar zeigte Anja, wie man den Sattel aufhängt, und dann drängten sie alle hinüber ins Haus, in die Küche, ins Warme.

„Ich bin gerade beim Backen“, sagte die Müllersfrau. „Ihr kommt genau richtig.“

Sie zog soeben ein Blech mit Hefegebäck aus dem Ofen. Es roch süß und gut, nach Zimt und zerlassener Butter. „Setzt euch, ihr bekommt gleich etwas Warmes zu trinken.“

„Danke. Ach, wunderbar!“ Es tat unbeschreiblich wohl, die Anoraks auszuziehen und sich zu strecken – irgendwie muß man nach dem Reiten ja wieder stehen, laufen und sitzen lernen – so jedenfalls empfindet es der Anfänger. Alle Muskeln sind anders beansprucht worden als gewöhnlich, und ein bißchen spürt man auch die Knochen, von denen man sonst keine Ahnung hat, daß sie überhaupt vorhanden sind. Nirgends aber konnte einem wohler sein als in dieser süß duftenden Mühlenküche, meinte Anja, und die anderen schienen es genauso zu fühlen.

Die Müllerin goß ihnen heiße Milch ein und rührte Honig dazu. Anja merkte erst jetzt, wie ausgekühlt sie war. Vor allem spannte die Haut im Gesicht, aber der warme Trunk wirkte Wunder. Petra hatte sofort – woher, wußte der Himmel – eine Katze auf dem Schoß, mit der sie schmuste, und Dagmar unterhielt sich mit der Müllersfrau, bestellte, was sie bestellen wollte, und bekam eine freundliche Zusage. Anja machte Dagmar heimliche Zeichen. ‚Frag nach dem Spuk!‘ sollte das heißen, und als die Frau einmal kurz hinausging, erinnerte sie Dagmar noch einmal rasch und dringend daran.

„Ja, ja“, verhieß diese, und als die Müllersfrau wieder hereinkam, tat sie es auch, unbefangen und selbstverständlich.

„Ja, er war mal wieder zugange, der Alte“, sagte die Müllerin. „Ich traf ihn draußen am Brunnen. Wir haben doch noch einen richtigen Brunnen im Hof, obwohl natürlich längst eine Wasserleitung im Haus liegt. Aber der Brunnen ist so hübsch, wir lieben ihn sehr, und außerdem ist er eine Sicherheit mehr, wenn das Wasser mal abgestellt ist. Ihr könnt nachher die Pferde noch mal ranführen, Brunnenwasser ist gesünder als anderes. Nun, da stand er und machte mir ein Zeichen, ich sollte aufpassen, daß der Brunnen nicht einfriert. Wir bekommen Kälte, meine ich – mir ist so.“

„Hat er – hat der alte Müller das gesagt?“ fragte Anja scheu, aber doch begierig, etwas davon zu hören. „Und wie sah er aus?“

„Gesagt hat er nichts, aber ich verstand schon, was er meinte“, sagte die Frau freundlich. „Komm, Dagmar, streich mir flink den Kuchen, da liegt der Pinsel. – Und wie er aussah? Halt wie ein Müller, hell angezogen, ich sah ihn nur einen Augenblick lang und ein bißchen verschwommen. Er tut einem nichts“, setzte sie hinzu, nachdem sie kurz in Anjas Gesicht gesehen hatte, „er hat noch nie jemandem was getan. Ich denke immer, es ist der, der die Mühle hier gebaut hat, vor Jahrhunderten. Sie ist nämlich sehr alt. Und er sorgt sich darum, daß alles gutgeht damit. Vor dem großen Sturm vor zwei Jahren, als überall die Dächer abgedeckt wurden, hat er mich auch gewarnt. Nein, nein, er ist nicht das, was man ein böses Gespenst nennt.“

Sie sprach von ihm wie von einem Bekannten, der manchmal zu Besuch kommt. Anja wagte nicht weiterzufragen. Aber als sie ein wenig später durch die Mühle gingen – Dagmar hatte gebeten, den Jüngeren alles zeigen zu dürfen, und die Frau hatte lächelnd dazu genickt –, war das erste, was Anja fragte: „Glaubst du im Ernst –“

„In Mühlen spukt es oft, oder man glaubt, daß es spukt“, sagte Dagmar. „Da klopft es hier und dort, immer gibt es Geräusche, es klappert und bewegt sich was, ähnlich wie auf einem Segelschiff. Dort ist es dann der Klabautermann und hier eben der Mühlengeist. Jetzt, wo die Mühle elektrisch läuft, fällt es nicht mehr so auf. Aber gerade hier“, sie deutete auf eine Art Aufzug, mit dem man Säcke hinauf- und hinunterschicken konnte, um sie nicht mühselig über die Treppe tragen zu müssen, „hört man es oft klappern und bumsen, und dann heißt es, es spukt. Solche Aufzüge gibt es in allen Mühlen. Sie werden mit einem Strick bedient, an dem man zieht.“

„Aber wenn sie ihn doch getroffen hat, draußen!“ staunte Anja, noch immer ganz erfüllt von dem, was die Müllerin erzählt hatte.

„Da bin ich überfragt. Ich wohne ja nicht hier“, sagte Dagmar und zuckte ein wenig mit den Achseln. „Du möchtest hier nicht wohnen müssen, oder?“ lächelte sie.

„Lieber nicht“, gestand Anja. Petra aber rief:

„Ich schon! Ich würde ihm auflauern und ihn dann ansprechen. Ihn fragen, wie es früher war, als er hier lebte – und dann würde ich –“ Hinter ihr gab es einen Bums. Sie fuhr herum, nun doch erschrocken.

„Diesmal war es nicht der Müller. Diesmal war es der Besen“, sagte Dagmar trocken und hob ihn auf. „Und nun kommt! Wenn er gerade da war, am Brunnen, meine ich, dann treffen wir ihn jetzt sicher nicht. Ich will euch das Mühlrad zeigen. Ja, das ist noch das alte, echte, und es würde sich auch noch drehen, wenn man das Wasser darüber leitete.

Sie standen und staunten – das riesige Rad aus dunklem Holz sah wirklich aus, als gehörte es in ein Märchenbuch.

„Wenn ich groß bin, male ich die Bilder zu Märchenbüchern“, dachte Anja, „und dann kommt diese Mühle mit hinein. Große Bilder mit vielen Farben, farbigem Himmel und blaugrünen Wäldern, und ganz kleine Häuser, auch die Mühle ganz klein, in einer Ecke, aber alles ganz genau, vor allem das Rad …“

Sie gingen dann über den Hof, noch mal zum Stall, um nach den Pferden zu sehen. Die standen und fraßen, artig nebeneinander. Es schneite noch immer. Sie kamen ganz gepudert zurück in die Küche, wo die Müllersfrau inzwischen den Tisch mit buntglasiertem Geschirr gedeckt hatte.

„So, der Hefezopf ist jetzt so weit ausgekühlt, daß ihr ihn essen könnt. Hier, nehmt Hagebuttengelee dazu, das schmeckt am besten.“

Sie schob ihnen das Glas hin. Es leuchtete dunkelrot, ach, und es schmeckte köstlich, wenn man es auf den frischgebackenen Kuchen strich. Sie schwelgten, und die Müllersfrau hatte sich zu ihnen gesetzt und erzählte von ihren Kindern.

Die waren schon groß, zwei studierten. Die Tochter hatte ihr Lehrerinnenexamen gemacht und war dann wieder zu einer ihrer großen Wanderungen aufgebrochen, diesmal nach Indien. Sie war ein Mensch, der es nie länger als ein paar Monate an einem Ort aushielt. Sie war schon in Lappland und Kanada, in Nordafrika und Sardinien gewesen.

„Ach ja, das Wandern ist des Müllers Lust“, seufzte sie. „Ich wünschte, sie bliebe endlich einmal daheim. Immer muß ich in Sorge um sie sein, und wenn ich abends bete für sie, weiß ich nicht, wo ich sie suchen soll.“

„Schreibt sie denn manchmal?“ fragte Petra. „Da könnte man es doch am Poststempel sehen. Ich finde es wundervoll, so viele Länder zu sehen. Geht sie immer allein los?“

„Meist ja. Diesmal sind sie zu dritt, ein einziges Glück. Zwei Studenten, ein junger Mann und seine Schwester, haben sich ihr angeschlossen. Das ist doch ein gewisser Schutz. Sie kann ja unterwegs auch mal krank werden oder sich was brechen, oder jemand überfällt sie und nimmt ihr das Geld weg. Da ist es doch besser, ein Mann ist dabei. Ja, sie schreibt schon, wunderbar lange, lange Briefe, in ganz winziger Schrift, damit recht viel drauf geht. Sogar meist ohne Anrede, um Platz zu sparen, nur manchmal steht am Anfang: ‚LE‘, das heißt: ‚Liebe Eltern‘, und an den Schluß setzt sie ein klitzekleines Herz und ein I hinein. Sie heißt Irmgard“, erzählte die Müllerin. „Soll ich euch mal einen von ihren Briefen zeigen?“

„O bitte, ja!“

Dann saßen sie am Tisch und versuchten, das kleine krause Geschreibsel zu entziffern. Anja gelang es am besten, sie hatte scharfe Augen. Halblaut las sie vor, was da stand, und Irmgards Mutter war neben ihr stehengeblieben, in der einen Hand den Fettpinsel, in der anderen das Pfännchen mit zerlassener Butter und horchte, als hörte sie Musik.

„Ich kann es nämlich nicht mehr recht entziffern, meine Augen wollen nicht mehr, und mit der Brille komm’ ich nicht zurecht“, gestand sie, als Anja schwieg. „Da ist es schön, wenn du mir vorliest.“

Anja sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihr auf.

„Darf ich den Brief mal mitnehmen? Mein Vater gibt nämlich Erdkunde, den wird das sehr interessieren. Ich verlier’den Brief bestimmt nicht!“

Als sie später zu den Pferden hinübergingen, sagte Dagmar: „Da hast du der Frau aber eine große Freude gemacht, als du ihr den Brief vorlast.“

„Ja, und weißt du, was ich mir ausgedacht hab’? Ich nehme ihn meinem Vater mit, und der tippt ihn ihr ab, wenn ich ihn ihm diktiere. Ganz groß und deutlich, das kann sie dann vielleicht selbst lesen. Es gibt Schreibmaschinen mit großem Druck, sie haben so eine in der Schule, das weiß ich“, erzählte Anja eifrig. „Meinst du, das könnte man machen?“

„Natürlich! Da tust du ihr einen Riesengefallen.“

Sie sattelten im Stall, weil es so schneite. Die Müllersfrau trat noch einmal aus der Tür, als sie schon aufgesessen waren.

„Paßt nur gut auf, auf euch – und auf den Brief!“ setzte sie noch schnell hinzu, ein wenig verlegen. Alle drei nickten.

„Wir versprechen es! Und wir kommen wieder und bringen ihn persönlich zurück, schicken ihn nicht mit der Post, damit er ja nicht verlorengehen kann“, versprachen sie eifrig. Sie hatten es vorhin schon beim Satteln besprochen. Die Müllerin winkte ihnen nach.

„Das war schön“, seufzte Petra. „Nun sei brav, Pußta, und ärgere mich nicht. Nein, jetzt wird Schritt geritten.“

„Ja. Wir müssen erst ausprobieren, wie der Untergrund jetzt ist. Beim ersten Schnee weiß man nicht so genau, ob es drunter glatt ist.“ Dagmar sprang noch einmal von ihrem Ströppchen und fuhr mit dem Stiefel im Schnee hin und her. „Sehr glatt ist es nicht, auf dem Feldweg können wir dann wieder traben. Na, bist du schon ein bißchen zu Hause in deinem Westernsattel?“ fragte sie zu Anja hinauf. Die nickte strahlend.

Der Heimritt wurde wirklich wunderbar. Der Schnee fiel dicht und beständig, und die Pferde schienen sich darüber genauso zu freuen wie die Menschen.

„Na, und die Hunde erst! Wir hätten sie mitnehmen sollen, wenigstens Zessi“, sagte Dagmar. „Ich wollte nur nicht, weil ich dachte, sie springt vielleicht um die Pferde und macht Lotte nervös, und das wäre beim erstenmal nicht gut für Anja. Aber wir lassen sie nachher hinaus und tüchtig toben. Was glaubt ihr, wie Hunde sich über den ersten Schnee freuen! Sie sind dann ganz verrückt, stecken die Nasen hinein und hopsen herum, es ist zu nett anzuschauen.“

„Auch die Kleinen? Dürfen die Kleinen auch schon mit raus?“ fragte Petra begierig. „Die vier Hundebabys?“

„Klar! Die lassen wir auch eine Viertelstunde toben“, verhieß Dagmar, „wir müssen sie nur hinterher richtig abrubbeln. So, nun traben wir mal wieder an. Ströppchen versteht schon die Welt nicht mehr, weil er weiß, hier geht es nach Hause, und hier darf er sonst immer losgehen, so schnell er will …“

Anja faßte nach dem Sattelknopf, aber ganz anders als vorhin. Sie hatte keine Angst mehr, wenigstens nur ein ganz, ganz kleines bißchen. Herunterfallen wollte sie eben doch nicht. Und als sie dann galoppierten und der Schnee ihr ins Gesicht wehte, daß sie nur noch rot und grün sah, war ihr doch ein wenig bange zumute. Dann aber hieß es wieder „Scheritt!“, und sie atmete auf und lachte und wischte sich die Nässe vom Gesicht.

„Reiten wir morgen wieder?“ fragte sie, als sie am Haus angekommen waren. Dagmar nickte ihr zu.

„Natürlich. Jeden Tag, wenn es geht. Aber jetzt erst einmal hinein mit den Pferden, die freuen sich auch, wenn sie wieder daheim sind. War es schön?“

Sie brauchte nicht zu fragen. Anjas strahlendes Gesicht sagte genug. Sie brachte ihre Lotte selbst in die Box, nahm ihr Sattel und Kopfstück ab, streichelte sie und gab ihr ein Stück Zucker, das sie sich heute früh eingesteckt hatte. Sehr viel Zucker sollen Pferde ja nicht bekommen, Mohrrüben sind besser. Vater hatte ihr, als sie sich verabschiedeten, ein bißchen Geld zugesteckt, „für alle Fälle“, davon würde sie heute im Laden des Dorfes Mohrrüben kaufen, und …

„Ich möchte was besorgen gehen“, sagte sie zu Dagmar, als alles im Stall fertig war, „ich geh’ in das Geschäft, an dem wir vorhin vorbeigeritten sind. Darf ich Brumme mitnehmen? Ich führ’ sie auch an der Leine.“ Sie wußte, daß die alte Hündin nicht mehr sehr gut sah. Aber sie sollte doch auch in den schönen Schnee hinausdürfen. „Kann ich dir noch was mitbringen?“

„Ja, Salz ist fast keins mehr da. Bring ein Pfund – und vielleicht noch ein paar Apfelsinen. Hier hast du Geld.“

Anja ging. Sie kaufte noch etwas anderes in dem Laden, in dem es, wie es sich auf dem Dorf gehört, alles gab, was man brauchte: frische Brötchen und Schuhkrem, Besen, Kochtöpfe und Zeitungen. Ein Heft! Ein dickes, in schwarzes Wachstuch gebundenes Heft. Als sie damit heimkam, rannte sie die Treppe hinauf, hockte sich auf ihr Bett und schlug das Heft auf.

„Tagebuch“ schrieb sie ganz groß auf die erste Seite und darunter das heutige Datum. Und darunter wieder kam, in großer, deutlicher, schön gemalter Schrift: „Mein erster Ausritt“. Dazu malte sie eine kleine Mühle, so wie sie die Mühle im Gedächtnis behalten hatte, mit dem großen Rad und dem Brunnen im Hof. Damit sie auch immer wußte, wohin ihr erster Ausritt geführt hatte.

Als ob man so etwas je vergessen könnte!

Die schönsten Pferdegeschichten

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