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Erziehungsmaßnahmen und der Pulitzerpreis

Die Gegenteil-Dynamik greift übrigens auch, wenn ich keine Zeit zum Telefonieren habe. Dann nämlich möchte meine Mutter sehr ausgedehnte Telefonate führen. Sie kann es außerdem nicht leiden, wenn ich sie von unterwegs aus anrufe, und deshalb meldet sie sich gerne morgens gegen halb neun, weil sie dann ganz genau weiß, dass ich am Schreibtisch sitze.

Ich sitze also bereits seit einer halben Stunde an meinem Schreibtisch und bemühe mich, ein Projekt voranzutreiben, das ich bis morgen Mittag beenden muss. Bis gerade eben habe ich Wäsche zusammengelegt, Pausenbrote geschmiert, die Kinder verabschiedet, den Mann ebenfalls, bin beim Blick in meinen Kalender und auf das heutige zu bewältigende Mutter- und Haushaltspensum beinahe in Ohnmacht gefallen und habe mir eine Einkaufsliste geschrieben. Das Telefon klingelt exakt in der Sekunde, als ich die Espressotasse an meine Lippe hebe und mir der zündende, Pulitzerpreis-würdige Einleitungssatz einfällt. Ich weiß, wer dran ist. Und der Pulitzersatz ist weg.

»Lucinde?« Meine Mutter.

»Guten Morgen!«, sage ich und schiele auf meinen Bildschirm. Der Satz fing an mit …

»Schreibst du etwa gerade?« Nein, ich liege in der Sonne am Pool und trinke Cocktails.

»Ja. Ich schreibe. Das heißt, ich versuche es zumindest.«

»Ach, und was hindert dich daran?

»Na ja, also, dass das Telefon klingelt?«

»Dann geh doch einfach nicht dran! Oder steck es aus!«

»Mama. Es könnte ja auch was Wichtiges sein. Irgendwas mit den Kindern. Oder mit dir!«

»Mit mir?«

»Du bist 78?«

»Na und?«

»Wie? Na und? Mit 78 kann doch immer mal was sein.« Woran liegt es nur, dass immer ich mir wie die Glucke vorkomme, wenn ich mit meiner Mutter telefoniere?

»Ach, Blödsinn. Ich kann mir schon selbst helfen. Und wenn was ist, brauche ich dich ja auch nicht anzurufen.«

»Warum nicht?«

»Na, du hast doch sowieso keine Zeit.«

»Ich hätte schon, wenn ich meinen Text fertig machen könnte.«

»Dann mach doch!« Sie kichert. Wir drehen uns im Kreis. Und aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen habe ich das Gefühl, dass meine Mutter großen Spaß daran hat.

»Jedenfalls will ich das Telefon nicht ausstecken. Außerdem weiß ich gar nicht, wie das geht und …«

»Nicht? Du weißt doch sonst alles.« Ähem.

»Oder du mietest dir endlich ein Büro, dann bist du vormittags einfach weg!« Ich höre quasi durchs Telefon, wie sie sich selbst auf die Schulter klopft für diese grandiose Idee. Die sie mir, unter uns gesagt, schon mindestens dreitausendmal präsentiert hat.

»Ich brauche kein Büro. Ich habe hier ein Arbeitszimmer, und außerdem kann ich nebenher Wäsche machen und …«

»Ja, aber dann würden dich keine Anrufer stören.«

»Mama. Ich brauche das Telefon aber. Für Notfälle. Außerdem störst du mich ja gar nicht. Also nicht wirklich, also … du weißt schon.«

»Ich hab schon verstanden. Und für Notfälle hast du doch dein Handy! Wie man das ausschaltet, weißt du aber wenigstens, oder?«

»Das weiß ich, aber … warum hast du eigentlich angerufen?«

»Ich wollte nur wissen, wie es dir geht. Aber dann störe ich dich nicht weiter. Wir können ja einfach irgendwann mal wieder sprechen, wenn du gerade mal nicht schreibst.«

8.45 Uhr. Ich sitze am Schreibtisch und versuche mich an den Pulitzersatz zu erinnern. Erfolglos.

Nachtrag:

Es ist mittlerweile Dienstagmorgen. Ich sitze unruhig am Schreibtisch und bemühe mich erneut, meinen Text zu beenden. Das Telefon klingelt nicht. Ich schaue auf die Uhr. Beinahe neun Uhr. Nach weiteren Fehlversuchen meinerseits, mich auf meinen Text zu konzentrieren, nehme ich schließlich den Hörer selbst in die Hand und wähle die Nummer meiner Mutter. Nach zweimal Klingeln springt der Anrufbeantworter an. Nicht zu Hause. Auch auf dem Handy erreiche ich sie nicht.

Wo kann sie sein, morgens um diese Uhrzeit? Hoffentlich ist alles in Ordnung? Oder ist sie womöglich gestürzt, liegt irgendwo hilflos und kann das Telefon nicht erreichen?

Ob die Gegenteil-Dynamik genetisch ist?

Ich probiere es weiter. Stündlich. An Arbeiten ist natürlich nicht zu denken, denn ich mache mir Sorgen. Um elf Uhr überlege ich mir, zu ihr in die Wohnung zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Schnell noch kochen, den Kindern Bescheid sagen und noch ein einziges Mal anrufen. Die Schlüssel habe ich schon in der Hand. Es ist kurz nach zwölf.

»Ja bitte?« Meine Mutter meldet sich, als wäre alles wie immer.

»Ich bin es.«

»Wer?« Äh?

»Lucinde, deine Tochter.«

»Ach, Lucinde, du bist es! Ich hab dich gar nicht gleich erkannt, ich war in Gedanken noch beim Singen. Warum rufst du an?«

Warum rufe ich …?

»Ich … ach, ich wollte nur mal hören, was du machst und wie es dir so geht? Und zwar schon heute Morgen, aber dann habe ich dich nicht erreicht und mir Sorgen gemacht …«

»Sorgen? Um mich? Warum denn das? Hast du nichts zu tun?«

»Doch, ich, aber …«

»Ja, also, dann musst du dich wirklich nicht bei mir beschweren. Ich hab dich nicht angerufen. Und tut mir echt leid, aber ich kann nur ganz kurz sprechen, weißt du, ich habe mich nämlich mit Heidi zum Schwimmen verabredet, und dann wollte ich mit Elisabeth in diese Ausstellung und …«

»Ah, das hört sich doch gut an. Wollen wir dann vielleicht später …?«

»Heute ist es ganz schlecht. Heute Nachmittag wollte ich mal endlich meine Steuererklärung machen und später mit Elsie ins Kino. Da kommt doch dieser neue Film, den wollte ich schon lange anschauen. Morgen ist auch nicht so gut, aber am Freitag hätte ich eine Lücke. Wollen wir frühstücken gehen?«

Ich schwöre, ich mache mir nie wieder Sorgen. Meiner Mutter geht es sehr gut. Und wenn nicht, wird sie sich schon melden.

Aber frühstücken?

»Ansonsten können wir auch einfach morgen oder übermorgen noch mal telefonieren«, setzt sie nach, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Ich muss immer noch diesen Text beenden. Die Wäsche stapelt sich, und meine Kinder wären sicher froh, wenn mal wieder eine richtige, mit Liebe gekochte Mahlzeit auf dem Tisch stünde. Frühstücken gehen ist außerdem etwas, was ich nicht besonders gerne mag. Die Fülle an Kohlehydraten und das Gläschen Sekt, das für meine Mutter obligatorisch dazugehört, lähmen mich zuverlässig für den Rest des Tages. Er wird verloren sein. Also?

»Gern. Wo sollen wir uns treffen?«

Ich bin die Tochter meiner Mutter. Gegenteildynamisch vorbelastet. Und ich habe Folgendes für mich begriffen:

Wenn das Telefon klingelt, lege ich in Zukunft meinen virtuellen Stift beiseite und frage gleich, wie es meiner Mutter geht. Sie ist sowieso viel beschäftigter als ich, hat weniger Zeit, muss gleich weg – und dann kann ich weitermachen. Und wenn sie vielleicht doch Zeit für eine Verabredung hat, dann nutze ich die Chance und schiebe vielleicht auch mal den einen oder anderen meiner Pläne beiseite. Denn jeder Moment, den wir gemeinsam verbringen können, ist so kostbar wie kaum etwas anderes. Ich möchte nie bereuen, dass ich nicht jede Sekunde davon genutzt habe. Schließlich habe ich nur eine Mutter. Ich finde, die beste, die ich erwischen konnte. Und überhaupt: Wer braucht da schon einen Pulitzerpreis?

Mama im Unruhestand

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