Читать книгу Zerbrochen auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 5
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ОглавлениеAus der Ferne hörte er schon das Rattern der Rollkoffer, die über die Zedeliusstraße gezogen wurden. Scheiße, dachte er, der Zug ist schon früher angekommen. Wahrscheinlich war die Tide günstig, so dass das Schiff einfach schneller war. Petersen erhöhte seine Schrittzahl. Der Kollege wäre sicherlich enttäuscht, wenn ihn niemand pünktlich auf dem Bahnsteig in Empfang nehmen würde. Um die großen silbernen Container hatten sich Trauben von Menschen gebildet, die nach ihren Koffern suchten. Am „Hangar 7“ grüßte er kurz die Angestellte, die gerade Zeitungen in den dafür vorgesehenen Ständer einsortierte. Vielleicht sollte er auf dem Rückweg die Bremer Tageszeitung mitnehmen. Etwas unruhig suchte er den Bahnhofsvorplatz nach einer Polizeiuniform ab. Oder war der Kollege nicht in Uniform angereist? Jetzt trat er auf den Bahnsteig und tatsächlich, am Ende, in Höhe des Fahrdienstleiter-Büros, stand ein Mann in Uniform mit einem kleinen Trolley und starrte auf sein Handy.
„Moin, Herr Kollege“, rief Petersen ihm zu, „Entschuldigung, ich habe gar nicht mitbekommen, dass das Schiff früher gekommen ist.“
Petersen blickte in das freundliche Gesicht eines mittelgroßen jungen Mannes, der ihm mit momentan üblichem Gruß, seine Faust entgegenstreckte.
„Moin, Sie sind sicher Kollege Petersen. Ich habe auf dem Handy nach dem Weg zum Revier gesucht.“
„Das mit dem Sie lassen wir mal schnell. Ich bin Lars.“
„Ronald, aber alle, auch meine Kollegen, nennen mich Ronny.“
„Ronny, das war doch mal ein bekannter Schlagersänger aus Bremen.“
„Kenn‘ ich nicht. Das war wohl vor meiner Zeit.“
„Ja, ganz bestimmt. Immer, wenn solche Namen fallen, denke ich an Musiker aus vergangenen Zeiten. Das ist so eine Marotte von mir. Also wir holen jetzt erst mal deine Koffer und lassen sie von Bodo ins Revier bringen.“
„Bodo?“ blickte Ronny Petersen fragend an.
„Bodo betreibt hier den Gepäckdienst auf Wangerooge. Er ist so eine Art Kultfigur. Aber Vorsicht, er ist HSV-Fan.“
Ronny lachte. Seine Angst vor der ersten Begegnung mit dem Revierleiter war verflogen. Dieser Petersen schien ganz locker drauf zu sein. Hoffentlich war er das auch in dienstlichen Belangen.
Petersen hielt Bodo die Gepäckscheine hin und kam grinsend zurück.
„Musste gleich noch einen Spruch wegen der schlechten Leistung von Werder kassieren. Aber das gehört dazu. So, wir gehen jetzt ins Revier, trinken zusammen einen Kaffee und beschnacken, wie es weitergehen soll.“
Auf dem Weg in die Charlottenstraße gab Petersen einige Hinweise zum Leuchtturm. Als sie beim „Störtebeker“ in die Friedrich-August-Straße abbogen, verkniff er sich jegliche Bemerkung über seine Stammkneipe. Noch konnte er Ronny in dieser Hinsicht nicht einschätzen.
Als Ronny seine Koffer oben in seine kleine möblierte Dienstwohnung gebracht hatte und nach einiger Zeit wieder ins Dienstzimmer runterkam, spürte Petersen sofort die Stimmungsveränderung in Ronnys Gesicht. Sein offenes freundliches Gesicht war verschwunden, die Mundwinkel hingen hinunter. Petersen glaubte, eine gewisse Verzweiflung zu beobachten. Diese Szenerie erinnerte ihn an sein eigenes Ankommen auf der Insel. Die möblierte Dienstwohnung, die den Charme der 70er Jahre versprühte, die Gewissheit, dass man nun auf einem vermeintlichen Abstellgleis gelandet war, hatten auch bei ihm damals depressive Gefühle ausgelöst. Nachdem Ronny sich schweigend gesetzt hatte, reichte Petersen ihm einen Kaffeepott mit dampfendem Kaffee.
„Nicht ganz einfach jetzt, oder?“, versuchte Petersen möglichst einfühlsam das Gespräch zu eröffnen, „mir ist es am Anfang auch so ergangen. Die Geschichte erzähle ich dir aber mal später. Sag mal, bist du eigentlich verheiratet oder hast eine feste Freundin, die dich hier mal besucht? Wangerooge im Sommer, das ist hier schon toll, da kommt Urlaubsfeeling auf und so viel ist hier im Sommer für uns auch nicht zu tun.“
Ronny schluckte. Seine Augen wurden glasig. Scheiße, das war jetzt voll danebengegangen, dachte Petersen und wollte sofort das Thema wechseln, da brach es aus Ronny heraus.
„Meine Freundin hat sich gleich nach dem bekannten Vorfall von mir getrennt“, sagte er mit brüchiger Stimme.
Petersen war jetzt bewusst, dass er in ein Wespennest gestoßen hatte. „Warum das denn?“, fragte er.
„Sie ist Grundschullehrerin und wurde von ihren Kolleginnen wegen mir gemobbt, das hat sie nicht mehr ausgehalten.“
„Wie gemobbt?“
„Ist das nicht dein Freund, der den Ausländer erschossen hat, sag mal, ist der Rassist? Wie kannst du mit dem zusammen sein, so in diesem Stil.“
„Bitter, aber da schmeißt man doch nicht gleich die Beziehung weg?“
Ronny zuckte traurig mit den Achseln.
„Worüber ich am meisten sauer bin, ist die Tatsache, dass ich mit meiner Kollegin in eine Situation geraten bin, die hätte vermieden werden können.“
Junge, rede dir jetzt deinen Frust von der Seele, das ist gut, dachte Petersen und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl bequem nach hinten. „Inwiefern?“, hakte er dann nach.
„Der Mann stand unter Vormundschaft oder psychischer Betreuung. Wenn da eine Wohnung oder ein Keller geräumt werden soll, ruft man doch nicht gleich die Polizei, und wenn es doch notwendig ist, müssen die Betreuer, die ein Vertrauensverhältnis zu dem Mann haben, dabei sein. Oder sehe ich das falsch?“
Petersen schüttelte mit dem Kopf. „Ich glaube nicht.“
„Wir als Streifenpolizisten stehen dann am Ende der Kette, wenn die Lage eskaliert. Meine Kollegin und ich haben den Mann mehrfach aufgefordert, das Messer wegzulegen. Meine Kollegin hat Pfefferspray eingesetzt, hat nicht gewirkt, die Entfernung war zu groß. Dann läuft der mit gestrecktem Messer auf uns zu. Was sollte ich denn machen?“
Ronny hatte jetzt einen roten Kopf, und begann zu schwitzen. Petersen schenkte Kaffee nach, aber Ronny war noch nicht fertig.
„Ja, warum hat der nicht auf die Beine geschossen, haben sie dann gesagt. Das ist gar nicht so einfach, wenn jemand sehr aggressiv auf dich zuläuft. Das ist komplett anders als beim Schießtraining. Übrigens, war mir gar nicht klar, dass der Mann Marokkaner war. Und außerdem, das mit dem Schießen sieht von außen immer viel einfacher aus. Was, glaube ich, daran liegt, dass die Leute im Fernsehen so viele Krimis gucken.
Petersen nickte zustimmend. „Schusswechsel werden nach meiner Meinung dort sehr unrealistisch dargestellt. Ich hatte im November hier in der Inselbahn einen Einsatz, bei dem ich auf die Hand, in welcher der Täter eine Pistole hielt, gezielt habe. Was habe ich getroffen, die Schulter. Das zu dem Thema, hätte, hätte….“
Ronny nahm einen Schluck aus dem Kaffeepott, von dessen Vorderseite ihn ein Seehund mit Kapitänsmütze breit angrinste.
„Wie haben sich denn deine Kollegen und die Dienstaufsicht verhalten?“, hakte Petersen nach.
„Das war alles okay. Sachliche Fragen, keine Vorwürfe. Was wirklich schwierig war und ist, sind diese Rassismusvorwürfe, da habe ich richtig dran zu knapsen, weil Rassismus mir total fremd ist. Dann kommt die andere Seite. In einem rechtsradikalen Portal nennen sie mich „RR 7, der Terminator. Das ist doch alles irre. Ich bin nur ein kleiner Streifenpolizist und bin in eine unübersichtliche Situation geraten. Leider hat das ein Menschenleben gekostet, damit muss ich jetzt leben.“
Petersen nickte wieder. „Wenn man Polizist wird, kann man in eine solche Situation geraten. Das ist leider so und das hört sich jetzt etwas altväterlich an. Aber die Kollegen vor Ort sind immer die Gekniffenen, die leider in Situationen geraten, für die sie nicht verantwortlich sind, aber den Kopf hinhalten müssen.“
Petersen stand auf. „So, Ronny, jetzt schauen wir nach vorne. Ich zeige dir jetzt die Insel. Das Meer ruft.“
Ein leichtes Lächeln huschte über Ronnys Gesicht.
Petersen wählte den Weg durch die Zedeliusstraße. Zu jedem Geschäft oder Restaurant gab es eine kurze Erklärung.
„Na endlich“, brüllte eine Stimme von der Terrasse des Lokals „Buhne 35“, „mal keine junge Frau, bei der du in Versuchung gerätst, sondern ein vernünftiger Kerl.“
„Das hat uns jetzt noch gefehlt“, stöhnte Petersen, dem die Bemerkung peinlich war. Was sollte Ronny von ihm denken?
„Wer ist das denn?“
„Das ist unser legendärer Kneipenwirt, der Magister.“
Langsam drehte sich Petersen zu dem Rufer um. „Was redest du denn da in deinem Cappuccino-Rausch. Ich darf dir hier den neuen Kollegen, Ronny Rohde aus Bremen, vorstellen.“
„Ronny, Ronny? Oh, my Darling Caroline,“ intonierte er. „Das war sein größter Hit. Aber erst mal Moin, willkommen auf der Insel der Verdammten.“
Petersen bekam einen Schweißausbruch. Voll ins Fettnäpfchen getreten. Diese Bemerkung war völlig unpassend und das im Beisein von Ronny, der aber zum Glück nicht reagierte.
Schnell drängte Petersen zum Aufbruch. „Wir müssen weiter.“
„Was habt ihr denn eigentlich immer mit diesem Ronny?“
„Wenn in Bremen mal jemand etwas bekannter wird, dann sind alle fürchterlich stolz. Das war 1964, lange vor deiner Zeit, also keine Bildungslücke.“
Sie hatten jetzt fast das „Pudding“ erreicht, als Petersens Handy klingelte. Ronny hörte nur ein kurzes „Okay“ und „ja, machen wir“, dann war das Gespräch auch schon wieder beendet.
„Ein Containerschiff hat vor Schiermonnikoog Container verloren. Wir sollen unsere Augen offen halten.“
„Versteh ich nicht? Was haben wir denn damit zu tun?“
Mit Genugtuung registrierte Petersen, dass Ronny „wir“ gesagt hatte. Willkommen im Team, dachte Petersen und sagte dann laut:
„Wenn solche Container am Strand liegen, wissen wir ja nicht, was drin ist. Es können gefährliche Schadstoffe austreten, oder aber es wird versucht, den Container zu knacken, und den Inhalt zu klauen.“
„Ist das nicht Strandgut und gehört den Insulanern?“
Petersen lachte. „Das war einmal, wenn du hier was mitnimmst, riskierst du eine Anzeige wegen Fundunterschlagung“, erläuterte er.
Ronny nickte anerkennend. Als sie die Promenade entlang gingen, war Ronny sichtlich beeindruckt. „Wirklich schön hier.“
Petersen klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Na, also!“
Jetzt war Petersen in seinem Element und erklärte die Seezeichen und die Schiffstypen, die am Horizont zu sehen waren. Er gab den maritimen Erklärbär, was bei vielen seiner Bekannten immer ein genervtes Augenrollen verursachte. Ronny aber zeigte sich interessiert. Als Petersen seine Ausführungen beendet hatte, bemerkte er erst jetzt den Bremer Schlüssel auf Ronnys Uniform.
„Sag mal, wenn uns jemand fragt, warum du als Bremer Polizist hier Dienst tust, sollten wir irgendetwas von einer Kooperation der Bundesländer erzählen. Bist du damit einverstanden?“
„Gute Idee, muss ja nicht gleich jeder wissen, dass ich der rassistische Polizist aus Bremen bin, der Ausländer erschießt.“
Die Bitterkeit in seiner Antwort war nicht zu überhören. Petersen reagierte darauf nicht, sondern wechselte komplett das Thema. „Was machst du eigentlich so in deiner Freizeit? Ich mach‘ ja Musik.“
„Damit kann ich leider nicht dienen. Ich habe Fußball bei TURA Bremen gespielt.“
„Erste Herren?“
„Ja, Landesliga.“
„Oha, nicht schlecht. Der TuS Wangerooge sucht immer gute Spieler. Einige kommen extra vom Festland, um die Mannschaft zu verstärken. Ich stelle mal den Kontakt her. Einverstanden?“
Ronny nickte mit einem leichten Lächeln im Gesicht.