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Fifty Shades of Guten Morgen und die Gegenteil - Dynamik
ОглавлениеIch telefoniere oft mit meiner Mutter. Manchmal täglich. Am liebsten kurz. Innerhalb von 24 Stunden kann noch nicht einmal meine Mutter so viel erleben, dass es für ein mehrstündiges Telefonat reichen würde, finde ich.
In einem Haushalt mit vier Kindern dagegen ist es schon mal möglich, dass überraschend der Krankenwagen vorfahren muss, erstaunliche Erfolge erzielt oder weltbewegende Entwicklungsschritte vollzogen werden, die die Welt noch nicht gesehen hat.
Eigentlich müsste sie mich auch gar nicht anrufen, denn meine Mutter hat hellseherische Kräfte.
Es ist nämlich so, dass sie schon am Klingeln des Telefons – und spätestens an meinem Guten Morgen – zu erkennen glaubt, wenn was im Busch ist.
Eines Tages, so hoffe, werde ich diese Fähigkeit auch so weit perfektioniert haben und nicht bei jedem Klingeln denken, es sei was passiert. Meine Kinder rufen mich auch nur an, wenn wirklich irgendwas los ist. Einfach nur so und zum Guten-Morgen-Sagen? Dazu wohnen sie noch nicht lange genug allein. Ihre Sehnsucht hält sich noch in Grenzen. Und man weiß auch nie, ob sich das jemals ändern wird. Bei mir hat es auch ein bisschen gedauert. Ziemlich genau, bis ich selbst Kinder hatte und auf die Expertenmeinung meiner Mutter zurückgreifen wollte.
»Guten Morgen!«, sage ich also seit 23 Jahren beinahe jeden Tag, so auch heute. Es ist ein Montag. Das Wochenende war lang genug, um Abenteuer zu erleben, die dringend besprochen werden müssen.
»Guten Morgen, Lucinde!«, sagt meine Mutter. An Tagen, an denen ihr Instinkt zuschlägt, wie heute, wird wahlweise ein »Guten Morgen, Lucinde, was ist passiert?« draus oder, wenn sie sich vielleicht doch ein bisschen unsicher ist, zumindest ein »Ist was passiert?«.
Eine der herausragendsten Eigenschaften meiner Mutter ist ihre Hilfsbereitschaft, die ziemlich oft dafür sorgt, dass sie Lösungen für Probleme sucht, die entweder keine oder zumindest nicht ihre sind. Dafür behauptet sie, wenn ich sie wirklich einmal um Rat frage und ernsthaft ihre Meinung hören will, dass sie dazu nichts sagen, ja mir da überhaupt nicht weiterhelfen könne. Warum sie das tut, weiß kein Mensch, und sie würde es außerdem entrüstet von sich weisen. Da ich sie nun schon eine Weile kenne, hatte ich viele Jahre Zeit, den Gegenteil-Mechanismus zu durchschauen. Er kann äußerst – nun ja – ärgerlich sein, wenn man mal wirklich was wissen will. Aber wenn man ihn berücksichtigt und dementsprechend andersherum formuliert, kann man durchaus an seine Informationen kommen.
Diesbezüglich förderlich ist es, einen klaren Kopf zu behalten.
Ich sage also am Telefon: »Guten Morgen!«, und meine Mutter, dank ihres Instinkts: »O Gott, was ist passiert?«
Ich: »Nichts!«
Das ist nicht besonders schlau. Denn selbst wenn meine Mutter mit diesem unglaublichen Dramasensor ausgestattet ist, so vertraut sie ihm nicht unbedingt. Ich sage »NICHTS«, und sofort greift der Gegenteil-Mechanismus. »NICHTS« widerspricht ihrem Gefühl und ihrer Sorge um uns und beweist nur, dass ich sie bloß nicht beunruhigen möchte.
In den Ohren meiner Mutter heißt dieses kleine Wort so viel wie DieKinderhabensichverletzteineAlkoholvergiftungundodersindschwangerholgerhatmichverlassendieweltgehtunter.
Mein »Nein-wirklich-alles-gut« macht es nur noch viel schlimmer.
»Lucinde, sag schon, was ist los?«
Sie lässt nicht locker. Und sie wird auch nicht lockerlassen. Das habe ich mir selbst eingebrockt. Aus dieser Nummer komme ich nicht mehr raus, bis wir irgendeine Schwierigkeit gefunden haben, die sie ob ihres Gefühls bestätigt und wegen der eher geringen Dramatik erleichtert aufatmen lässt.
Wenn ich hingegen anrufe und sage: »Mama, ich muss dir unbedingt was erzählen! Maria hat die Schule abgebrochen, Lilli ist beim Rauchen erwischt worden, William muss nachsitzen und darf nicht mit auf den Schulausflug, weil …«, dann winkt sie telefonisch ab.
»William darf nicht mit? Ich durfte auch nie mit. Und Strafarbeiten hatte ich mehr als ihr alle zusammen.« Sie lacht. Ich lache nicht, denn:
»Ja, schon, aber Mama: Was soll ich denn jetzt machen?«
»Was du machen sollst? Na, mach dir einfach einen schönen Tag! Ist doch prima, so unter der Woche, dann sind schon nicht so viele Leute im Zoo und im Schwimmbad.«
»Ja, aber …!«
»Lucinde, entspann dich. Da muss man durch. Das ist doch ganz normal. Du hast damals schließlich auch …« Und dann kommt eine lange Reihe von ollen Kamellen, über die ich nicht sprechen möchte. Sie aber schon.
Neulich erst, als ich ihr mein Herz ausschütten wollte, weil eines meiner Kinder mir gesagt hat, wie peinlich ich sei und sich öffentlich vor anderen Menschen von mir distanziert hat – da hat meine Mutter laut gelacht. Am Telefon. Mich. Ausgelacht. Jawohl. Ich war den Tränen nahe und hätte gut ein wenig Trost vertragen können. Es gibt Momente, da ist Mutterschaft eben einfach schwierig. Da braucht man die liebevolle Zuwendung, Aufmunterung und das Verständnis der eigenen Mutter, die irgendetwas sagt im Sinne von:
Das tut mir leid …
Das geht vorbei …
Und dauert nicht mehr lang …
Du bist eine gute Mutter!
Mach dir keine Sorgen!
Bei dir war die Pubertät überhaupt nicht schlimm und an einem Wochenende abgehakt, weil du schon immer so ein großartiger Mensch warst wie jetzt, quasi fehlerfrei und …
Natürlich hat meine Mutter das nicht getan, denn auch das widerspricht ja der Gegenteil-Dynamik. Nein. Meine Mutter sagte wortwörtlich, nachdem sie mit dem Lachen fertig war:
Ich finde das großartig.
Auf diesen Moment habe ich mich seit deiner Pubertät gefreut!
Jeder kriegt, was er verdient!
Und das ist erst der Anfang.
Daraufhin hat sie mir die Geschichte erzählt, wie wir damals anno 1984 (ich war 14) über Weihnachten in Kenia waren und ich mich UN-MÖG-LICH benommen habe. Meine Eltern haben sich die ganze Zeit für mich und mein Verhalten geschämt, und nur ihrer großzügigen und geduldigen Persönlichkeit habe ich es zu verdanken, dass sie mich damals nicht nach Hause geschickt haben. Ich erinnere mich auch an diesen Urlaub, schließlich ist er ja kaum mehr als dreißig Jahre her. Was passiert ist? Nichts Besonderes. Oder vielmehr das, was eben passiert, wenn ein Teenager mit seinen Eltern unterwegs ist. Ich habe mich geschämt und dies auch lautstark verkündet. Und zwar für:
… die Badehose meines Vaters
… seine Frisur
… die Witze, die er erzählt hat
… seine Surfversuche
… und überhaupt, dass ich mit ihm dort war
… den Badeanzug meiner Mutter
… ihre Frisur
… Was sie so gesagt hat!
… Und überhaupt, dass ich mit ihr dort war!
Noch Fragen?
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, sage ich und fühle mich gleich wieder, als wäre ich 14. »Ich wollte wirklich nur wissen, wie es dir geht!«
»Jetzt geht es mir gut, danke der Nachfrage.« Ich höre selbst durch den Telefonhörer, dass sie immer noch grinst. »Auf diesen Moment habe ich über dreißig Jahre gewartet. Ach, es ist so schön, wenn Gerechtigkeit geschieht.«
Und ich? Möchte auflegen und auf den Boden stampfen. Erwachsen, wie ich nun mal bin.