Читать книгу Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen - Lukas Eibensteiner - Страница 6
1 Einleitung
ОглавлениеIn Deutschland haben im Schuljahr 2018/19 fast 500.000 Schülerinnen und Schüler1 allein an allgemeinbildenden Schulen fremdsprachlichen Unterricht im Fach Spanisch erhalten (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Spanisch ist damit nach Englisch, Französisch und Latein diejenige Fremdsprache, die in dieser Schulform am meisten unterrichtet wird – Tendenz steigend. An deutschen Schulen wird Spanisch in der Regel als Dritt- oder Viertsprache angeboten (vgl. Bär 2012: 37). Dies bedeutet, dass Spanischlernende nicht bei null anfangen, sondern auf zahlreiche sprachliche Wissensressourcen zurückgreifen können. „Es wäre [daher] in höchstem Maße unvernünftig und unökonomisch, diese Wissensressourcen nicht im Fremdsprachenunterricht zu verwerten – ignorieren läßt sich vorhandenes Sprachwissen ohnehin nicht“ (Müller-Lancé 2006b: 462). Die Didaktiken der romanischen Sprachen plädieren deshalb nicht umsonst für eine Implementierung sprachvernetzender Ansätze in den Fremdsprachenunterricht (vgl. Fernández Ammann et al. 2015; Leitzke-Ungerer et al. 2012; Meißner/Reinfried 1998a; Klein/Stegmann 1999; Reimann 2016; Rückl 2016). Mehrsprachigkeitsdidaktische Lehrwerke (vgl. Holzinger et al. 2012) und die Integration solcher Ansätze in die meisten Lehrpläne (vgl. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz 2012) sind diesbezüglich wichtige Meilensteine, auch wenn weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen.
Ein wesentliches Merkmal dieser sprachvernetzenden Ansätze stellt das Ziel dar, das Transferpotential der Lernenden optimal zu nutzen. Obwohl es Studien im Bereich der romanistischen Fremdsprachendidaktik gibt, die sich unter anderem mit Transfer befassen (vgl. beispielsweise Bär 2009), findet sich kaum Grundlagenforschung, die Transferphänomene zwischen den im deutschsprachigen Raum häufigsten Schulfremdsprachen aus einer (psycho-)linguistischen Perspektive untersucht. Diesem Forschungsdesiderat wird sich das vorliegende Werk widmen.
Die Unterscheidung der beiden spanischen Vergangenheitstempora perfecto simple und imperfecto stellt ein großes Problem für deutschsprachige Lernende des Spanischen dar. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass es die Opposition von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Deutschen nicht gibt. Obwohl zahlreiche Untersuchungen vorhanden sind, die sich mit dem Zweitspracherwerb dieser beiden Tempora beschäftigt haben (vgl. Comajoan 2014; Salaberry 2008), finden sich kaum Studien, die explizit deutschsprachige Lernende oder den schulischen Kontext erforschen (vgl. Hinger 2016, 2017 und Diaubalick/Guijarro-Fuentes 2016, 2017, 2019 für zwei Ausnahmen). Darüber hinaus gibt es keine Studien, welche das Spanische als Drittsprache fokussieren und den Einfluss von sprachlichem Vorwissen auf den Erwerb des perfecto simple und des imperfecto analysieren. Gerade dieses sprachliche Vorwissen stellt aber eine große Hilfe beim Erwerb des Spanischen dar. Während es im Deutschen die Unterscheidung zwischen perfektiv und imperfektiv nicht gibt, können die Lernenden prinzipiell sowohl auf das Englische (progressive-Form) als auch auf das Französische (passé composé, passé simple, imparfait) oder das Lateinische (Perfekt, Imperfekt) zurückgreifen. Inwiefern germanophone Spanischlerner von diesem Vorwissen beeinflusst werden bzw. es für den Erwerb der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto nutzen können, stellt die Leitfrage der vorliegenden Arbeit dar.
Zur Beantwortung dieser übergeordneten Forschungsfrage werden quantitative und qualitative Methoden trianguliert. Das Untersuchungssetting beinhaltet einen C-Test, mündliche Sprachproduktionsdaten, semantische Interpretationsaufgaben in drei Sprachen, einen Fragebogen sowie eine stimulated-recall-Reflexionsaufgabe. Die Studie wurde mit 109 germanophonen, schulischen Lernenden des Spanischen als Drittsprache (L3) durchgeführt. Die Ergebnisse der Untersuchung deuten darauf hin, dass der sogenannte L2-Status sowie sprachstrukturelle und typologische Faktoren für die Wahl der Transferbasis entscheidend sind. Da zwischen dem Deutschen und dem Spanischen hinsichtlich der Unterscheidung von perfektiv/imperfektiv keine sprachstrukturellen Ähnlichkeiten bestehen, transferieren die Lernenden ihr aspektuelles Wissen aus einer Zweitsprache (L2), das heißt aus dem Englischen oder dem Französischen. Dieses Resultat, dass im L3-Erwerb primär das L2-System transferiert wird bzw. dass typologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen, steht im Einklang mit zahlreichen Studien und Modellen, wie beispielsweise dem Rollen-Funktions-Modell (vgl. Williams/Hammarberg 1998), dem L2-Status-Faktor-Modell (vgl. Bardel/Falk 2007) oder dem Typological Primacy Model (vgl. Rothman 2010a). Diese gängigen Transfermodelle werden mit der Default Past Tense Hypothesis von Salaberry (2000, 2008), die den L2-Erwerb von perfektiv/imperfektiv im Spanischen beschreibt, verknüpft. Die Verzahnung von Salaberrys Hypothese mit den Transfermodellen ermöglicht eine Ausweitung derselben, wodurch sie den Bedürfnissen des L3-Erwerbs gerecht wird. Diese erweiterte Form wird als Extended Default Past Tense Hypothesis bezeichnet.
Für die Fremdsprachendidaktik bedeuten diese Ergebnisse einerseits, dass das gesamte sprachliche Repertoire der Lernenden ausgeschöpft werden sollte und dass sprachliches Vorwissen vor allem dann zu positivem Transfer führt, wenn sprachstrukturelle Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen vorhanden sind. Diese in der Theorie durchaus schon lange vorhandenen Annahmen werden durch die empirische Evidenz der vorliegenden Studie untermauert.
Die Arbeit gliedert sich neben der Einleitung in sieben weitere Kapitel, von denen die ersten vier theoretischer Natur sind. Die letzten drei befassen sich mit dem Untersuchungsdesign, den Ergebnissen und der Interpretation derselben. In Kapitel 2 werden einige Grundbegriffe der Tempus- und Aspektforschung eingeführt und mithilfe von Beispielen veranschaulicht. Dies betrifft vor allem die Abgrenzung von lexikalischem/grammatikalischem Aspekt und Tempus. Im Anschluss werden die Vergangenheitssysteme der in der vorliegenden Arbeit behandelten Einzelsprachen näher erläutert. Es wird zuerst auf die beiden germanischen Sprachen, Deutsch und Englisch, eingegangen, bevor im Anschluss daran das Lateinische beschrieben wird. Im letzten Teil des Kapitels werden die romanischen Sprachen, Französisch und Spanisch, dargestellt.
Kapitel 3 beschreibt grundlegende Begrifflichkeiten der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung. Es wird auf die Explizit-implizit-Debatte eingegangen und die deklarativ-prozeduralen Modelle von Ullman (2001) und Paradis (2009) werden vorgestellt. Darauffolgend wird in Anlehnung an das Faktorenmodell von Hufeisen (2000) dargelegt, warum sich der Erwerb einer Zweit- von jenem einer Drittsprache unterscheidet.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit Transfereffekten im Zweit- und Drittspracherwerb und geht dabei auf verschiedene Einflussfaktoren, wie beispielsweise die Sprachtypologie, die Psychotypologie oder das Sprachniveau ein. In der Folge werden unterschiedliche Transfermodelle erörtert. Zu diesen zählen sowohl holistische Mehrsprachigkeitsmodelle (vgl. Herdina/Jessner 2002) als auch Transfermodelle aus dem Bereich der kognitiven Linguistik (vgl. Jarvis 2011) sowie der generativistischen Zweit- und Drittspracherwerbsforschung (vgl. Flynn et al. 2004). Des Weiteren werden die L2-Status-Faktor-Modelle beschrieben (vgl. Bardel/Falk 2007).
Studien, die sich mit dem Erwerb von perfektiv/imperfektiv in einer Zweit-/Drittsprache beschäftigen, werden schließlich in Kapitel 5 behandelt. Im ersten Teil werden unterschiedliche Hypothesen besprochen (z. B. Lexical Aspect Hypothesis (vgl. Andersen 1986), Default Past Tense Hypothesis (vgl. Salaberry 2000)) und es wird auf Untersuchungen eingegangen, die empirische Evidenz für die entsprechenden Hypothesen liefern. Der zweite Teil beschäftigt sich mit L1- und L2-Transfer im Bereich des L3-Erwerbs von perfektivem und imperfektivem Aspekt.
Mit Kapitel 6 beginnt der empirische Teil der Arbeit. Es geht zuerst auf die Forschungsfragen und Hypothesen der Hauptstudie ein. Im Anschluss daran wird das Untersuchungsmaterial vorgestellt und kritisch diskutiert, worauf eine Charakterisierung der Probanden folgt. Am Ende steht eine kurze Beschreibung der Vorgehensweise sowie der Datenkodierung und -auswertung.
In Kapitel 7, das sich in einen quantitativen und einen qualitativen Abschnitt untergliedert, werden schließlich die Ergebnisse der Hauptstudie präsentiert. Im quantitativen Teil wird der Einfluss des englischen und französischen Aspektwissens sowie der schulischen Sprachenfolge auf den Erwerb von perfektiv/imperfektiv im Spanischen dargestellt. Im qualitativen Teil werden die Aussagen der Lernenden bezüglich expliziten Regelwissens als auch im Hinblick auf eine sprachvergleichende Herangehensweise analysiert.
Schließlich werden in Kapitel 8 die Ergebnisse zusammengefasst und unter Rückgriff auf die bestehende Forschungsliteratur diskutiert. Am Ende des Kapitels steht eine Auflistung der Limitationen der Studie und es werden Handreichungen für zukünftige Untersuchungen gegeben. Ein Abschnitt zu didaktischen Implikationen sowie ein kurzes Fazit beschließen die vorliegende Arbeit.