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Auf der schattigen und luftigen Veranda, versunken in den weichen Kissen auf der Rattancouch, die Beine hochgelegt, blätterte Alison die Seite um und warf einen Blick auf ihre Uhr. Halb fünf. Sie versuchte sich zu entspannen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Vor einer Stunde war sie vom Writer’s Center nach Hause gekommen und hatte sich gleich nach den Vorbereitungen für das Barbecue mit ihren Eltern in Brett Horkays Buch vertieft. Obwohl der Ventilator über ihr für eine kühle Brise sorgte, kochte sie innerlich. Was hatten sie und Matthew nur falsch gemacht? Sie ließ ihren Blick über die Veranda mit den Oleandern gleiten, über denen der von Prudence gebastelte Drache baumelte, dann hinüber zu den Baumwipfeln deren Grün im Spätmittagslicht noch intensiver leuchtete. Die Luft roch süß nach Blüten und vibrierte von Vogelstimmen. Lebten sie nicht im Paradies? Ihnen fehlte es nicht an Geld, sie waren gesund, und damals, vor 18 Jahren hatten sie doch aus Liebe geheiratet. Etwas war ihnen auf dem Weg durch die Jahre abhanden gekommen. Das Interesse füreinander? Dankbarkeit? Gegenseitiger Respekt und Achtung?

Gestern hatte sie vielleicht einen Fehler begangen. Sie hätte zuerst mit Matthew anstatt mit Valerie Tate reden sollen. Sie klappte das Buch zu. Der Abend hatte ihr gefallen – und sie danach in noch größeren Schmerz gestürzt, als ihr klar wurde, wie ihr Leben verlief. Brett war kaum älter als sie, doch was hatte er alles erlebt? Womit hatte er sich beschäftigt? Durch die Welt war er gereist, hatte die entlegensten Orte besucht, sich mit Menschen, ihren Traditionen, ihrer Religion beschäftigt, hatte Sprachen gelernt und erforscht. Irgendwann am Abend, die drei Freunde, die Meg noch eingeladen hatte, waren gegangen, und nur noch Meg und … und Brett und Alison waren übrig geblieben, da hatte sich Alison nicht länger zurückhalten können und hatte von Matthews Betrug angefangen. Es hatte gut getan, Freunden das Herz ausschütten zu können, und Brett hatte ihr daraufhin eines seiner Bücher mitgegeben. Den ganzen Abend lang hatte er keine Flirtversuche unternommen, und dafür war sie ihm dankbar. Es hätte sie in einen schrecklichen Konflikt gestürzt.

Ihr Leben war immer begrenzter geworden. Diese Einsicht war ihr gestern ganz plötzlich gekommen. Sie musste an die Mutter einer Bekannten denken. Diese war am Grünen Star erkrankt. Zuerst engte sich ihr Blickfeld ein, tunnelartig wurde die Sicht mit grauen, dann immer dunkleren Rändern. War ihr Leben nicht auch so geworden? Warum hatte sie das nicht vorher begriffen – bevor Matthew Konsequenzen – seine Konsequenzen gezogen hatte?

Unsere Welt ist viel größer, Alison, hatte Brett Horkay ihr zum Abschied gesagt, und es hatte sie getröstet. Doch als sie in der Nacht ins leere Haus zurückkam, überfiel sie die Einsamkeit. Matthew hatte wirklich nicht angerufen, und auch keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Aber ihre Schwester Christine hatte sich gemeldet und den Preis genannt: „Tausend Dollar, hat Phil gesagt.“ Heute Morgen hatte sie Christine das Geld in einem Umschlag in den Friseursalon gebracht.

Jetzt ertappte sie sich dabei, dass sie wünschte, Matthew würde auch heute noch nicht zurückkommen. Sie fürchtete sich vor dem Moment, ihm in die Augen zu sehen. Hatte Phil, der ehemalige Cricket-Spieler und wegen Drogenbesitzes und Dealens vorbestrafte Exmann Christines, schon etwas in die Wege geleitet? Hatte Valerie Tate schon mit Matthew Schluss gemacht? Zitterte Valerie Tate schon vor Angst? Alison seufzte. Nein, ganz wohl war ihr bei der Sache nicht.

Sie sah auf die Uhr. Sollte sie nicht ihre Eltern anrufen und die Einladung verschieben? Heute war es wirklich unpassend. Die Steaks könnte sie einfrieren und über die beiden Salate hatte sie noch kein Dressing gegeben, man könnte sie auch morgen essen.

Motorengeräusch näherte sich, klang dann wieder ab. Das Blau des Himmels wurde tiefer, während alle anderen Farben verblassten. Wie sollte – wie konnte sie Matthew überhaupt gegenübertreten? Die Zuversicht von gestern war vollkommen dahin.

Wieder ein Motorengeräusch. Sie erkannte das tiefe, volle Tuckern des Porsche 911. Es schwoll an – und entfernte sich nicht mehr, sondern erstarb. Dann: das satte Klicken der sich öffnenden Tür, das kurze Klack, als sie zugeworfen wurde, schnelle Schritte. Die Holztreppe, die hinter ihrem Rücken von unten heraufführte, vibrierte leicht.

Eins, zwei, drei, vier …es waren zwölf Stufen, zehn, elf – sie wandte ihren Kopf – sah ihm in die Augen und erwischte den letzten Moment, bevor er ein gezwungenes Lächeln aufsetzte.

Was sah er eben in ihrem Blick? Empfand auch er diese Angst, alles verloren zu haben, und mit einem Fremden zusammen zu leben?

Er schaltete sein gutgelauntes, siegesgewisses Lächeln an, wie er es gegenüber Geschäftskunden tat, deren Aufträge er nicht verlieren wollte. Sie lächelte zurück. Welche Lügen! Welche Feigheit!

„Hallo Liebling!“ Er beugte sich in jahrelang einstudierter Bewegung zu ihr über die Rückenlehne hinunter, und sie hielt ihm ihre Wange hin – schon lange nicht mehr den Mund. Die Begrüßung war zu einem inhaltslosen Ritual verkommen, einer höflichen Pflichterfüllung.

„Wie war’s in Broome?“, fragte sie.

„Gut, alles bestens.“ Er drehte sich um, ein neues Lächeln im Gesicht. Nicht mehr ganz so strahlend, ein wenig schimmerte etwas Wahres darunter hervor, doch bevor es durch die Maske dringen konnte, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Barbecue zu. „Ich hab’ ganz vergessen, eine neue Gasflasche zu bestellen. Hoffentlich geht sie nicht mitten beim Grillen aus.“

„Dann warst du also erfolgreich?“ So schnell wollte sie ihn nicht davon kommen lassen.

„Ja, ja. Sei mir nicht böse, ich bin etwas erledigt.“

In diesem Moment empfand sie nur noch Verachtung – und Hass.

Wie konnte er sie nur so anlügen! Sie kämpfte gegen Tränen der Wut. Nein, diese Blöße, vor ihm zu weinen, ihn anzuschreien, würde sie sich nicht geben.

Sie schlug ihr Buch auf und sagte beiläufig:

„Reicht das Gas? Meine Eltern kommen heute zum Dinner.“

„Schon wieder?“ Sein Lächeln war verschwunden.

Sie legte das Buch auf den Schoß und sah ihm voll in die Augen.

„Das letzte Mal waren sie vor zwei Wochen da.“

Er ließ die Schultern fallen. „Na, bitte.“

„Aber zwei Wochen ist doch nicht vorgestern.“

Wie gierig wir uns auf ein Streitthema stürzen, dachte sie.

„Aber auch nicht ewig her, oder? Du weißt genau, dass ich diese Familientreffen nicht besonders mag.“ Er hatte endlich die Reisetasche abgestellt. „Außerdem hättest du mir das ruhig früher sagen können!“

Sie lächelte. Jetzt rächte sie sich für die einsame Nacht, für die Täuschung, seine Lügen: „Du hast dich ja nicht mehr gemeldet.“

„Du hast doch selbst gesagt, dass ich dich nicht noch einmal anrufen muss.“

„Ach – muss!“

„Hör’ auf, Alison! Du legst jedes Wort auf die Goldwaage!“

„Und du verrätst dich selbst!“

Sekunden spannungsvoller Stille. Mein Gott, dachte Alison, warum bin ich so weit gegangen?

„Am besten, du sagst deinen Eltern ab“, sagte er kühl.

„Jetzt, eine Stunde vorher? Du weißt genau, dass mein Vater für so etwas überhaupt kein Verständnis hat!“

„Dein Vater? Na und. Das ist mein Haus.“

„Zufällig arbeitest du in der Firma meines Vaters. Und dass alles hier …“, seine Demütigung auskostend beschrieb ihr Arm einen weiten Bogen über das gesamte Grundstück.

„Jetzt pass gut auf, was du sagst!“ Er reckte sein Kinn. „Ich schufte jeden Tag der Woche in dieser verdammten Firma, muss mir die Großkotzigkeit deines Vaters gefallen lassen …“

„Du kannst ja kündigen, Matthew!“ Und dich scheiden lassen, wollte sie hinzufügen, schreckte doch davor zurück. Sie starrten sich an bis er die Schultern zuckte und zur Küchentür ging, die ins Haus führte.

„Matthew?“

Er blieb unwillig stehen. Sie sah ihn an. Sah in seine braunen Augen, betrachtete sein kurzes geschnittenes, volles Haar, seine markanten, schottischen Züge, in die sie sich gleich am Anfang verliebt hatte.

Jetzt, jetzt wäre der Moment. Ich weiß es: du hast eine Geliebte. Du kannst es dir ersparen, es abzustreiten. Das, genau das, hätte sie in diesem Augenblick sagen müssen. Doch sie sagte:

„Liebst du mich eigentlich noch?“

Sie wollte ihn wieder lügen sehen. Sie wollte den letzten Zweifel an Christines Beobachtung ausschließen. Wie angestrengt sein Lächeln war.

„Natürlich. Habe ich dir das nicht erst gestern am Telefon gesagt?“

„Matthew?“

Er holte Luft, zeigte, wie ihm ihre Fragerei auf die Nerven ging.

Eine letzte Anstrengung: „Würdest du mir sagen wenn …“

„Was denn?“ Seine Freundlichkeit war geheuchelt. „Sag’ schon, Alison, ich möchte unter die Dusche!“ Er begann sein weißes Hemd aufzuknöpfen.

„Würdest du mir sagen, wenn …“ sie brach ab, er musste in diesem Moment wissen, was sie sagen wollte. Er sah sie an, bereit sofort alles abzustreiten, aber war da nicht auch eine Spur Angst in seinem Blick? Angst vor der Wahrheit? In diesem Moment könnten sie den Lügen ein Ende bereiten, könnten vielleicht noch mal von vorne anfangen -

„… wenn … wenn du mich nicht mehr lieben würdest?“ Sie hatte versagt – nicht den Mut für die richtige Frage gehabt.

Sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Allerdings blieben die Längsfalten auf der Stirn.

„Sicher. Du würdest es mir doch auch sagen.“

Geschickt, wie er mit einer Frage an sie von sich selbst ablenkte. Sie antwortete nicht.

„So“, sagte er plötzlich gut gelaunt, „jetzt muss ich mich aber beeilen, sonst bin ich nicht für deinen Daddy fertig!“

Sie blieb sitzen, schloss die Augen und ließ den Wind vom Ventilator über ihr Gesicht streichen. Es war zu spät. Seit Jahren zu spät. Die Lügen waren zur Normalität geworden. Nein, es gab keinen Neuanfang mehr. Sie hatten den Zeitpunkt verpasst, lange schon verpasst. Sie konnten nicht mehr neu anfangen – und ganz sicher nicht auf der Basis einer erzwungenen Trennung von seiner Geliebten. Wie hatte sie nur so naiv sein können?

Sie griff zum Telefon auf dem niedrigen Tisch neben dem Krug mit Eistee.

Christine meldete sich nicht. Sie versuchte es auf dem Festnetz. Der Anrufbeantworter schaltete sich an. Alison überlegte, ob sie eine Nachricht hinterlassen, oder es noch einmal probieren sollte. Sie entschied sich, zu sprechen.

„Hier Alison. Christine, sag’ alles! Ich hab’s mir anders überlegt.. Ruf’ mich so bald wie möglich an!“

Kaum hatte sie den Hörer zurückgelegt, irritierte sie ein lautes Aufkreischen der Vögel. Sie waren nie besonders leise, aber etwas schien sie aufgescheucht zu haben. Über das Verandageländer sah sie kleine Vögel auffliegen. Und gegen das Blau des Himmels zeichneten sich die Silhouetten vieler Vögel ab. Seltsam, dachte sie. Zu dieser Jahreszeit war kein Zyklon zu erwarten, die würden erst ab Oktober hereinbrechen. Auf einmal hörte sie keine Vogelstimmen mehr. Es war totenstill. Und dann zitterte der Boden unter ihr. Oh, Gott, dachte sie, letzten Monat hatte die Erde schon einmal gebebt, aber nur kurz und es war nichts weiter geschehen. Die Dielen vibrierten, ein Klirren ließ sie herumfahren. Ihr Glas, das sie am Tischrand abgestellt hatte, war heruntergefallen und zerbrochen. Sie krallte ihre Hände in die Lehne, obwohl ihr klar war, dass dies in jeder Hinsicht sinnlos war. Matthew kam, mit einer Boxershorts bekleidet und blieb im Türrahmen stehen.

„Stell’ dich in den verdammten Türrahmen!“, rief er zu ihr herüber, doch sie blieb einfach sitzen. Vielleicht wäre es besser, wenn alles hier und jetzt ein Ende nähme. Vielleicht wäre das der richtige Moment … vielleicht war dieses Beben dazu da, um …

„Alison! Komm’ sofort her!“

Sie hörte drinnen im Haus etwas zerbrechen. Das Beben stockte. Da ruckte der Boden wieder. Sie sah an die Decke. Dort schaukelte der Papierdrache von Prudence. Und auf einmal war es vorbei.

„Ein verdammtes Erdbeben!“ Matthew fluchte, als ob sich die Natur davon beeindrucken ließe. „Da komme ich heim – und was passiert? Ein Erdbeben!“

Er sah zu ihr. „Warum bist du nicht hergekommen? Was wäre, wenn das Verandadach zusammengebrochen wäre?“

Sie erwiderte nichts, wandte sich ab und sah in den Himmel. Die Vögel kamen zurück. Alison drehte sich um und sah Matthew in die Augen.

„Warum betrügst du mich?“

Spurlos

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