Читать книгу Zerbrochen auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 4
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ОглавлениеHauptkommissar Lars Petersen, Chef des Polizeipostens Wangerooge, saß an seinem Schreibtisch. Rechts neben ihm dampfte sein Kaffeepott. Direkt vor ihm lag eine Personalakte in einem roten Aktendeckel mit der Aufschrift „Ronald Rohde“. Irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen, die Akte zu öffnen. Er wusste zwar nur ungefähr, was diese Mappe beinhalten würde, befürchtete aber dennoch, dass dieser Inhalt die Wunden seiner eigenen Vergangenheit erneut wieder aufreißen könnte.
Petersens Kollege und Freund Jens Siebert, Erster Hauptkommissar im Referat Organisierte Kriminalität (OK) in Bremen, hatte ihn um diesen Gefallen gebeten, den er nicht ausschlagen konnte. Bei einem Polizeieinsatz in Bremen-Gröpelingen war ein 54 Jahre alter Marokkaner durch Schüsse aus einer Dienstwaffe getötet worden. Die Beamten waren aufgrund einer „vermutlich psychosozialen Krise“ gerufen worden. Angeblich ging es um die Räumung eines Kellers, die den Mann erregte und dazu führte, dass er die Polizisten mit dem Messer angriff. Die Beamten versuchten, den Mann zu beruhigen, dieser bewegte sich aber trotz der Warnungen weiter in Richtung der Einsatzkräfte. Die Aufforderung, das Messer wegzulegen, ignorierte er. Einer der Polizisten machte daraufhin von seiner Schusswaffe Gebrauch. Noch im Krankenhaus erlag der Angeschossene seinen Verletzungen. Anwohner hatten den kompletten Vorfall mit dem Handy gefilmt. In allen sozialen Netzwerken kursierte das Video und führte zu entsprechenden Reaktionen. In der links-alternativen Szene wurde dieser Vorgang als Beleg für den latenten Rassismus der Polizei gewertet und eine Verbindung zu ähnlichen Vorgängen in den USA hergestellt. In der rechten Szene wurde Beifall für das harte Durchgreifen der Polizei geklatscht.
Das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren gegen den Polizisten, das nach diesem Schusswaffengebrauch durchgeführt wurde, entlastete den Beamten. Auch das behördeninterne Ermittlungsverfahren kam zu dem gleichen Ergebnis. Der Polizist, der geschossen hatte, war traumatisiert. Die behandelnden Psychologen schlugen vor, den Beamten für ein Jahr aus dem bremischen Polizeidienst rauszunehmen. In diesem aufgeheizten Umfeld sahen sie kaum Chancen auf eine Wiedereingliederung in den normalen Polizeidienst.
Der Beamte, um den es hier ging, hieß Ronald Rohde. Immer noch hatte Petersen die Akte nicht geöffnet. Siebert hatte ihm klar gemacht, dass ein Jahr Wangerooge dem Beamten guttun würde und Petersen sei ein sehr gutes Beispiel für die Erfolgsaussichten einer solchen „therapeutischen Maßnahme“. Er hatte die Anspielung verstanden, denn Petersen selbst war in Folge einer Disziplinarmaßnahme nach Wangerooge gekommen. Allerdings hatte er sich gegen eine Rückkehr nach Bremen entschieden. Er stand auf, blickte aus dem Fenster. Die Sonne zeigte sich nur ganz vorsichtig. Die Insel erwartete nach dem Abflauen der Pandemie einen ersten großen Besucheransturm. Hilfe konnte er also gut gebrauchen. Trotzdem war ihm bei dem Gedanken, quasi als Therapeut auftreten zu müssen, unwohl. Gerne hätte er die Problematik mit seiner Kollegin Heike Wohlers besprochen, die aber noch im Urlaub mit ihrem Freund, dem Korvettenkapitän, war. Stefan Lüders wollte diesen Urlaub eigentlich auf Wangerooge verbringen, aber Heike hatte nach den Erfahrungen des letzten Novembers ihr Veto eingelegt. Sie hatte keine Lust, an dem Ort, an dem sie arbeitete, auch noch ihren Urlaub zu verbringen und außerdem würden sie sowieso nur die Hälfte der Zeit im „Störtebeker“ rumhängen. Zwar hätte Lüders gerne ein paar Kneipensitzungen mit Lars Petersen und dem Magister absolviert, aber im Grunde musste er Heike Recht geben. Die Woche Urlaub verbrachten sie daher in Braunlage im Harz. Urlaub vom Meer war ihre Devise.
Petersen hatte sich Kaffee nachgeschenkt. Erst in zwei Tagen würde Heike zurückkommen. Langsam öffnete er die Akte und begann, die Protokolle und dienstlichen Beurteilungen zu lesen. Je mehr er sich in die Vorgänge vertiefte, umso unwohler wurde ihm. Was sollte ihm das alles bringen? Die Vorgänge in Bremen konnte er aus der Ferne sowieso nicht beurteilen. Ronald Rohde war augenscheinlich ein junger Streifenpolizist, der bis dato völlig unauffällig seinen Dienst verrichtet hatte. Das reichte ihm. Entschlossen klappte er die Akte zu. Petersen nahm sich vor, ihm ohne Vorurteile zu begegnen, so wie ihm seine Kollegen damals auf der Insel selbst begegnet waren. Morgen würde er den Kollegen Rohde vom Bahnhof abholen, so wie er schon viele neue Kollegen abgeholt hatte. Mit jedem verband er eine eigene Geschichte. Er musste an Mona, Bernhard und Rieke denken. „Jetzt bloß nicht melancholisch werden, Alter“, sagte er halblaut zu sich selbst, griff nach seiner Uniformjacke und ging zielstrebig in Richtung Promenade. Er hatte das Meer heute noch nicht gesehen.
Auf der Promenade bereitete man sich auf den zu erwartenden Ansturm vor. Die ersten Lockerungen für die Gastronomie nach der Pandemie nährten die Hoffnung der Wirte auf gute Geschäfte. In der Schirmbar wurden Tische und Stühle für den Außenbereich hergerichtet und sauber gemacht. Der E-Karren des Getränkeverlags brachte die erste Ladung Jever-Fässer. Petersen stülpte sich kurzzeitig eine FFP2 Maske über sein leichtes Doppelkinn. Wie er die Dinger doch satt hatte, aber nutzte ja alles nichts, gerade er als Polizist musste sich in seiner Vorbildfunktion absolut korrekt an die Hygienemaßnahmen halten. Hoffentlich ist das bald vorbei, dachte er und holte sich schnell einen Cappuccino aus dem „Diggers“ und stellte sich draußen an einen der Stehtische. Die See war nur leicht bewegt. Die Sandauffahrmaßnahmen waren noch nicht ganz beendet. Der ein oder andere Dumper quälte sich noch durch den Sand, um seine Ladung am Hauptstrand auszukippen. Er musste an Susanne denken, die da draußen irgendwo mit „ihrem“ Schiff herumschwamm. Ihre Beziehung, wenn es denn eine war, wurde von ihren dienstlichen Bedingungen bestimmt. Er kam nur selten von der Insel und sie war teilweise zwei Wochen auf See, um dann aber wieder eine Ruhephase zu haben. Häufig besuchte sie in dieser Zeit für ein paar Tage die Insel. Eine Lösung für dieses Distanzproblem gab es nicht. Beide wollten und konnten ihre Jobs nicht aufgeben. Manchmal wünschte er sich mehr Nähe. Auf der anderen Seite konnte diese Alltagsnähe auch den Reiz einer Beziehung zerstören. Er wischte diese Gedanken beiseite. „Es ist so wie es ist“, sagte er seufzend zu sich selbst und winkte dem Schweden zu, der gerade in bewundernswerter Schönschrift das Tagesgericht auf die Außentafel schrieb.
Größere Sorgen bereitete Petersen die Sache mit Rohde. Er war nun weiß Gott kein Psychotherapeut, auch fehlte ihm bestimmt das nötige Einfühlungsvermögen, um mit einem so stark verunsicherten Kollegen umgehen zu können. Vielleicht konnte Heike hier eine Hilfe sein. Solange auf der Insel nichts passierte, konnten sie ihn sicher an der langen Leine laufen lassen, aber was war, wenn es zu Stresssituationen kommen sollte? „Blödsinn“, sagte er laut, verließ den Stehtisch und brachte seine Tasse zurück. Er musste die Dinge einfach auf sich zukommen lassen. In der Ruhe liegt die Kraft, dachte er und wunderte sich zugleich, wie er sich selbst mit einer solch abgedroschenen Phrase beruhigen wollte.
Rund um die Schirmbar wurden Paletten zusammengenagelt, um sie dann mit Hilfe von Polstern in gemütliche Sitzgelegenheiten zu verwandeln. Wie lange würde es diese schöne Szenerie an der Promenade noch geben? Seit über zehn Jahren wurde von der Gemeinde ein Hotelprojekt an der Oberen Strandpromenade geplant. Von dem Verkauf dieser Liegenschaft versprachen sich die Lokalpolitiker eine mittelfristige Lösung der Finanzprobleme der Gemeinde. Man wollte Luft für neue Investitionen bekommen. Nun hatte der Rat sich auf einen Investor festgelegt, der gleich zwei Hotels an dieser Stelle errichten wollte. Einmal für die zahlende Kundschaft einen 5-Sterne-Komplex mit 96 Suiten und auf der Dachterrasse eine Orangerie als Restaurant. Für die junge Generation war ein 3-Sterne-Hotel mit 115 Zimmern geplant, Sky Bar auf dem Dach mit Pool und Gewächshaus. Darüber hinaus war von einer hoteleigenen Kaffeerösterei, einer Bier- und Schnapsbrennerei die Rede. Petersen wurde etwas schwindelig, als er versuchte, sich dies alles vorzustellen. Es war allerdings mehr als fraglich, ob er die Fertigstellung dieses Projektes noch während seiner aktiven Dienstzeit erleben würde. Langsam ging er in Richtung „Pudding“, hielt unterwegs zwei Fahrradfahrer an, die unerlaubt auf der Promenade radelten. Eine ältere Dame, die ihren Hund spazieren führte, klatschte Beifall. „Endlich machen Sie mal etwas gegen die Radler auf der Promenade.“