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2.3.1 Das Deutsche

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Dieses Kapitel startet mit einem kurzen Überblick über die beiden deutschen Vergangenheitsformen, das Perfekt und das Präteritum. Darauffolgend wird argumentiert, dass ihre Semantik weitgehend bedeutungsgleich ist und dass die wenigen Unterschiede pragmatischer oder stilistischer Natur sind. Schließlich wird auf diverse Möglichkeiten des Deutschen eingegangen, Aspektualität auszudrücken.

Beim Präteritum (z. B. sie machte) handelt es sich um ein Vergangenheitstempus, „[das] eine Situation einem Referenzintervall zu[ordnet], das vor dem Sprechereignis liegt“ (Vater 2007: 53). In der Kleinschen Terminologie heißt dies, dass sich die Topikzeit (TT) vor der Zeit der Äußerung (TU) befindet (vgl. auch Rothstein 2007: 36–39).1

Im Unterschied zum Präteritum ist die Topikzeit beim Perfekt (z. B. sie hat gemacht) variabel in Bezug auf die Äußerungszeit (vgl. Vater 2007: 64). Ihre Lokalisierung vor der Äußerungszeit stellt die Standardinterpretation des Perfekts dar, dennoch kann durch die Situierung von TT simultan zu TU der so oft diskutierte Gegenwartsbezug erzeugt werden. Ob TT vor oder simultan zu TU lokalisiert wird und damit die Frage, ob eine perfektische2 oder eine vorzeitige Lesart in den Vordergrund rückt, hängt nicht von grammatikalischen, sondern von pragmatischen Verfahren ab (für eine ausführliche Analyse vgl. Klein 1999, 2000; Musan 1999; Welke 2005, 2010). Daraus folgt, dass das Perfekt „in seiner denotativen Bedeutung vollkommen synonym zum Präteritum“ ist (Welke 2010: 20). Seine Grundbedeutung ist demzufolge die eines Vergangenheitstempus, was dadurch deutlich wird, dass es in den meisten Fällen nicht in Opposition zum Präteritum tritt, sondern mit ihm ausgetauscht werden kann.

Diese weitgehende Austauschbarkeit beider Formen ist ein Zeichen dafür, dass das Deutsche keine obligatorischen, vollständig grammatikalisierten Mittel besitzt, um zwischen perfektiv und imperfektiv zu unterscheiden. Das Deutsche wird somit als Nicht-Aspektsprache gehandhabt (vgl. Andersson 2004; Ballweg 2004; Baudot 2004; Behrens et al. 2013; Bohnemeyer/Swift 2004; Schwenk 2012; Thieroff 1992; Zifonun et al. 1997). Im Hinblick auf die Perfektivität zeigt sich dies insofern, als durch das Hinzufügen eines gegenwärtigen Kontextes Sätze im Perfekt und im Präteritum nicht ungrammatisch werden (siehe conjunction test in Kapitel 2.1.2; Beispiele in Anlehnung an Smith 1997: 194):

(23) Letzten Sommer haben sie ein Haus gebaut. Es kann sein, dass sie das Haus noch immer bauen.
(24) Letzten Sommer bauten sie ein Haus. Es kann sein, dass sie das Haus noch immer bauen.

Sowohl die Verwendung des Perfekts (Beispielsatz 23) als auch jene des Präteritums (Beispielsatz 24) impliziert nicht, dass das Haus fertig gebaut wurde. Beide Sätze sind somit akzeptabel, was zeigt, dass die Begrenztheit nicht Teil der Semantik der beiden Tempora ist, sondern sich aus dem Kontext ergibt.

Auch die Analyse mithilfe des Kleinschen (1994) Tempussystems veranschaulicht, dass es zwischen Präteritum und Perfekt keine aspektuelle Unterscheidung im Sinne der Opposition perfektiv/imperfektiv gibt. Zur Illustration wird auf die in Kapitel 2.2 genannten Beispiele in etwas modifizierter Form eingegangen. Durch die questio des Richters wird ein Topikzeit-Intervall etabliert, zu dem die Situationszeit (TSit) in Bezug gesetzt wird. Ist die Topikzeit in der Situationszeit eingeschlossen, wird der imperfektive Aspekt dargestellt; ist TSit jedoch in TT enthalten, der perfektive (vgl. ebd.: 108). Beispielsweise könnte der Richter fragen, was der Zeuge zwischen 14 und 17 Uhr gemacht hat, was einem Topikzeit-Intervall von drei Stunden gleichkommen würde. Der Zeuge könnte das Folgende antworten:

(25) Ich habe einen Kaffee mit Freunden getrunken.
[ – – ]
(26) Ich trank einen Kaffee mit Freunden.
[ – – ]

Im Anschluss könnte der Richter vom Zeugen wissen wollen, was dieser beim Betreten des Raumes, in dem sich der Tote befand, gesehen hat. In diesem Fall ist TT punktueller Natur und TSit ist nicht auf das kurze Zeitintervall von TT beschränkt. Auf die Frage antwortet der Zeuge Folgendes:

(27) Ein Mann ist auf dem Boden gelegen.
– – – – [–] – – – –
(28) Ein Mann lag auf dem Boden.
– – – – [–] – – – –

In Sprachen, die über eine aspektuelle Unterscheidung verfügen, müsste für die Relation zwischen Topik- und Situationszeit in den Beispielsätzen 25 und 26 perfektive Morphologie, in den Beispielsätze 27 und 28 hingegen imperfektive Morphologie verwendet werden. Die Beispiele demonstrieren, dass sowohl das Perfekt als auch das Präteritum für dieselben aspektuellen Nuancen verwendet werden kann, und beweisen somit zusätzlich zum conjunction test, dass es im Deutschen keinen Aspekt im Sinne einer grammatischen Kategorie gibt.

Für die Unterscheidung von perfektiv und imperfektiv greift das Deutsche auf nicht grammatische Mittel zurück (z. B. lexikalische oder pragmatische). Beispielsweise argumentieren Bohnemeyer und Swift (2004; vgl. auch Ballweg 2004), dass die aspektuelle Interpretation in aspektlosen Sprachen von der Telizität der Prädikate abhängt:

[T]here are languages – e.g. German […] – in which the aspectual reference of clauses or verb phrases […] depends on the telicity of the event predicates they encode (Bohnemeyer/Swift 2004: 264).

Diesbezüglich führen sie den Begriff der „telicity-dependent aspectual reference“ ein (ebd.: 266). Wird die aspektuelle Information nicht morphologisch markiert, wird den Sätzen basierend auf der Telizität der Prädikate ein Aspekt-Operator zugeordnet:

By telicity-dependent aspectual reference, we mean the phenomenon that clauses or verbal projections not overtly marked for viewpoint aspect are assigned semantic viewpoint aspectual operators on the basis of the telicity of their event predicates (ebd.).

Daraus ergibt sich, dass Sätze mit atelischem Prädikat (z. B. die partitive Konstruktion an einem Brief schreiben in Beispiel 29) imperfektiv und Sätze mit telischem Prädikat (Beispiel 30) perfektiv interpretiert werden:

(29) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie an einem Brief. (imperfektiv)
(30) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie einen Brief. (perfektiv)
(Beispielsätze aus ebd.: 268)

Die Standardinterpretation von Satz 29 ist dementsprechend, dass Mary schon an einem Brief geschrieben hat, bevor der Raum betreten wurde. Beispielsatz 30 hingegen wird dermaßen interpretiert, dass Mary in dem Moment, in dem der Raum betreten wurde, begonnen hat, einen Brief zu schreiben. Bohnemeyer und Swift betonen, dass diese Deutungen nicht die einzig gültigen sind, sondern dass sie lediglich die Standardinterpretation der entsprechenden Sätze darstellen. Demnach handelt es sich um eine pragmatische Implikatur, woraus sich ergibt, dass durch einen anderen Kontext eine andere Interpretation erzeugt werden kann:

(31) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie einen Brief. Überrascht blickte sie auf, legte den Stift zur Seite, und lächelte mich an.
(Beispielsatz aus ebd.: 269)

Da in allen angeführten Beispielen prinzipiell beide Lesarten möglich sind, greift das Deutsche meist zusätzlich auf lexikalische Mittel zurück (z. B. Verbalperiphrasen), um die entsprechende Interpretation deutlich zu machen. Durch inchoative Verben wie beginnen kann beispielsweise die perfektive Lesart hervorgehoben werden:

(32) Als ich Marys Büro betrat, begann sie, einen Brief zu schreiben.

Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von Präfixen. In Beispielsatz 33 wird beispielsweise durch das Präfix {aus-} die Perfektivität der Handlung betont:

(33) Johann hat das Glas Wasser ausgetrunken.

Progressivität hingegen wird unter anderem durch die Verwendung von Adverbien wie gerade akzentuiert (vgl. Ebert 2000: 631; Heinold 2015: 63–64):

(34) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie gerade an einem Brief.

Das Adverbium gerade kann mit allen Tempora und Aspekten (auch mit Progressiv-Konstruktionen) kombiniert werden und ist als rein lexikalische Ausdrucksweise von Progressivität zu verstehen (vgl. Ebert 2000: 631). Darüber hinaus ist es möglich, gerade als lexikalische Modifizierung zur Disambiguierung zweideutiger Sätze einzusetzten. In Beispielsatz 36 wird das Adverb verwendet, um die Ambiguität des Satzes zwischen einer habituellen und einer progressiven Lesart aufzuheben (vgl. Heinold 2015: 64):

(35) Ich rauche. (habituell oder progressiv)
(36) Ich rauche gerade. (progressiv)

Eine weitere Möglichkeit, den dynamischen Charakter einer Handlung zu betonen, ist die Verwendung von dabei + sein (finit) + zu (vgl. Ebert 2000: 607). Diese Periphrase ist, anders als beispielsweise die am-Periphrase, auch in der Standardsprache verwendbar (vgl. Ballweg 2004: 78):

(37) Als ich Marys Büro betrat, war sie dabei, an einem Brief zu schreiben.

Die am-Periphrase (auch ,rheinische Verlaufsform‘) wird mithilfe von sein (finit) + am + substantivierter Infinitiv gebildet (vgl. Ebert 2000: 607). Sie wird in der Literatur auch als deutsches Progressiv bezeichnet und „kennzeichnet […] den entsprechenden Prozeß als im Verlauf befindlich, es liegt also eine Binnenperspektive vor, Grenzen werden nicht sichtbar“ (Zifonun et al. 1997: 1877). Die Frage, ob diese Form bereits vollständig grammatikalisiert ist, wird in der Literatur intensiv diskutiert (vgl. Heinold 2015: 60–66). Das obere Ende des Spektrums nimmt Thiel (2008: 13) ein, die das deutsche Progressiv „in verschiedenen sprachlichen Registern und geografischen Regionen“ nachgewiesen und eine Liste sprachnormierender Instanzen erstellt hat, welche die am-Periphrase anerkennen. Auch Van Pottelberge (2005: 171) argumentiert, dass die rheinische Verlaufsform „unbestreitbar zu den systematisch bildbaren Einheiten der Grammatik [gehört] und […] in diesem Sinne eine grammatikalisierte Verbform [ist]“. In seiner Darstelltung erkennt er aber an, dass der Funktionsbereich der Periphrase insofern relativ eingeschränkt ist, als ihr Gebrauch nicht obligatorisch und in der deutschen Standardsprache nicht sehr häufig ist. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Ballweg (2004: 78), der erwartet, „dass bei fortschreitendem Grammatikalisierungsprozess das Deutsche der Zukunft über ein [vollständig grammatikalisiertes] Progressiv verfügen wird“. Auch wenn Behrens, Flecken und Carroll (2013) dem am-Progressiv eine systematische Bildung nicht absprechen, können sie anhand ihrer empirischen Studie zeigen, dass L1-Sprecher des Deutschen die Periphrase kaum aktiv produzieren. Daraus schließen sie, dass die Progressivperiphrase keine grammatikalische Option im Standarddeutschen ist (vgl. Behrens et al. 2013: 126; vgl. auch Mair 2012: 804 für eine ähnliche Sichtweise). Ebert (2000: 606) und Ballweg (2004: 78) stellen außerdem fest, dass die rheinische Verlaufsform hauptsächlich in informalen Kontexten und in der gesprochenen Sprache verwendet wird. Schließlich sei an dieser Stelle erwähnt, dass es noch weitere Periphrasen gibt, wie beispielsweise beim + substantivierter Infinitiv + sein oder im + substantivierter Infinitiv + sein, die allerdings eine wesentlich eingeschränktere Verwendung aufweisen (vgl. Ebert 2000: 630–631).

Auch Habitualität wird im Deutschen nicht mithilfe grammatischer Mittel markiert. Typisch ist die Verwendung von Adverbien wie immer oder für gewöhnlich (vgl. Heinold 2015: 66) oder des infinitivregierenden Verbs pflegen (vgl. Barz et al. 2009: 410; Dahl 1985: 96). Aufgrund des geringen Stellenwerts wird der Ausdruck von Habitualität in deutschen Grammatiken normalerweise nicht oder nur bedingt besprochen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Deutsche über keine grammatikalischen Mittel verfügt, um aspektuelle Unterschiede auszudrücken. Um zwischen Perfektivität und Imperfektivität zu unterscheiden, greift es auf pragmatische oder lexikalische Ausdrucksmittel wie Adverbien oder nicht vollständig grammatikalisierte Periphrasen zurück. Im nächsten Kapitel wird auf das Englische eingegangen und es wird dargelegt, wie Aspektualität in dieser Sprache ausgedrückt wird.

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