Читать книгу Mama im Unruhestand - Lucinde Hutzenlaub - Страница 7
ОглавлениеEin Stern, der ihren Namen trägt
Als ich auf die Welt kam, war meine Mutter knapp dreißig. Und selbst wenn es für mich nach wie vor kaum vorstellbar ist, hatte sie auch vor mir schon ein Leben. Und zwar eines, das nicht minder aufregend war.
Meine Mutter war zweimalige Olympiateilnehmerin und zwar sowohl 1964 in Tokio als auch 1968 in Mexiko. Sie nahm an den Europameisterschaften 1966 in Budapest teil und gewann Bronze über 100 Meter und Silber sowohl im 80-Meter-Hürden- als auch im 4-x-100-Meter-Lauf.
In diesem Jahr wurde sie außerdem zur »Sportlerin des Jahres« gewählt (zusammen mit Helga Hoffmann) und erhielt 1967 das Silberne Lorbeerblatt.
Als ich geboren wurde, hatte sie ihre sportliche Karriere allerdings schon eine Weile beendet. Nicht meinetwegen, sondern wegen eines Achillessehnenrisses, den sie sich bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 zugezogen hatte. Aber auch wenn ich vermutlich damals noch keinen Einfluss auf ihre Entscheidung gehabt hätte, bin ich doch sehr froh, dass ich nicht der Grund dafür war. Trotzdem bekam sie nach wie vor viele Briefe mit Autogrammwünschen, Reporter besuchten uns, oder ich entdeckte ein Foto von ihr in irgendeinem Magazin.
Aber am meisten beeindruckt hat mich trotzdem, dass sie ein eigenes Sammelbildchen zum Einkleben hatte. Wahnsinn, oder?
Mein Vater hatte extra für ihre Medaillen einen ziemlich langen Couchtisch anfertigen lassen. Dort konnte man sie alle unter Glas bewundern. Ich verbrachte viel Zeit damit, die Inschriften auf den glänzenden Plaketten, den Anstecknadeln und Broschen zu entziffern. Ganz besonders gefiel mir ein silbernes Lorbeerblatt. Dass es sich dabei um die höchste verliehene sportliche Auszeichnung handelte, die man in der Bundesrepublik Deutschland erhalten kann und die meine Mutter 1967 erhielt, war mir nicht bewusst. Ich fand es einfach schön.
Für mich fühlte sich die Vorstellung von meiner Mutter auf einem Siegertreppchen vor großem Publikum eher merkwürdig an und so, als hätte sie jemand verwechselt. Ein bisschen hatte ich das Gefühl, ich müsste der Welt sagen, dass da ein Irrtum vorlag. Meine Mutter war (und ist) eben meine Mutter. Basta. Nun, daran haben die Autogrammwünsche natürlich auch nichts geändert.
Dass sie so ausgesprochen sportlich ist, hat mir in meiner eigenen Jugend aber leider nichts gebracht. Die, die ich gerne beeindruckt hätte, waren Jungs und Mädchen in meinem Alter, und die hatten mit einer ehemals erfolgreichen Sportlerin wenig am Hut. Die Olympischen Spiele von 1968 waren 1982, als ich zwölf Jahre alt war, beinahe ein gefühltes Jahrhundert her.
Ein paar Mal habe ich während meiner Schulzeit aber trotzdem versucht, meine Sportlehrer mit den Erfolgen meiner Mutter zu beeindrucken. Denn sie waren die Einzigen, die wussten, wer meine Mutter war. Das wäre auch äußerst hilfreich gewesen, denn leider hat sie mir weder ihre Sportlichkeit noch sportlichen Ehrgeiz vererbt. Seit Jahren gehe ich zwar joggen, da kann man auch nicht viel falsch machen, aber würde man sich vom Auf-der-Couch-Liegen und Bücher-Lesen eine Top-Figur verdienen, wäre dies definitiv meine erste Wahl. Ich bin riesig und sehe sportlich aus, aber das ist eine optische Täuschung.
Nein, noch nicht einmal Basketball ist je eine Option gewesen, weil ich auf gar keinen Fall rennen, einen Ball dribbeln und andere Menschen, meine Füße, eventuelle Hindernisse oder gar einen Korb im Auge behalten kann. Gleichzeitig. Bälle und ich? Niemals. Dennoch habe ich diese Frage vermutlich tausendmal gehört. Die Sportlehrer waren zwar begeistert, allerdings nicht von mir, und das Einzige, was ich je in ihren Augen sah, war Mitleid.
Meine Mutter hat allerdings auch ihre Jugend und jungen erwachsenen Jahre komplett durchtrainiert oder auf Wettkämpfen rund um den Globus verbracht, getreu ihrem Motto, dass Athleten die Welt sehen müssen.
Einerseits hat ihr das alles natürlich tatsächlich sehr gefallen, andererseits hat sie dadurch aber auch das eine oder andere verpasst. Um diesen Mangel irgendwie zu kompensieren, habe ich meine Jugend nicht in Sportvereinen verbracht, sondern in der Kunstschule, beim Querflöten und bei den Pfadfindern. Wie sollte da aus mir auch eine Basketballerin werden?
Obwohl ich in sportlicher Hinsicht also eine Enttäuschung bin, darf ich sie jedes Jahr auf den Sportlerball begleiten, mit all den ehemaligen Olympioniken und beeindruckenden Athleten vergangener Zeiten an einem Tisch sitzen und eine klitzekleine Ahnung davon spüren, wie sie früher war. Es ist, als wäre ich Teil eines sehr aktiven Klassentreffens.
Die Tatsache, dass meine Mutter schon so viele Jahre zu diesem Ball eingeladen wird, beweist jedenfalls, dass ihre sportliche Vergangenheit wohl doch kein Irrtum ist. Schön und spannend ist es jedenfalls immer.
Nachtrag:
Letztes Jahr wurden die Sportler des Jahres übrigens zum fünfzigsten Mal gekürt, und deshalb hatten sich die Veranstalter etwas ganz Besonderes ausgedacht: Den Weg zum Kurhaus in Baden-Baden zieren nun große goldene Sterne, jeweils mit dem Namen des Sportlers oder der Sportlerin und dem Jahr, in dem sie gewonnen haben. Sehr nach Hollywood sieht das aus und es gefällt mir sehr.
Der Stern meiner Mutter liegt irgendwo hinter Boris Becker und vor Rudi Altig, nach Heike Henkel und vor Schumi. Ein großer Stern, der ihren Namen trägt. So stolz ich deshalb auf sie bin: Sie ist für mich trotzdem in erster Linie meine Mutter. Und schon allein dafür hat sie mindestens noch einen viel größeren Stern verdient.