Читать книгу Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast - Страница 9

„Ich bin geritten!“

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„Holen Sie ihn schon?“ fragte Anja. Es klang enttäuscht. Sie hatte sich soeben, später als sonst, von zu Hause wegstehlen können und war diese Sekunde erst bei Kerlchen angekommen, der am Zaun der Koppel stand und wahrhaftig nach ihr Ausschau gehalten hatte. Jedenfalls guckte er in die Richtung, aus der sie kam – und nun war Herr Anders von der anderen Seite her gekommen und wollte ihn holen. „Heute gehst du mal nicht in den Reitverein“, hatte Mutter gesagt. „Es muß auch mal ohne gehen.“

Hier auf der Koppel zu stehen und Kerlchen zu streicheln, das war nicht „in den Reitverein gehen“. Sie sah zu Herrn Anders auf. „Aber die Möhre darf er doch noch fressen, so eilig ist es nicht, nein?“

„Nein. So eilig nicht. Ich hab’ Zeit. – Du, Anja?“

„Ja?“

„Wie wäre es – willst du ihn mal versuchen?“

„Kerlchen? Ihn reiten? Im Ernst?“ Anjas Augen waren ganz groß und rund geworden. „Darf ich wirklich? Darf er denn geritten werden?“

„Bis zum Stall gewiß. Ich hab’ das Reithalfter mitgebracht“, sagte Herr Anders. Er wartete, bis Kerlchen die Möhre verschnorpst hatte, und streifte ihm dann das Kopfstück über. Vorsichtig schob er das Gebiß ins Pferdemaul, schloß die Schnalle des Kinnriemens und dann die Schnallen am Kehlriemen. „Siehst du, so macht man das. Hier muß es eng anliegen, und hier muß eine Faust dazwischen passen. Probier mal. Ja, so. Und nu –“

Anja stand schon links neben dem Pferd bereit, das eine Bein angewinkelt, wie Herr Anders es ihr damals gesagt hatte. Er legte die Hand darunter – schon war sie oben.

„Und nun: schön aufgerichtet sitzen, Schultern zurück, Beine lang. Fußspitzen anheben, Hacken runter, auch ohne Bügel. Ja, so. Ganz locker dabei – nun, das alles kommt mit der Zeit. Hier die Zügel. Sie müssen zwischen Ring- und kleinem Finger durchlaufen und zwischen Daumen und Zeigefinger – ja, du weißt es wohl schon. Hast gut aufgepaßt, wenn du bei der Reitstunde zugesehen hast. Fäuste aufrecht, Daumen wie kleine Dächer darüber. Fein. Und jetzt klopfst du ein wenig mit den Hacken, ein wenig nur – richtig. Das tut ihm nicht weh, das sagt ihm nur: ‚Los, jetzt wollen wir.‘ Na also, er versteht dich ja!“

Kerlchen hatte sich, sobald Anja mit den Fersen an seine Flanke kam, Richtung Stall gewandt und ging im Schritt los. Anja fühlte den warmen, mächtigen Körper unter sich in Bewegung kommen, sie drückte die Knie fest an und die Fersen nach unten, wie der Reitlehrer es oft und oft gesagt hatte. Mitsamt dem Zügel hatte sie ein Büschel Mähnenhaar erwischt, das gab ihr noch mehr das Gefühl, dem Pferd nahe zu sein.

„Nein, nicht schneller. Heute noch nicht. Heute reiten wir Schritt“, sagte Herr Anders, der nebenherging, ohne den Zügel anzufassen. „Schritt ist das erste und nicht das leichteste, das glaubt einem anfangs niemand. Und Stürze aus dem Schritt sind oft schlimmer als andere.“

Das konnte sich Anja nicht vorstellen. Ein Sturz bei einem Sprung, ein Hineinsegeln ins Hindernis, wie sie es schon mehrmals gesehen hatte, oder ein Aus-dem-Sattel-Kommen, wenn das Pferd bockelte, erschien ihr viel gefährlicher. Sie sagte aber nichts; das wußte sie schon von den Stunden, die sie miterlebt hatte: Widersprechen durfte man nicht, nie. „Morgen oder übermorgen traben wir dann ein Stückchen, heute noch nicht“ ‚fuhr Herr Anders mit gleichmäßiger, freundlicher Stimme fort, „merkst du es – er weiß genau, was er tun soll, ja? Guter alter Knochen, wie viele Kinder hat er getragen, so wie dich jetzt, vorsichtig und voller Behutsamkeit. Er war auch eine Weile Voltigierpferd. Was Voltigieren ist, weißt du, oder? Da läuft das Pferd an einer Leine im Kreis, an der Longe, heißt das, und die Kinder machen Turnübungen daran, springen auf und ab und machen die Fahne und die Mühle –“

„Das hab’ ich mal bei unseren Nachbarn im Fernsehen gesehen, bei einem großen Reiterfest. Da waren auch ganz kleine Kinder dabei, höchstens fünf Jahre alt, vielleicht erst vier.“

Anja wurde ganz eifrig. Herr Anders merkte, wie sie sich entspannte, während sie erzählte. Das hatte er gewollt.

„Die Mädels hatten winzige Röckchen an und die Jungen grüne Hosen, manchmal waren zwei auf dem Pferd und hielten sich aneinander fest, manchmal sogar drei, und eins hing mit dem Kopf nach unten.“

„Kosakenhang heißt das“, ergänzte Herr Anders.

„Und zuletzt machten sie eine Pyramide am Pferd, drei saßen drauf, und zwei standen, und rechts und links machte eins Handstand am Pferdehals … ich möchte auch voltigieren lernen – oder bin ich schon zu groß dazu?“

„Aber woher denn! Es gibt auch Voltigiergruppen aus Erwachsenen – freilich ist es gut, wenn man früh damit anfängt, genau wie beim Reiten.“

„Gibt es das hier im Reitverein?“ fragte Anja dringend. „Hier bei Ihnen?“

„Doch, ja, von Zeit zu Zeit machen wir Kurse. Und da mitzutun ist nicht so teuer wie Reitstunden, weil eben viele Kinder miteinander üben, an einem Pferd. Mindestens sechs sollten es sein, damit jedes nach seiner Übung verpusten kann. Beim Voltigieren kommt man nämlich sehr schnell außer Atem, das kann ich dir sagen! Vielleicht kannst du beim nächsten Kurs mitmachen?“

„Oh, das wäre schön! Nur – wissen Sie – meine Eltern! Meine Mutter … ja, also gern sieht sie es nicht, wenn ich zu Ihnen gehe. Sie war ja auch noch nie mit und hat sich nicht angesehen, wie es bei Ihnen ist.“

„Die meisten Eltern sehen es nicht so gern, wenn sie ihre Kinder dann für ganze Nachmittage los sind. Und die Schularbeiten liegen da und werden nicht gemacht, und geholfen wird nicht‚ während man im Reitverein gern hilft.“ Herr Anders lachte leise. „Aber das gibt sich. Und wenn man so schön nahe wohnt wie du … du wohnst doch da drüben, gegenüber dem Einkaufsladen? Na, siehst du. Und schon sind wir angekommen.“ Sie standen vor dem Stall.

„Schade“, sagte Anja und seufzte aus Herzensgrund. „Schade – aber es war schön – ach, herrlich! Darf ich wieder mal?“

„Natürlich darfst du. Komm – aha, da brauch’ ich gar nicht zu helfen. Du kommst allein runter.“ Anja hatte sich seitlich hinabgleiten lassen und stand jetzt wieder an Kerlchens Kopf, glühend vor Aufregung und Glück.

„Danke, Kerlchen, das war schön! Morgen bring’ ich dir wieder Mohrrüben – oder hartes Brot. Ist doch besser als Zucker, nicht wahr, Herr Anders?“

„Viel besser. Zucker nur in ganz kleinen Mengen, als große Belohnung. Im Zoo ist mal ein Elefant an Würfelzucker gestorben, weil ihn die Leute so sinnlos fütterten. Zucker übersäuert den Magen, so komisch das klingt. Und nie Schokolade geben, verstehst du? Ach, was die Leute manchmal Unsinniges füttern.“

Ich bin geritten, ich bin geritten, ich bin geritten, sang es in Anjas Herzen. Ich bin auf Kerlchen geritten, ganz allein. Er hat den Zügel nicht angefaßt, ist nur nebenhergegangen, der Herr Anders. Ich bin allein geritten …

Sie rannte heim. Wenn sie ganz schnell wieder zu Hause war, würde Mutter vielleicht nichts merken. Sie mußte nur ins Haus hineinkommen, ohne zu läuten – einfach durch den Keller. Und dann so tun, als wäre sie die ganze Zeit zu Hause gewesen, hätte Schularbeiten gemacht oder …

Und sie konnte Mutter ja auch helfen, von sich aus. Fragen: „Was kann ich tun, Mutter? Soll ich einkaufen gehen? Brauchst du noch was?“ Meist brauchte Mutter noch was, auch wenn sie schon Besorgungen gemacht hatte.

Alles ging gut. Anja schlich durch den Keller, stand mit klopfendem Herzen auf der obersten Stufe der Treppe, huschte durch den Flur in ihr Zimmer. Gerettet! Und jetzt zu Atem kommen, und dann ganz harmlos hinübergehen, so, als wäre man überhaupt nicht draußen gewesen …

Ich bin geritten! Wie einen kostbaren Schatz trug sie dieses Wissen in sich, einen Schatz, den sie nie verlieren konnte. Ich bin geritten, vielleicht reite ich morgen wieder. Oh, Reiten, das Schönste auf der Welt! Sie hätte am liebsten die ganze Welt umarmt.

„Was glaubt ihr – es schneit!“

Vater stand in der Tür, noch im Mantel, der wahrhaftig an den Schultern weiß gepudert war. Anja fühlte ihr Herz hüpfen. Jedes Kind freut sich über den ersten Schnee. Gleichzeitig aber fuhr es ihr wie ein Stich hindurch: Schnee! Dann konnte Kerlchen vielleicht nicht mehr auf die Weide?

Vielleicht doch. Vielleicht blieb der Schnee nicht liegen – aber es wäre andererseits eben wunderbar, wenn er liegenbliebe. In den letzten Jahren hatte es doch so wenig geschneit …

„Oh, da werden sich die kleinen Jungen aber freuen!“ sagte Mutter sofort.

„Und die große Anja erst recht“, schmunzelte Vater und sah zu seiner Tochter hin. Mutter lachte.

„Na klar! Das sowieso. Aber für die Jungen ist es doch etwas Neues! Und wir kaufen einen Rodelschlitten mit Lehne, da packen wir Volker und Reinhold hinein, mit Kissen und Wärmflaschen, und Anja kann sie ausfahren, das macht viel mehr Spaß als mit dem Kinderwagen. So einen Schlitten hatte ich auch für dich, als du klein warst.“

„Ja, aber den Schlitten schaffen wir gleich an, nicht erst zu Weihnachten!“ sagte Vater und hängte seinen Mantel in den Flur. „Nicht mal bis zum Nikolaus warten wir! Wenn Schnee kommt, muß man ihn nutzen. Wie lange ist es denn noch bis zum Nikolaus?“

„Drei Wochen und zwei Tage“, kam es blitzschnell von Anja. Er streifte sie mit einem Blick. Dann sagte er lachend: „Schnell und genau. Antwortest du in der Schule auch immer so? Dann wünschte ich, ich hätte dich in meiner Klasse.“

Anja schwieg. Sie wußte, warum sie so genau hatte Bescheid geben können – sie dachte an das Nikolausreiten! Immerzu dachte sie daran, ob Petra bis dahin soweit gesund wäre, daß sie mitreiten könnte. Und ob Cornelia den Flieder bekam, den sie sich so heiß wünschte, und ob die Familie Hartwig ihren dickköpfigen Kronprinzen dazu bringen würde mitzureiten.

Was hieß in diesem Falle reiten! Anja kannte das Festprogramm auswendig. Da war der erste Punkt: Vorstellen aller Pferde, Besitzer und Vereinspferde. Und dabei sollte Petra die Rumpel haben, Angelika die Lady und Werner den Kerlchen. Die dritte Schwester war für Wanda vorgesehen, die bei solchen Gelegenheiten, wo viele Pferde mitgingen und es etwas eng würde, sehr grätig werden konnte, aber Martina traute sich zu, mit ihr fertig zu werden. Das Nikolausreiten – Anja zählte die Tage bis dahin, und deshalb hatte sie Vater so präzise antworten können.

Am nächsten Nachmittag lief sie gleich zur Wiese. Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und die Siedlung sah ganz anders aus als vorher, wie aus einem Bilderbuch. Anja hatte den alten Lodenmantel angezogen und die Taschen vollgestopft mit Brotstückchen, die hart geworden waren; immerzu Möhren stiebitzen konnte man ja auch nicht. Viel Hoffnung, Kerlchen zu treffen, hatte sie nicht, aber …

Doch, da stand er! Herr Anders hatte ihn also doch herausgelassen, wahrscheinlich, damit er recht viel gute Luft bekam. Am Rand der Koppel war jetzt eine kleine überdachte Raufe aufgestellt. Anja sah sie zum erstenmal. Wie eine Wildfütterung, nur etwas höher – Kerlchen hatte das Heu, das darin gewesen sein mochte, gewissenhaft bis zum letzten Halm verzehrt, aber diese Raufe gab Anja die Hoffnung, daß er auch später noch bei Schnee hier sein würde.

„Hurra, mein Kerlchen!“

Sie schwang sich über den Koppelzaun und lief zu ihm hin, glücklich, erleichtert. Und wirklich, er drehte sich, als sie ihn anrief, sah ihr entgegen und kam dann sogar ein paar Schritte auf sie zu. Beglückt nahm sie ihn um den Hals.

„Alter guter Knochen“, so sagte Herr Anders immer. Das Pferd stand still bei ihren Zärtlichkeiten, bog dann den Hals und schnupperte an ihrer Manteltasche. Und plötzlich – raaaz – hatte er sie aufgerissen, indem er seine dicke Nase hineinversenkte.

„Kerlchen, du Grobian!“ Anja lachte zärtlich. „Die Tasche muß ich aber wieder annähen, sonst merkt Mutter, daß ich bei dir war. Was, in die andere willst du auch noch hinein mit deinem gierigen Maul …“

Später, als Herr Anders kam, erzählte sie es ihm und zeigte ihm die halbabgerissene Tasche. Herr Anders lachte still in sich hinein.

„Das ist seine Art. Immer muß er in alle Taschen hinein, am liebsten mit dem ganzen Kopf. Wie viele Taschen hat er schon aufgerissen! Wir sagen nichts, wenn neue Leute in den Reitverein kommen; früher oder später macht er das bei allen. Willst du ihn wieder reiten?“

Und ob sie wollte! So eine Frage! Strahlend saß sie auf, und strahlend ritt sie die kurze Strecke bis zum Stall, rutschte dort hinunter und gab Kerlchen zum Dank das letzte aufgesparte Stück Brot und einen Kuß auf die Nase.

„Lieber, lieber Kerlchen!“

Heute hatte Mutter nicht gesagt: „Diesmal ist es nichts mit dem Reitverein.“ So konnte sie am Abend – sie brachte es nicht fertig, es bei sich zu behalten – den Eltern erzählen, daß sie geritten sei. Mutter sah sie an und schüttelte ein wenig den Kopf, aber sie sagte doch: „Na, das ist aber fein!“, und Vater gratulierte ihr feierlich. „Vielleicht wirst du mal Olympiasiegerin!“ sagte er und verbeugte sich. Bei ihm war solch ein Spaß nie kränkend, sondern nur lustig.

Abends konnte Anja nicht einschlafen. Hätte sie doch nichts davon erzählen sollen? War es dumm gewesen? Vater würde sicherlich nichts dagegen haben, wenn sie in den Reitverein ging – oder doch wenigstens einen Voltigierkursus mitmachte. Aber Mutter …

Sie hatte solchen Durst; so stand sie noch einmal auf. Barfuß tastete sie sich durch den Flur, der Küche zu. Die Eltern saßen im Wohnzimmer, von dem aus eine Durchreiche – Vater nannte sie „Freßloch“ – wie ein Fensterchen in die Küche führte, durch die man Teller und Tassen, Kaffeekanne und Suppenterrine hindurchgeben konnte. Diese Durchreiche stand halb offen, so daß Anja in der Küche kein Licht zu machen brauchte. Das war gut. Mutter konnte es nämlich gar nicht leiden, wenn man aus dem Bett noch einmal zurückkam, um etwas zu holen. Sie hatte das früher ‚als sie noch klein und allein mit Mutter war, manchen Abend fünf- bis zehnmal getan, und Mutter nannte es das „Wiedergehen“. Jetzt, da Anja größer war und nur bei wirklichen Anlässen noch einmal zurückkam, schalt sie nicht mehr so. Aber Anja ging dann unwillkürlich sehr leise, auch heute. Sie schlich zum Küchenschrank, nahm ein Glas heraus und füllte es lautlos am Wasserhahn. Dabei hörte sie etwas …

„Ach ja, der Reitverein, der Reitverein, der Reitverein. Beim Aufwachen, beim Einschlafen, den ganzen Tag über. Es würde mich nicht wundern, wenn sie in der Schule, nach irgendeiner Vokabel gefragt, ‚der Reitverein‘ antwortete. Sie ist wie verhext.“

„Na, so ein Unglück ist das ja nicht.“ Vater brummte vor sich hin, schien die Zeitung zu lesen. Anja verstand ihn aber doch. Sie stand da und hielt den Atem an. Wenn er jetzt doch sagte: Da schicken wir sie doch hin …

Nein, er sagte es nicht. Er sagte etwas anderes. „Ich meine, wenn sie dorthin läuft, wissen wir wenigstens, wo sie steckt. Wir bekamen nämlich heute in der Schule einen Hinweis, wir Lehrer nur – ja, es soll zunächst nicht veröffentlicht werden, weil der Betreffende dann selbst gewarnt würde – es ist, kurz und schlecht, wieder mal einer von diesen schrecklichen Gesellen in der Stadt, die Kinder an sich locken und mitnehmen. Nun, nun, mach nicht so ein verstörtes Gesicht. Etwas Ernstliches ist noch nicht passiert, er ist zweimal beobachtet und gestört worden – das heißt, das Kind ist im letzten Augenblick ausgerückt, wer aber weiß, wie es das nächstemal ausgeht. Das ist ja wie eine Krankheit bei diesen Leuten, sie können nichts dafür, trotzdem ist es eine große Gefahr. Die Polizei ist verständigt, sie haben ihn auch ums Haar erwischt, er entkam dann aber doch. Vielleicht verläßt er die Stadt ja auch, wenn er merkt, daß man aufpaßt.“ Vater hatte gesehen, wie entsetzt Mutter schaute.

„Da darf Anja nie mehr allein –“

„Aber Erika“, sagte Vater begütigend, „wir können sie doch nicht festbinden. Warnen müssen wir sie, und das tu’ ich morgen auch, und zwar eindringlich. Sie aber deshalb zu Stubenarrest zu verdonnern, dafür bin ich nicht. Dieser Mann ist übrigens ziemlich leicht zu erkennen, soll eine Narbe auf der linken Wange haben, die man gut erkennt. Wenn man den Kindern das sagt, so ist damit schon viel gewonnen. Außerdem waren es beide Male kleine Jungen, die er versuchte mitzulocken, keine Mädchen.“

„Ach, heutzutage, wo alle in Hosen rumlaufen und die gleichen langen oder kurzen Haare tragen …“Mutters Stimme hörte man an, daß sie ganz außer sich war vor Sorge. „Nein, nein, Anja muß jetzt immer sagen, wohin sie geht, und pünktlich wieder zu Hause sein. Ich gebe ihr von morgen an meine Armbanduhr, sie hat sich mal eine gewünscht, die dann aber sehr bald verloren. Für mich reicht die Küchenuhr, die sehe ich ja immer. Sie bekommt meine!“

Anja hatte das Glas leer getrunken, ohne es zu merken. Sie stellte es lautlos weg, schlich rückwärts zur Tür. Wenn sie ihr jetzt verboten, zu Kerlchen zu gehen – sie würde es heimlich tun. Sie würde, würde – aber eine eigene Uhr zu haben wäre gut. Im Reitstall hing keine, nur in der Halle die große. Es würde gut sein, immer zu wissen, wie spät es ist, man konnte sich dann zu Hause zeigen und wieder entwischen …

Trotzdem lag Anja noch lange wach. Ob es auch so schreckliche Männer gab, die Pferde stahlen? Dann mußte sie erst recht auf Kerlchen aufpassen, wenn er auf der Weide stand. Nein, zu Hause bleiben und überhaupt nicht mehr wegdürfen, auch nicht zum Helfen, das gab es nicht. Da machte sie nicht mit. Außerdem – mit fremden Männern ging sie sowieso nicht, das hatte Mutter ihr schon immer gesagt, so dumm war sie nicht. Mutter dachte ja immer, man wäre noch ein Baby, vollkommen kindisch und blöd …

Geritten war sie, das zweitemal schon, und morgen würde sie wieder reiten. Morgen und übermorgen und jeden Tag. Wenn Herr Anders es ihr von sich aus erlaubt, ja angeboten hatte, so würde er das bestimmt wieder tun. Wenn doch alle so wären wie Herr Anders …

Anja seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Ob Kerlchen schon schlief? Und dann sah sie ihn über die weiße, verschneite Koppel auf sich zukommen, vertraut und lieb, und mit der Nase ihre Manteltasche durchsuchen –

„Die muß ich ja noch annähen“, dachte Anja noch und lachte ein bißchen, gleich darauf war sie fest eingeschlafen.

Die schönsten Pferdegeschichten

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