Читать книгу Zerbrochen auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 9
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ОглавлениеDas Kurheim bzw. die Rehaklinik lag am Rande der Dünen und war früher ein reines Kinderheim gewesen. Während des 2. Weltkrieges, als Wangerooge eine mit Flakstellungen übersäte Festung war, befanden sich hier Unterkünfte der Luftwaffe. Nach 1945 entstand hier ein Kinderheim. Seit über zehn Jahren war das Heim in der Hand eines Wohlfahrtverbandes und bot Kuren an, die auf die Lebenssituation von Müttern oder Vätern und ihren Kindern ausgerichtet waren. Hierzu zählten unter anderem Behandlungen von psychosomatischen Störungen, Erkrankungen der Atemwegsorgane oder orthopädische Erkrankungen. Die Klinik zur „Weißen Düne“, wie das Heim jetzt hieß, hatte einen exzellenten Ruf und wurde im Katalog vieler Krankenkassen angeboten.
Während der Covid-Pandemie musste das Heim zwangsweise schließen. Die Leitung des Heimes entschloss sich, die belegungsfreie Zeit für eine Renovierung und für Umbaumaßnahmen zu nutzen. Mittlerweile waren die gröbsten Maßnahmen in der Endphase und die Maler hatten das Regiment übernommen. Die beiden Maler, Pawel Kwiatkowski und Gerd Meyer, waren gerade mit Spachtelarbeiten in einem der Schlafräume beschäftigt, als ihr Meister sie in einen anderen Raum beorderte. Der Raum war fast fertiggestellt und sollte nun gestrichen werden. Der Meister deutete auf die Steckdosen und bemängelte das unsaubere Verspachteln an den Einfassungen für die Dosen. Meyer und Kwiatkowski versprachen, sich sofort darum zu kümmern. Als sie in ihren Raum, in dem sie gerade arbeiteten, zurückkehrten, begann Meyer laut zu fluchen.
„Scheiße, jetzt ist unsere Spachtelmasse hart geworden. Den Eimer können wir gleich wegschmeißen, das gibt bestimmt Ärger, wo der Alte jetzt schon sauer ist.“
„Muss Chef ja nicht merken“, sagte Pawel mit einem hintergründigen Grinsen.
„Wie meinst du das?“
„Lassen Eimer verschwinden und rühren schnell neue Masse an.“
Meyer nickte zustimmend. „Gute Idee, ist sowieso Zeit für unsere Pause. Wir nehmen den Eimer und vergraben ihn in den Dünen. Nimm deine Brotdose und unsere Wasserflaschen mit, damit das wirklich nach Pause aussieht.“
Langsam stapften die beiden den kleinen Pfad die Dünen hoch. Kurz blickten sie auf das Meer, das heute sehr ruhig wirkte. Keine Schaumkronen, keine Wellen, ein vorbeifahrender Kutter brachte gerade seine Netze ein. Eine große Zahl von kreischenden Möwen umrundete das Schiff in der Erwartung, den Beifang als Beute zu bekommen. Gerd und Pawel bogen jetzt in ein Dünental ab. Es musste ja nicht jeder sehen, was sie da vorhatten. Pawel hatte sich eine kleine Schaufel besorgt und begann, ein Loch zu graben. Gerd hatte sich in den Sand gesetzt und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und inspizierte dann seine Brotdose.
„Scheiße“, hörte er Pawel fluchen.“
„Grab daneben, wenn du da nicht weiterkommst“, gab Gerd Meyer kauend seinem Kollegen einen Ratschlag. Nachdem sein Kollege noch zwei weitere Schaufelladungen ausgehoben hatte, ließ dieser plötzlich die Schaufel fallen und starrte völlig irritiert in das von ihm ausgehobene Sandloch. Leise murmelte er:
„Gerd, kommen schnell!“
Meyer, der sich gerade eine Zigarette angezündet hatte, winkte ab.
„Ich mach Pause. Das mit dem Loch wirst du doch wohl alleine hinkriegen?“
„Gerd, bitte kommen, hier ist was!“
Meyer musterte seinen Kollegen, dessen Gesichtsausdruck eine gewisse Ernsthaftigkeit widerspiegelte. Widerwillig erhob er sich und stapfte zu dem Sandloch. Als er in das Loch starrte, packte ihn das Entsetzen. In dem Loch waren Teile eines skelettierten Schädels zu erkennen.
„Ach du Scheiße“, entfuhr es ihm. Er kniete sich jetzt hin und betrachtete den Schädel aus nächster Nähe. „Ich bin ja kein Experte, aber der ist schon lange tot.“
„Was wir jetzt machen? Soll ich Loch wieder zumachen?“
„Nee, verbuddel den Eimer irgendwo anders. Wir sollten das melden, vielleicht ist das ja ein wichtiger Fund und wir werden belobigt und kriegen so eine Art Finderlohn, weil wir einen Urmenschen gefunden haben.“
Pawel schüttelte nur den Kopf. So richtig verstand er nicht, was sein Kollege da redete. Er ging leise fluchend ein Stück weiter und vergrub den Eimer mit der harten Spachtelmasse. Meyer zückte sein Handy und wählte die 110.
Die Beamten saßen an ihren Schreibtischen und bearbeiteten die Werkzeugdiebstähle, als das Telefon klingelte. Wohlers nahm den Apparat aus der Ladestation.
„Polizeiposten Wangerooge, Sie sprechen mit Oberkommissarin Wohlers“, meldete sie sich professionell freundlich.
„Moin auf die Insel, hier ist die Leitstelle. Wir haben da was für euch. Klang etwas komisch, aber ihr solltet dem mal nachgehen.“
Heike Wohlers hörte sich die Ausführungen des diensthabenden Beamten an, der recht umständlich den Sachverhalt schilderte. Petersen nahm seine Finger von der Tastatur und drehte sich mit seinem Stuhl in Richtung Heike um, deren Gesichtsausdrück ihm verriet, dass etwas Merkwürdiges passiert sein musste.
„Was war das denn?“, fragte Petersen, nachdem das Gespräch beendet war, „in deinem Gesicht kann ich ein Fragezeichen erahnen.“
„Da sind irgendwelche Knochen hinter der Rehaklinik zur „Weißen Düne“ gefunden worden. Der Finder hat gegenüber der Leitstelle etwas von Urmenschen gesprochen.“
„Dann sind wir nicht zuständig, sondern der Landesarchäologe.“ Petersen lachte und fuhr fort.
„Spaß bei Seite, aber Knochen von Urmenschen, das ist ausgeschlossen. Wir sind hier nicht im Neandertal und auch nicht in der Grotta del Cavallo in Apulien, wo man Reste von Urmenschen gefunden hat.“
Heike Wohlers schüttelte nur den Kopf. Jetzt gibt er wieder den Erklärbären, schoss es ihr durch den Kopf.
Petersen ließ sich nicht stoppen. „Was natürlich sein kann, dass die Knochen von untergegangenen Friedhöfen aus dem Wattenmeer stammen oder von einem alten Inselfriedhof. Die Insel ist ja bekanntlich im Laufe der Jahrhunderte nach Osten gewandert.“
„Was ist mit Seeleuten, die über Bord gegangen sind?“, unterbrach sie ihn.
„Wenn die Knochen hoch auf den Dünen liegen unwahrscheinlich. Aber es können natürlich auch Leichenteile aus dem 2. Weltkrieg sein. Ich musste mich einmal bei einem Fall damit beschäftigen. Das Haus „Weiße Düne“ war, soweit ich weiß, eine Unterkunft der Luftwaffe im Krieg. Vielleicht ist es ein Opfer der massiven Bombardierung der Insel. Oder aber, ich habe das mal in der Inselchronik über den Krieg gelesen, dass ein englischer Halifax-Bomber direkt neben der Unterkunft der Luftwaffe abgestürzt ist.“
Heike Wohlers rollte mit den Augen. Auf der einen Seite war sie schon beeindruckt davon, was Petersen so alles wusste, auf der anderen Seite hörte er überhaupt nicht mehr auf zu reden. Ronny, der der Unterhaltung aufmerksam gefolgt war, schaltete sich etwas schüchtern ein.
„Entschuldigung, darf ich mal was sagen?“
Petersen musterte ihn etwas verärgert, nickte aber.
„Das sind doch alles Spekulationen. Vielleicht sollten wir da jetzt mal hingehen und uns selbst ein Bild machen.“
Heike Wohlers war über diesen Vorschlag begeistert. „Lars, wo er Recht hat, hat er Recht.“
Petersen wusste nicht so recht, ob er jetzt sauer sein sollte oder Ronnys Vorschlag annehmen sollte. Er entschied sich dann aber doch für das dienstlich Naheliegendste.
„Klarmachen zum Abmarsch!“, rief er militärisch. „Absperrband, Spuren-Sicherungskoffer fertigmachen! Jetzt kommt das archäologische Ermittlerteam.“
Seine Kollegen wussten natürlich, dass dieses Kommando ironisch gemeint war. Alle drei mussten jetzt lachen und machten sich für den Abmarsch fertig.
Die Siedlerstraße wollte kein Ende nehmen. Die unregelmäßige Pflasterung ließ ihre Füße schmerzen. Eigentlich wollte Petersen den Bollerwagen als Transportmittel für ihr Equipment mitnehmen, hatte diese Idee aber sogleich wieder verworfen. Drei Polizisten mit einem Bollerwagen, was für ihn ein peinlicher Aufzug gewesen wäre. Sie hatten den Umweg über die Siedlerstraße genommen, um am Bahnhof ein Plakat mit den gestohlenen Werkzeugen aufzuhängen. In Höhe des Sportplatzes bogen sie auf das Gelände der „Weißen Düne“ ab, gingen an den verschiedenen Gebäuden vorbei und erreichten dann schließlich den Dünenpfad. Auf der Spitze der einen Düne sahen sie dort drei Männer in Malerkleidung stehen. Langsam stiegen die drei Beamten die Düne empor. Mit einem kräftigen „Moin“ begrüßte Petersen das Trio.
„Wo liegt denn unser ‚Insel-Ötzi‘ begraben?“, scherzte er.
Die drei Maler schauten sich etwas verwirrt an. Augenscheinlich hatten sie Petersens Scherz nicht verstanden. Mit dem Begriff „Insel-Ötzi“ konnten sie nun überhaupt nichts anfangen. Heike Wohlers, die grinsen musste, versuchte die Situation zu entwirren.
„Nun, zeigen Sie uns mal die Stelle, wo die Knochen liegen sollen!“
Gerd Meyer ging etwa zehn Meter in das Dünental und zeigte auf das Loch. Wohlers zog sich ihre blauen Gummihandschuhe an, kniete sich nieder und wischte den Sand, der teilweise über dem Schädelknochen lag, vorsichtig weg, während Petersen eine Frage an die Runde richtete.
„Warum haben Sie denn überhaupt hier gebuddelt?“
Gerd Meyer schaute seinen Kollegen Pawel an, der wiederum etwas ängstlich ihren Malermeister anblickte, der abseits stand. Meyer ergriff nach einer kurzen Pause das Wort: „Wir haben Pause gemacht, eine geraucht und dann die Zigarettenreste verbuddelt.“
So richtig glaubte Petersen ihm diese Version nicht. Warum gräbt man ein fünfzig Zentimeter tiefes Loch, um Zigarettenreste verschwinden zu lassen?
Meyer schien Petersens Zweifel zu erahnen, deshalb schob er noch eine weitere Erklärung nach. „Die Heimleitung ist ziemlich pingelig, die wollen keine Zigaretten haben, dort, wo Kinder spielen.“
Eine Erklärung, die erst einmal plausibel wirkte. Petersen verzichtete darauf, weiter nachzuhaken. Die Sache war seiner Meinung nach auch nicht so wichtig. Er nahm den Fotoapparat und machte von allen Seiten Bilder von der Fundstelle. Inzwischen hatte der Malermeister seine Gesellen aufgefordert, wieder an die Arbeit zu gehen. Heike Wohlers richtete sich auf. „Und was machen wir nun?“
„Ich rufe Wilhelmshaven an, die sollen Leute aus Oldenburg schicken, da ist ja die Außenstelle des Instituts für Rechtsmedizin aus Hannover. Die sollen die Knochen ausbuddeln und dann untersuchen. Wenn wir hier jetzt weitergraben, machen wir vielleicht alles kaputt.“
Wohlers nickte. „Absperren sollten wir die Stelle aber.“
Petersen wies Ronny an, das Absperrband abzurollen und wählte dann die Nummer seines Vorgesetzten in Wilhelmshaven. Zu seiner Überraschung meldete sich Kriminalrat Wilbert höchstpersönlich. Kurz und knapp schilderte Petersen die Sache mit den Knochen.
„Da wollen wir mal nicht so viel Wind von machen, Kollege Petersen“, kommentierte Wilbert altväterlich, „ich schicke Ihnen die Jungs von der Rechtsmedizin aus Oldenburg. Die sollen die Knochen einpacken und analysieren, danach sind wir schlauer. Das mit der Spusi können wir wohl vergessen. Nach so vielen Jahren im Sand bringt das nichts.“
„Ja, das denke ich auch. Vielleicht müssen wir die Knochen dann in ein Museum überstellen.“
Wilbert lachte. „Sie haben da doch ein kleines Heimatmuseum in ihrem Leuchtturm. Okay, ich denke die Jungs aus Oldenburg schaffen es heute nicht mehr, aber morgen könnte es klappen. Ich informiere Sie.“
Mit diesen Worten war das Gespräch beendet. Petersen ging zu seinen Kollegen.
„Erst morgen werden die Knochen abgeholt.“
„Müssen wir die Stelle hier bewachen?“, fragte Heike Wohlers zweifelnd.
Petersen wiegte seinen Kopf hin und her und strich sich mit der linken Hand über seine kurzen Bartstoppeln.
„Spuren wird es hier nicht mehr geben, das ist sinnlos. Und warum sollte jemand die Knochen klauen. Für einen Laien sind sie wertlos. Ich denke, wir sollten trotzdem ab und zu mal nach der Stelle schauen.“
„Also Streife in Schichten“, kommentierte Heike Wohlers.
Petersen nickte.
Ronald Rohde hatte sich für die Nachtschicht gemeldet. In seinem Kopf rotierten noch so viele Gedanken. Er würde sowieso schlecht schlafen können. In gewisser Weise fürchtete er sich vor der Nacht in seiner neuen Wohnung und hatte sich deshalb für die späte Schicht gemeldet. Außerdem wollte er durch diese Geste seinen neuen Kollegen einen Gefallen erweisen.
Gegen 23:00 Uhr verließ Ronny die Wache, bewaffnet mit einer großen Stabtaschenlampe, die ihm Petersen ans Herz gelegt hatte. Heimlich hatte er sich einen Inselplan eingesteckt, um sich nicht zu verlaufen. Eine solche Peinlichkeit wollte er sich ersparen und lief erst einmal die Zedeliusstraße hinauf zum „Pudding“. In einigen Lokalen brannte noch Licht. Im „Compass“ wurden schon die Stühle hochgestellt und im „Piraten“ war es schon dunkel. Auf dem Meer sah er viele Lichter, die er aber nicht so richtig deuten konnte. Wenn sein Chef Petersen hier gewesen wäre, hätte dieser ihm sicher einen Vortrag über die maritime Befeuerung gehalten. Langsam ging er in Richtung Osten. Im Lokal „Giftbude“ war nur noch wenig los. Eine große Frau saß noch an der Theke und starrte auf einen Bildschirm, auf dem ein Dart-Wettbewerb übertragen wurde. Er meinte die Frau schon einmal in Bremen gesehen zu haben, verwarf aber diesen Gedanken sofort wieder. In der Höhe des „Hauses Germania“ zückte er den Inselplan aus seiner Jackeninnentasche und versuchte sich zu orientieren.
Als Ronny auf der Dünenspitze hinter dem Haus „Weiße Düne“ stand, war er stolz, die Knochenfundstelle im Dunkeln wiedergefunden zu haben. Mit der Taschenlampe leuchtete er die Fundstelle aus. Die Absperrung war absolut intakt, alles okay, dennoch beschlich ihn ein Gefühl der Einsamkeit. Ein ganzes Jahr sollte er jetzt auf dieser Insel Dienst tun? Diese Zeitperspektive machte ihn mutlos. Die Kollegen waren ja ganz nett, vor allem Petersen war ihm sympathisch. Er hatte ein ähnliches Schicksal wie er erlitten und war dann hier hängengeblieben. Dieser Umstand verband die beiden. Petersen wirkte etwas eigen, irgendwie wie eine Mischung aus Altrocker und Spät-68er. Aber ein durch und durch erfahrener Beamter, der es faustdick hinter den Ohren zu haben schien. Heike Wohlers kam ihm etwas spröde vor, freundlich, aber auch um Distanz bemüht. Er hätte es schlimmer treffen können. Aber ein ganzes Jahr mit diesem polizeilichen Kleinkram rummachen, das konnte er sich nicht vorstellen. Als Streifenpolizist in der Großstadt war man mittendrin, so anstrengend und belastend der Dienst auch war, saß er gerne im Streifenwagen, auf seinem Bock, und stocherte im Dreck der Großstadt. Hier hatte er das Gefühl, so nebenher mitzulaufen. Wie sollte er hier soziale Kontakte aufbauen? In jedem Fall wollte er Kontakt zum TuS Wangerooge aufnehmen. Petersen hatte ihm da einen Hinweis gegeben, dass der örtliche Buchhändler sich in dem Verein engagieren würde. Als Ronny gerade wieder den Rückweg antreten wollte, hörte er ein leises Stöhnen. Reflexartig legte er die Hand an seine Waffe. Sein Herz begann zu rasen. Schnell zog er die Hand wieder von seiner Waffe weg. Langsam leuchtete er in die Richtung, aus der er glaubte, das Stöhnen zu hören. Plötzlich schreckte er zurück, machte die Lampe sofort aus und rief halblaut:
„Entschuldigung, ich dachte jemand bräuchte Hilfe.“
Er drehte sich sofort um und verließ die Düne, in deren Tal sich ein Liebespaar vergnügte. So peinlich die Begegnung ihm auch war, so zeigte sie ihm auch, dass er über die Ruhe, die er bei solchen Einsätzen benötigte, noch nicht wieder verfügte. Eine Tatsache, die ihn stark verunsicherte. Das Stöhnen eines Liebespaares hätte in fast zur Waffe greifen lassen. Tief deprimiert trat er wieder den Rückweg an.