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Namensschwäche

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Meine Mutter hat eine gewisse Schwäche für Namen. In jeder Hinsicht. Außergewöhnliche mag sie sehr, wie beispielsweise meinen. Menschen, die ganz normal heißen, nennt sie gerne ganz anders. Weil andere Namen besser passen. Und weil … sie sich manche einfach nicht ganz so gut merken kann. Da ist sie nicht allein, das weiß ich aus Erfahrung. Meine Mutter gibt sich aber immer allergrößte Mühe. Auch das ist mir bekannt.

Früher, als mein Vater im Laufe seiner Karriere Produktionschef beim Süddeutschen Rundfunk wurde, hat sie ihn oft zu Veranstaltungen begleitet, wo man auf Menschen traf, bei denen es so wichtig wie kompliziert war, sie mit dem richtigen Namen anzusprechen. Mein Vater übte grundsätzlich schon im Auto auf der Fahrt zu diesen Zusammenkünften mit ihr.

»Sprich mir nach: Von Sankwitz-Badstätter.«

»Von Sankwitz-Badstätter.«

»Sehr gut. Noch mal.«

»Von Sankwitz-Badstätter.«

»Vielen Dank für die Einladung, Frau von …«

»… Sankwitz-Badstätter!«

Das ging so lange gut, bis meine Eltern den jeweiligen von Sankwitz-Badstätters, Friedwald-Großhansens oder Gerlach-

Rittlingen gegenüberstanden. Blitzlichtgewitter. Presse. Aufmerksamkeit. Meine Mutter streckte die Hand aus, lächelte freundlich und begrüßte Frau von Sankwitz-Badstätter laut und vernehmlich mit: »Guten Abend, Frau von Sagnicht-Brandstifter.«

Ja, der Name ist schwierig. Und glücklicherweise hatten die von Sankwitz-Badstätters meist Humor. Aber dass ich nun ausgerechnet eine Lucinde geworden bin, damit hat wohl eher keiner gerechnet. Am wenigsten meine Mutter. Schließlich war sie davon überzeugt, dass sie einen Sohn gebären würde. Sportlich, wild und … vermutlich mit einem schlechten Namensgedächtnis. Als ich aber das Licht der Welt erblickte, erblickte wiederum die erleichterte Mutter nicht den Sohn, den sie erwartet hatte. Sondern mich. Ob es eine Enttäuschung war, darüber haben wir nie gesprochen. Ich hoffe nicht. Aber ein bisschen schwierig wurde es dann doch, denn für ein Mädchen war damals schon Florian eindeutig der falsche Name. Ob Lucinde allerdings der richtige Name für ein Mädchen ist, und gleich zehnmal für eines, das auf dem Land aufwächst, das größer als alle anderen und dazu noch Brillen- und Zahnspangenträgerin werden würde, sei dahingestellt. Natürlich konnte man vor allem Letzteres damals auch noch nicht erahnen. Mittlerweile sind meine Augen gelasert und die Zähne dank eines hartnäckigen Kieferorthopädens gut geworden. Für meinen Namen bin ich meinen Eltern mittlerweile sogar dankbar, auch wenn er nicht so ganz einfach zu behalten ist.

Diese Gedanken scheinen sich meine Eltern bei meiner Geburt tatsächlich auch gemacht zu haben, denn vor Lucinde setzten sie in meinen Pass noch eine etwas weniger gewagte Kristina, sodass ich mich auch für diesen Namen entscheiden hätte können, wenn mir der andere zu … außergewöhnlich gewesen wäre.

Und das war er natürlich, spätestens als ich mit all den Steffis, Petras und Susis in den Kindergarten kam. Aber da war ich gerade selbst erst in der Lage, meinen Namen einigermaßen fehlerfrei auszusprechen, und es gelang mir nicht, den anderen durchzusetzen. Ich war nie eine Kristina, dafür längst eine Lucinde. Meine Klassenkameraden in der Grundschule kürzten zu Lucie, und alles war gut. Beinahe. Lucinde nennt mich nur meine Mutter. Aber die fast immer. Denn weil ich ja ihre Tochter bin, werde ich in die Kategorie »sehr nahe Familienangehörige« einsortiert. Und genau deshalb nennt sie mich auch gerne mal Hans. Nach meinem Vater. Der eigentlich Hans Ulrich hieß. Von allen, die ihn mit dem Vornamen ansprachen, wurde er Uli genannt. Na ja. Außer von meiner Mutter eben. Dass sie ihn hingegen mitunter Lucinde genannt hätte, davon ist mir nichts bekannt.

Ihre Mutter, meine Oma, wurde von ihr liebevoll Ömmle oder wahlweise Schnitzele genannt. Warum, weiß keiner so genau. Dass sie in Wirklichkeit Pauline hieß, habe ich überhaupt erst im zarten Alter von 16 Jahren erfahren. Im Pass meiner Mutter steht Karin, mein Vater nannte sie indes Isolde.

Mein Mann Holger hört auch auf Olga, zumindest bei meiner Mutter (probieren Sie das ja nie aus, ich glaube nicht, dass ihm das besonders gut gefällt).

Ich will mich nicht beschweren. Sowohl Lucinde als auch Hans finde ich prima. Ich finde, beides passt zu mir. Und bitte: Hans und Olga? Klingt doch nach einem sehr glücklichen, wenn auch vermutlich etwas älteren Paar.

Nein, keiner wird bei uns so genannt, wie er wirklich heißt, bis auf meine Kinder, die wir nach ihren Urgroßeltern Paulina, Maria, Lilli und William benannt haben, damit nicht noch mehr Verwirrung entsteht. Die wiederum haben meine Mutter nach ihrem Kater getauft. Da er allerdings Moritz hieß, was die Sprachentwicklung von Kleinkindern nicht so ganz hergibt, heißt sie nun Oma Moses. Und wir alle nennen sie so. Das hat sie nun davon.

Ich fand meinen Namen so lange grauenvoll, bis ich begriffen habe, dass er sehr gut zu mir passt und ich in der Tat eine Lucinde bin und nie eine Kristina hätte sein können. Ich glaube, meine Eltern hatten ein sensationelles Gespür dafür, wer ich einmal werden würde. Sehr lustig finde ich allerdings, dass ich oft als Allererstes gefragt werde, ob Lucinde Hutzenlaub ein Künstlername ist. Ganz ehrlich? Wer würde sich so was schon ausdenken?

Jedenfalls scheint mein Name für viele einigermaßen schwer zu merken zu sein, weshalb sich manche Menschen Eselsbrücken bauen. Das finde ich ja schon wieder rührend, bedeutet es ja, dass sie den Namen (oder mich) gern im Gedächtnis behalten wollen.

Die einen bedienen sich dabei der Pflanzenwelt.

»Ah, Lucinde! Klingt wie Hyazinthe! DAS kann ich mir merken!«, sagen sie, und ich kann sehen, wie stolz sie dabei auf ihre Merkhilfe sind.

Sehr schön finde ich, dass sie mich beim nächsten Treffen wiedererkennen. Und meinen Namen haben sie auch noch drauf!

»Ach, ich freue mich ja so, dich wiederzusehen … äh … Tulpe?« Nein. Nicht. Aber fast.

Abgesehen von meinen Eltern, die hartnäckig Lucinde zu mir sagten, wurde ich sowieso meist Lucie genannt.

»Lucy? So wie in ›Lucy in the Sky with Diamonds‹ von den Beatles?«

»Ganz genau.«

Nun muss man nicht unbedingt alle Beatles-Songs drauf haben. Ja, im Hinblick auf meinen Namen ist es sogar eher von Nachteil. Vor allem, wenn man sich dann beim nächsten Treffen doch nicht mehr an den Namen erinnert. Aber macht nichts. Ich helfe gern weiter.

»Kleiner Tipp: Die Beatles?«

»Aaaah! Natürlich! Die Beatles!«

Gedankenpause. Sichtbare Erleichterung bei Gedankenblitz.

»Ach, es ist so schön, dich wiederzutreffen, MICHELLE!«

Mama im Unruhestand

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