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„Dad, willst du noch Salat?“ Alison hob die große Holzschüssel hoch.

„Ich nehm’ mir lieber noch eins von den Steaks!“ Ihr Vater ging mit seinen typischen ausgreifend langen Schritten hinüber zum Grill. „He, Matt, du lässt die Steaks immer verbrennen! Meins war neulich trocken wie der Staub der Gibson-Wüste! Aber unser Matt“, ihr Vater legte seine große, schlanke Hand auf Matthews Schulter und lachte, „war ja noch nicht in der Gibson-Wüste!“ Alison kannte den provozierenden Unterton. Der fast Siebzigjährige lachte am liebsten und am lautesten über seine eigenen Witze. Aber das war schon immer so gewesen. Alison erinnerte sich, wie ihre Schwester Christine oft Witze erzählt hatte, um ihren Vater zum Lachen zu bringen. Doch jedes Mal hatte er nur kurz gelacht und dann gleich selbst einen Witz erzählt, über den er dann sich dann vor Lachen schüttelte. Alison merkte, wie sie den Atem anhielt und angestrengt lächelte.

Natürlich hatte Matthew zuerst abgestritten, sie zu betrügen. Erst als sie den Namen Valerie Tate nannte, konnte er nichts mehr entgegnen. Sie hatte ihn völlig überrumpelt.

„Sie sagt sie ist schwanger und du willst dich scheiden lassen.“

„Das ist doch völliger Unsinn! Glaubst du das etwa?“, erwiderte er schnell.

„Sie hat es gesagt, und es hat aufrichtig geklungen. Also, Matthew, wenn du sie willst, dann sollten wir uns scheiden lassen.“ Sie staunte über ihre eigene Nüchternheit – und Klarheit. Keine Lügen mehr – lieber allein leben.

„Du willst die Scheidung, wegen, wegen … so einer kleinen Geschichte?“ Er kam auf sie zu, verschwitzt und in der Unterhose. „He, Alison“, er sah sie ein wenig so an wie früher, ehrlich, tief. „Ich versprech’s dir: Ich mach’ mit ihr Schluss.“

Sie wusste nicht, ob sie ihm das glauben sollte.

„Aber sie ist schwanger, Matthew, und du hast ihr offenbar auch etwas versprochen.“

„Ich habe nie von Scheidung gesprochen! Sie war es, die mich unter Druck setzte.“

Er kam näher, seine Stimme wurde sanft. „Ally“, so hatte er sie schon sehr, sehr lang nicht mehr genannt, „es, es tut mir leid, ich hätte es nie anfangen dürfen. Es war – es war einfach dumm. Es hat mir nicht wirklich etwas bedeutet, verstehst du?“ Er stand jetzt ganz nah vor ihr, den Kopf leicht geneigt, die Arme bereit, sie festzuhalten, zu umarmen. Seine Nähe kam ihr zu plötzlich. Sie ging zum Geländer und sah hinunter in den Garten.

„Ally“, er kam wieder näher, „du musst mir glauben. Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist.“ Er seufzte. Sie fragte sich, ob er wirklich so zerknirscht war, wie er sich anhörte. „Es hat sich so ergeben! Die Arbeit, du warst mit deinen Dingen beschäftigt, hattest kein Interesse an … mein Gott, Ally, wir sollten nicht einfach alles hinwerfen! Und was ist mit Pru?“

„Prudence ist alt genug!“ Ihre Tochter studierte in Adelaide. Die Scheidung ihrer Eltern würde kaum ihr Leben ändern.

„Alison! Bitte!“ Er klang tatsächlich flehend.

Sie drehte sich um. Er legte die Hände auf ihre Schultern.

„Ally, ich verspreche dir: ich mache mit ihr Schluss. Ich will dich nicht verlieren! Du bist die Frau, die ich liebe und mit der ich leben will!“

Stocksteif stand sie da, doch mit jedem seiner Worte zerbröckelte ihr Widerstand ein Stück mehr. Schließlich nahm er sie in die Arme, hielt sie, und sie wehrte sich nicht, sondern weinte. Aber das erhoffte Gefühl von Glück und Erleichterung war ausgeblieben.

„Dad, komm’ doch zu uns rüber!“ Sie versuchte Matthew zu entlasten. Er tat ihr sogar ein wenig leid. Immer wieder betonte ihr Vater, dass sich Matt nur ins gemachte Nest gesetzt hätte, und noch nicht mal einen Truck-Führerschein besaß.

„Ja, Liebling!“, fiel ihre Mutter mit ein, die ihr gegenüber am Tisch saß, „lass’ Matthew in Ruhe grillen!“

Die Männer überhörten die Aufforderungen.

„Ich wüsste auch nicht, was ich in der Gibson-Wüste sollte, Paul.“ Das kam von Matthew, der ungerührt die Steaks wendete und aus der Bierflasche trank. Paul van Oosterzee, groß und hager, mit eisgrauem Haar, lachte und wandte sich Alison und seiner Frau zu:

„Habt ihr das gehört! Die Gibson Wüste – die gehört zu unserem wunderbaren Land! Mein Vater hat es mit aufgebaut, von ganz unten…“

„Nun übertreib nicht, Paul!“ Margret schaltete sich ein. „Von unten aufgebaut haben es die armen Sträflinge, und keiner deiner Familie kam als Sträfling …“

„Nein, Sträflinge waren wir nicht!“, fiel Paul ihr ins Wort. „Wir waren immer rechtschaffene Leute, ehrliche Arbeiter! Mein Vater ist mit `nem Pferdewagen losgezogen und hat den Leuten auf ihren verdammt weit abgelegenen Farmen alles gebracht, was sie gebraucht haben – und dann hat er sich `en Lastwagen gekauft und …“

Alison wusste, dass sie jetzt eingreifen müsste, sonst würde Matthew irgendwann der Kragen platzen und alles würde außer Kontrolle geraten. „Daddy! Wir kennen die Geschichten, komm’ schon rüber!“ Sie klopfte auf den freien Segeltuchstuhl neben sich. Ihr Vater machte tatsächlich einen Schritt in ihre Richtung, blieb dann aber stehen.

„Wisst Ihr: Euch geht es viel zu gut. Ihr habt nie richtig schuften müssen.“

Alison sah, dass Matthew innerlich kochte.

„Matt, denk’ dran, ich will mein Steak richtig durch!“ Armer Matthew, er hatte es wirklich nicht leicht im Schatten seines Schwiegervaters zu stehen. Vielleicht – vielleicht hing auch die Sache mit Valerie Tate damit zusammen, dass es ihm an Macht im Büro fehlte? Jeder Psychologe würde das wahrscheinlich so sehen. Vielleicht wäre es endlich an der Zeit, darüber nachzudenken, ob er nicht woanders einen Job finden könnte. Selbst wenn er seinen Porsche verkaufen müsste … Das waren doch nur unbedeutende Dinge …

„Darling?“

Alison fuhr auf. Ihre Mutter hatte die Hand auf ihre gelegt.

„Du kommst mir so nervös vor. War es dieses Beben vorhin? Ich gebe zu, es hat mich auch erschreckt, aber - gibt es noch irgendwas?“

„Nein, Mum, wirklich nicht!“ Sie lächelte rasch. Mein Gott, Mum, dachte sie, wenn du wüsstest. „Es ist alles in bester Ordnung! Dein Glas ist ja leer!“ Hastig hob sie den Deckel der Kühlbox, die neben ihrem Tisch stand, und nahm die von Eisbrocken und den Bierdosen für Matthew und ihren Dad verdeckte Champagnerflasche heraus. Warum tat sie sich diese Einladungen auch immer wieder an?

„Gib’ her, ich mach’ das schon!“ Ihr Vater nahm ihr die Flasche aus der Hand und drehte den Draht auf. „Ihr solltet euch endlich `nen Kühlschrank hier raus stellen. Jedes Mal, wenn wir kommen, habt ihr diesen verdammten Eski. Der ist was fürs Picknick aber nicht für `ne Terrasse! Du weißt doch Ally, was wir für einen Kühlschrank haben, so einen großen, silbernen, der würde da neben den Barbecue passen!“ Der Korken ploppte passend am Satzende.

„Du kannst uns ja nächstes Mal einen mitbringen!“, antwortete Matthew bevor Alison den Mund aufgemacht hatte.

„Mal sehen, was sich machen lässt!“, gab sein Schwiegervater gönnerhaft zurück.

Nach dem ersten Schluck wurde der Blick ihrer Mutter sorgenvoller.

„Schätzchen, dich bedrückt doch was. Es ist doch nicht nur das Beben heute, das dich so durcheinander gebracht hat.“

„Nein, wirklich, Mum“, sie setzte ein verkrampftes Lächeln auf, „es ist wirklich nichts. Ach, übrigens, ich habe am Samstag Christine getroffen.“

Die Miene ihrer Mutter gefror. Alison überging die Veränderung.

„Ihr Job in dem Friseurladen macht ihr, glaube ich, Spaß.“

Ihre Mutter stellte abrupt das Glas ab. „Ach, Christine!“, sie schüttelte den Kopf, die senkrechte Doppelfalte zwischen ihren Augen vertiefte sich. „Warum ist sie nur so, so…“

„Anders?“

„Ja! So anders als du! Sie hätte es so leicht im Leben haben können, so wie du.“

Alison schluckte eine Bemerkung hinunter. Ihre Mutter sah für einen Moment gedankenverloren ins Leere, dann sagte sie fröhlich „Der Champagner schmeckt köstlich!“

Alison unterdrückte ein Seufzen. So war ihre Mutter. Kaum hatte sie ein heikles Thema angeschnitten, ließ sie es wieder fallen, wie eine heiße Kartoffel.

Drinnen läutete das Telefon. Endlich! Alison sprang auf und eilte durch die Küche ins Wohnzimmer, wo sie abnahm.

„Christine, endlich! Hast du meine Nachricht bekommen?“

„Nee!“

„Ich hab’ dir auf deinen Anrufbeantworter gesprochen, dass …“

„He, hör’ ich da das Lachen von unserem witzigen Daddy?“

„Ja, Mum und Dad sind da!“

„Ah, die heile Familie!“

„Wir haben gerade von dir gesprochen!“ Sie versuchte zu besänftigen.

„Ach, was! Das ich nicht lache! Hör’ zu, Schwesterherz, es ist mir ehrlich gesagt inzwischen ziemlich egal, was ihr über mich redet, aber du solltest mal die Nachrichten anschalten.“

„Aber was …“

„Tu es einfach! Sie fangen in wenigen Sekunden an.“

Mit dem Hörer am Ohr ging Alison zum Couchtisch, auf dem neben den zwei Stapeln Hochglanzmagazinen die Fernbedienung für den Flachbildschirm lag. Die Sprecherin der Lokalnachrichten wünschte gerade einen guten Abend. Und dann kam es:

„Heute Nachmittag wurde die Leiche der sechsundzwanzigjährigen Valerie Tate gefunden.“ Nein, sie musste sich verhört haben. Es konnte nicht wahr sein. Bilder von Polizisten in Uniform und Leuten von Spurensicherung in weißen Overalls erschienen auf dem Bildschirm. Von draußen drang das laute Lachen ihres Vaters und das schrille Kichern ihrer Mutter herein.

„… auf grausamste Art“, sagte ein Sprecher der Polizei. „Jeden, der Valerie Tate kannte oder sie gestern gesehen oder sonstige auffällige Personen beobachtet hat, bitten wir, sich mit der Polizei in Darwin oder jeder anderen Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen.“

„Alison?“ Jetzt erst realisierte sie den Hörer, den sie noch immer an ihr Ohr gepresst hielt.

„Alison, bist du noch dran?“

„Ja.“ Sie hörte wie ihre eigene Stimme zitterte. Noch immer starrte sie in den Fernseher, obwohl schon längst die Bilder einen Palmenstrand und einen gestrandeten Wal zeigten.

„Hör’ zu“, sagte Christine, „ich hab’ damit nichts zu tun. Es ging nur um Einschüchterung. Das hab ich Phil ganz klar gemacht. – Alison?“

„Ihr habt also jemanden geschickt …“

„Du hast doch selbst … Hast du überhaupt verstanden, was ich gerade gesagt habe?“

Alison schluckte. „Ja, sicher.“ Die Stimme gehörte nicht ihr.

„Was hab’ ich gesagt?“

„Dass – dass du es Phil ganz klar gemacht hast.“ Im Fernsehen war der Palmenstrand von einer tristen Straße mit überquellenden Mülltonnen abgelöst worden.

„Ja. Das hab ich. Nur einschüchtern, keine körperliche Gewalt, hab’ ich gesagt.“ Alison hörte ein Schnaufen. „Ich hab’ Phil angerufen, aber er meldet sich nicht. Vielleicht hat er es auch noch gar nicht an jemanden weitergegeben. Alison?“

„Ja?“

„Es kann gut möglich sein, dass das alles gar nichts mit dir zu tun hat.“

„Was?“ Sie begriff nichts mehr. All das konnte nicht wahr sein. Sie würde gleich aufwachen und entdecken, dass sie mit einer Freundin am Telefon über das Writer’s Festival plauderte.

„Ich meine, es könnte auch Zufall gewesen sein, oder? Jemand bringt eben jemanden um, es hätte auch jemand anders treffen können.“ Christines Stimme war erschreckend nüchtern. „Nur war es halt Valerie Tate!“

Alison schwieg, dachte nach. Konnte es einen solchen „Zufall“ geben?

„He, Ally! Wo bleibst du?“ Von draußen drang die Stimme ihres Vaters herein. „Dein Steak wird kalt!“

„Ich muss Schluss machen, ich ruf’ dich später wieder an.“

„Alison!“ Christines Stimme klang scharf.

„Ja?“

„Du musst jetzt die Nerven behalten, hörst du?“

„Ja.“

„Du darfst niemandem etwas anvertrauen, verstehst du?“

„Ja.“

„Sonst sind wir nämlich beide dran, kapierst du das?“

„Sicher.“

„Wir sind beide dran“, wiederholte sie, und Alison überhörte nicht ihre Betonung.

„Alison?“ Das war ihre Mutter.

„Ich muss jetzt aufhören …“

„Guten Appetit!“, sagte Christine gehässig, und Alison hörte ein Klicken in der Leitung.

„He, Alison! Sollen wir gehen, oder was?“ Ihr Vater rief.

„Ich komme schon!“ Mit unendlich langsamer Bewegung legte sie den Hörer auf das Buch über Modefotografie im zwanzigsten Jahrhundert. Konnte das möglich sein? Sie, Alison Griffith, geborene van Oosterzee hatte einen Menschen töten lassen?

Jeder Schritt fiel ihr schwer, als müsse sie sich plötzlich auf einem anderen Planeten, in dem anderen Schwerkraftgesetze herrschten, zurechtfinden. Es kann nur Zufall sein, wiederholte sie sich, ich habe nichts damit zu tun.

„Ist dir nicht gut, Darling?“ Der besorgte Blick ihrer Mutter.

„Mach’ doch nicht so ein Aufhebens, Maggi.“ Das war ihr Vater.

Sie sah zu Matthew. Arglos schnitt er ein Stück Steak ab, steckte es sich in den Mund, kaute und spülte es mit einem Schluck James Boag’s herunter.

„Wer war das?“, wollte Matthew wissen. Seine Geliebte war ermordet worden - und er wusste es noch nicht.

„Die Mutter einer Freundin von Prudence.“ Wie leicht ihr doch die Lüge über die Lippen ging. Matthew würde es aus dem Fernsehen erfahren, nachher, wenn ihre Eltern gegangen wären, und er sich mit einem Drink auf der Couch entspannen wollte.

„Seid ihr eigentlich sicher, dass Prudence keine Drogen nimmt?“, fragte ihre Mutter.

„Margret, wieso sollen sie sicher sein? Sie können es nur hoffen.“ Das war ihr Vater.

„Wir reden mit ihr über all solche Sachen.“

„Klar, ihr seid ja ein modernes Paar, was?“

„Aber sie ist doch in Adelaide – und außerdem spricht man über so was nicht mit seinen Eltern!“

„Matthew“, hörte sie ihre Mutter sagen, „Ihr solltet mal verreisen. Alison erscheint mir so nervös.“

„Matthew kann höchstens mal übers Wochenende weg“, antwortete ihr Vater. „Jake ist im Krankenhaus, und er muss schließlich was tun für sein exorbitantes Gehalt!“

„Aber Paul! Gönn’ deinem Schwiegersohn doch auch mal was!“

„Ich gönn’ ihm alles, Maggie! ICH fahr’ keinen Porsche!“

„Du weißt genau, was ich meine, Paul!“

Alison hörte sie reden, sah sie Fleischstücke schneiden und in den Mund stecken. Sie ließ das Besteck auf den Teller fallen. Alle sechs Augen richteten sich auf sie.

„Es – es tut mir leid, aber ich fühle mich nicht wohl.“ Ohne sich um die Blicke zu kümmern, eilte sie ins Wohnzimmer und schaffte es gerade noch zur Toilette, um sich zu übergeben. Sie spülte den Mund aus, wusch sich das Gesicht und sah sich im Spiegel ins Gesicht. Wässrige, rotgeränderte Augen starrten ihr, aus einem blassen, schmalen Gesicht entgegen. Haarsträhnen klebten in der Stirn, sie strich sie mit der Hand heraus. Es musste ein Zufall sein. Ein dummer Zufall. So was gab es doch. Man wünscht sich den Tod eines Menschen - und dann verunglückt er. Wie oft hat es so was schon gegeben! Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren.

„Alison, ist alles in Ordnung?“ Das war Matthew. Was sollte sie sagen? Wie sollte sie erklären, warum sie das Fernsehen angeschaltet hatte? Er würde fragen. Und sie müsste ihm von ihrem Auftrag berichten.

„Es muss die ganze Aufregung sein. Das Erdbeben und …- ich komme gleich!“ Oh, wie sie sich selbst hasste. Sie atmete durch, putzte sich rasch die Zähne, fuhr sich durchs Haar. Sie richtete sich auf und ging hinaus.

Spurlos

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