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Was ist dran am Ruf des häufig als Allheilmittel dargestellten Hanfes, der bei so vielen Erkrankungen helfen soll? Was ist mythische Zuschreibung, was Realität? Wie sieht die wissenschaftliche Datenlage aus? Welche Erfahrungen lassen sich aus der täglichen Arbeit mit Patienten gewinnen? Wie kann unter den rechtlichen Bedingungen in den deutschsprachigen Ländern eine Therapie mit Cannabis-Medikamenten praktisch durchgeführt werden?
Die Antworten der beiden Autoren erfolgen aus der Sicht historisch interessierter, engagierter Apotheker und Praktiker mit einer langjährigen Erfahrung. Die Arbeiten von Manfred Fankhauser schätze ich seit nahezu 25 Jahren, als er mir durch seine außerordentlich gelungene Doktorarbeit über die Geschichte von Haschisch als Medikament aufgefallen war. Mir gefiel schon damals die akribische Genauigkeit, mit der er das Thema durchdrungen hatte. Zu dieser Zeit gab es im deutschen Sprachraum kaum Ärzte und Apotheker, die sich überhaupt für das Thema interessierten, geschweige denn solche, die eine mehr als nur oberflächliche Kenntnis davon hatten. Fankhauser war einer dieser wenigen, die sich bereits zu dieser Zeit eine Expertise auf diesem Gebiet erarbeitet hatten. So war es auch kein Zufall, dass seine Apotheke im Jahr 2008 als erste in der Schweiz eine Bewilligung erhalten hatte, cannabishaltige Rezepturen herzustellen. Ich freue mich, dass er mit Daniela E. Eigenmann eine engagierte Kollegin an seiner Seite hat.
Unter den Fallberichten ragt vor allem einer heraus. Wir wissen, dass THC sehr gut vom Magen-Darm-Trakt aufgenommen wird. Danach gelangt es aber über die Pfortader in die Leber, wo es bereits bei der ersten Passage zu 90 Prozent oder mehr abgebaut wird, so dass nur ein sehr kleiner Teil zur Wirkung gelangt. Die Autoren stellen einen Patienten mit einer fortgeschrittenen Leberzirrhose vor, bei dem operativ eine Umgehung des Leberkreislaufes vorgenommen worden war. Durch diese Umleitung wird der größte Teil des Blutes aus dem Magen nicht durch die Leber geführt, sondern gelangt direkt in den Gesamtkreislauf. Das führte bei diesem Patienten dazu, dass auch mehr THC unmittelbar in den Gesamtkreislauf gelangte. Leider war das bei der Eindosierung nicht berücksichtigt worden, so dass nicht 10 Prozent, sondern 100 Prozent zur Wirkung gelangten. «Dies erklärt, warum bei diesem Patienten die tiefe THC-Dosis wie ein langandauernder Vollrausch wirkte. Glücklicherweise ist THC bekanntlich auch in hohen Dosen nicht lebensbedrohend, und so kam die betroffene Person schließlich ‹mit einem Schrecken› davon», heißt es über diesen Fall einer kuriosen Überdosierung.
Das Buch diskutiert auch kontroverse Themen, wie beispielsweise die Verwendung von THC bei Kindern. Einige im Buch vorgestellte Fallberichte demonstrieren eindrücklich, welch großen medizinischen Nutzen Cannabinoide auch bei Kindern haben können. Dies zeigen auch Erfahrungen deutscher Kinderärzte (GOTTSCHLING 2019). Die Autoren lassen zudem eine Schweizer Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Mercedes Ogal, zu Wort kommen. Sie beantwortet die Legitimation des Einsatzes auch bei Kindern wie folgt: «Ich selber würde THC nicht bei unter 4-jährigen Kindern einsetzen. Wenn sich bei einem über 4-jährigen Kind mit frühkindlichem Autismus aber trotz intensiver begleitender Maßnahmen nur ungenügende Fortschritte einstellen, würde ich einen Therapieversuch mit THC durchaus in Betracht ziehen.»
Nicht immer teile ich die Sicht der interviewten Experten, etwa wenn Professor Jürg Gertsch von der Universität Bern im Zusammenhang mit CBD darauf hinweist, dass «die Substanz bei hohen Dosen chronisch die Leber belasten könnte« und er es daher «durchaus sehr bedenklich» findet, CBD als Nahrungsergänzungsmittel «unter die Leute zu bringen». Die leberschädigende Wirkung war in Studien mit Mäusen an der Universität von Arkansas in den USA aufgefallen. Die Tiere hatten allerdings extrem hohe orale CBD-Dosen von 2560 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht erhalten (EWING et al. 2019). Kürzlich hat das australische Gesundheitsministerium auf der Basis einer wissenschaftlichen Analyse festgestellt, dass CBD beim Menschen in niedrigen Dosen von unter 60 Milligramm, also etwa einem Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht, «ein gutes Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil aufweist» (THERAPEUTIC GOODS ADMINISTRATION 2020). Von solchen Dosen sprechen wir, wenn es um Nahrungsergänzungsmittel geht.
Auch für Cannabinoide gilt der an anderer Stelle des Buches zitierte Grundsatz des Paracelsus «Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Nur die Dosis macht, dass etwas kein Gift ist».
Mehr noch als bei THC besteht bei CBD gegenwärtig etwas, das ich an anderer Stelle als «das große Missverständnis» bezeichnet habe (GROTENHERMEN 2020). Wenn Cannabispatienten Aussagen von Wissenschaftlern über das therapeutische Potenzial von Cannabis lesen, schütteln sie häufig verständnislos den Kopf. Wenn Wissenschaftler, die sich mit Cannabis befassen, Aussagen von Patienten lesen, schütteln sie ebenfalls häufig verständnislos den Kopf.
Gegenwärtig scheint CBD eine ähnliche Geschichte zu durchleben wie die bei der Wiederentdeckung des medizinischen Nutzens von THC beziehungsweise THC-reichen Cannabisprodukten. Es waren Patienten, die in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts einzelne Ärzte und Wissenschaftler auf ihre therapeutischen Erfahrungen hinwiesen und motivierten, erste klinische Studien mit THC durchzuführen. Und heute sind die Patienten bei der Entdeckung des therapeutischen Potenzials von CBD wieder schneller als die Wissenschaftler. Das Missverständnis wird erst verschwinden, wenn die Forschung nachgeholt hat, was viele Patienten heute bereits erleben, und wenn Patienten akzeptieren, dass umfangreiche Forschung unser Verständnis und damit die Berechtigung der Therapie mit Cannabis-Produkten in der modernen Medizin vergrößert.
Unter diesem Aspekt betrachtet, liefert das Buch auch einen wohltuenden Beitrag zur Versöhnung von Patientenerfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis, wie es heute von einem guten Buch zum Thema erwartet werden darf. Ich kann es nur empfehlen und wünsche ihm eine große Verbreitung.
Steinheim, im Mai 2020
Dr. med. Franjo Grotenhermen
Literatur
Ewing LE, Skinner CM, Quick CM, Kennon-McGill S, McGill MR, Walker LA, ElSohly MA, Gurley BJ, Koturbash I. Hepatotoxicity of a Cannabidiol-Rich Cannabis Extract in the Mouse Model. Molecules. 2019;24(9).
Gottschling S. Cannabinoide bei Kindern. In: Müller-Vahl K, Grotenhermen F. (Hrsg.) Cannabis und Cannabinoide in der Medizin. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2019.
Grotenhermen F. Die Heilkraft von CBD und Cannabis: Wie wir mit Hanfprodukten unsere Gesundheit verbessern können. Hamburg: Rowohlt Verlag, im Druck.
Therapeutic Goods Administration. Safety of low dose cannabidiol. Woden, ACT, Australia: Australian Government. Department of Health, 2020.