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Alison Griffith hatte das Seitenfenster heruntergelassen und ließ den Fahrtwind ihr kurzes, blondes Haar zerzausen, und den dünnen Schweißfilm, mit dem man in diesem Klima leben musste, auf ihrer Haut kühlen. Noch um acht Uhr am Morgen lag ein Dunstschleier in der Luft. Obwohl jetzt im Juni längst nicht die Wet-Season angebrochen war, jene sechs Monate, in denen es besonders schwül war, der Regen für das ganze Jahr fiel und im schlimmsten Fall Zyklone die Stadt bedrohten, spendete die Nacht doch so viel Feuchtigkeit, dass überall in den Gärten die weiß blühenden Frangipani, die üppigen Holunderbüsche, die fleischigen Gummibäume, und andere tropische Blumen und Büsche die Hitze des Tages überstehen konnten.

Entlang des Tiger Brennan Drives, den sie in Richtung City nahm, glitzerte um diese Uhrzeit das Meer noch silbrig. Im Laufe des Tages würde es alle Blau-Töne von türkis bis dunkelblau annehmen. Im kleinen Hafen, schaukelten ein paar Fisch-Trawler, manche alt und aus Holz, andere makellos weiß mit chromblitzenden Geländern. Doch die postkartengleiche Ansicht konnte ihre düsteren Gedanken nicht vertreiben.

Sie nahm die Anhöhe, auf der sich die City von Darwin erhob und bog dann rechts in die noch kaum befahrene McMinn-Street ein. Nach ein paar hundert Metern steuerte sie links in die Einfahrt des länglichen, einfachen Gebäudes des Frog Hollow Centers for the Arts und parkte neben dem silberfarbenen alten Holden-Modell mit der Beule am rechten Kotflügel ihrer Kollegin Meg Rowan. Sie zog den Schlüssel ab, doch anstatt wie gewöhnlich auszusteigen blieb sie sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe auf die blass gelb gestrichene Wand, vor der ein paar Büsche blühten. Sie wartete auf einen Ruck, einen Sprung der Zeit, hinüber in eine andere Gegenwart – oder in die alte Vergangenheit.

Um halb sieben heute morgen, als der Wecker klingelte, hatte sich noch alles wie sonst angefühlt. Ein böser Traum hatte sie geplagt und schlecht schlafen lassen, glaubte sie. Nach zwei oder drei Sekunden aber traf sie die Erinnerung an den vergangenen Abend mit voller Wucht. Ihr Leben war in sich zusammengestürzt, wie von Termiten befallene Holzhäuser plötzlich einknickten, obwohl man ihnen äußerlich kaum etwas angesehen hatte. Warum bloß hatte sie es nicht bemerkt? Weil sie es nicht bemerken wollte? Sie legte ihre Hände in den Schoß und schaute darauf, als könne sie die Betrachtung davor bewahren, sich ganz zu verlieren. Auf den Oberschenkeln spürte sie den Stoffhauch ihres hellgrünen vierhundertdreißig Dollar teuren Sommerkleids. Ihre gepflegten, pedikürten Füße mit den dezent perlmuttfarben lackierten Nägeln streckten sich in zweihundertfünfzig Dollar teuren Sandalen aus. Hatte sie all ihre Aufmerksamkeit auf solche Äußerlichkeiten konzentriert? Nein, da war auch Prudence, ihre siebzehnjährige Tochter, die sie liebte, da war das Haus – und - hatte sie nicht dafür gesorgt, dass alles in Ordnung gehalten, anständig gekocht wurde? Hatte sie nicht immer ihr Bestes getan – nun sicher nicht immer, aber doch meist – um ihren Mann glücklich zu machen? Und dann sein Verrat.

Sie blickte auf und sah sich selbst im Rückspiegel in die Augen. Du bist nicht die Einzige, Alison, murmelte sie, warum solltest du eine Ausnahme sein? Warum nicht?, schrie ihr Spiegelbild zurück, warum sollte ich KEINE Ausnahme sein?

Als sie ein Rinnsal von Schweiß zwischen ihren Brüsten am Bauch herunter rinnen spürte, machte sie endlich die Tür auf. Warme, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Alles fiel ihr schwer: das Aussteigen, das Zuwerfen der Tür, ihre Schritte unter dem vorgezogenen Dach entlang und an den Eingängen der Abteilungen der verschiedenen Kunstbereiche vorbei, der Griff zur Tür des Writer’s Centers. Sie atmete tief ein und aus und hob ihr Kinn. Dann stieß sie die Tür auf.

Der vertraute Geruch nach Teppichboden, Papier, Druckertinte und elektronischen Geräten, das ungemütliche Licht der billigen Neonröhren, und die Enge des mit Kartons, Schreibtischen, Bürostühlen, Kopierern, Faxgeräten und Computern voll gestopften Raums – all das, was sie schon oft als störend empfunden hatte, liebte sie in diesem Augenblick. Hier fühlte sie sich heimischer als zu Hause.

„Hi Alison, auch so früh?“ der plumpe Körper Meg Rowans drehte sich auf einem wackligen Bürostuhl ihr zu. Sie war das Gegenteil von Alison. Unförmig, stämmig, farblos und schlecht gekleidet – und frisiert. Sie trug nie Make-up und immer flache Schuhe, die ihre in der Hitze anschwellenden Beine noch massiver erscheinen ließen. Ihre Brille war ein altes, längst aus der Mode gekommenes Modell mit zu großen und zu runden Gläsern. Ihre blasse Haut war mit rötlichen Hitzeflecken bedeckt. Das dunkelblonde Haar hatte sie einfach zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der schlaff auf ihren Nacken fiel. Meg hätte allen Grund haben können, auf sie, die attraktivere, jüngere, wohlhabende Alison, neidisch zu sein. Aber Neid, das hatte Meg ihr einmal anvertraut, war ein ihr fremdes Gefühl. Meg ging in ihrer Arbeit am Writer’s Center auf – und war glücklicht mit Nick verheiratet, einem drahtigen, nicht besonders großen Mann, der als Busfahrer für die Stadt arbeitete und der, so oft ihn Alison getroffen hatte, meist entspannt und guter Dinge war. Bevor Alison die Begrüßung erwidern konnte, sagte Meg:

„Oh – was Schlimmes?“, und sah sie mit ihren braunen Augen durch ihre große Brille an.

Alison hatte sich vorgenommen, nichts zu erwähnen, und die Sache mit sich selbst auszutragen.

„Komm, setz’ dich erst mal.“ Meg erhob sich. Ihr blaues, mit winzigen Sternchen gemustertes Kleid wogte um ihren massigen Körper als sie zur Kaffeemaschine ging. Alison ließ sich auf ihren Drehstuhl mit dem fadenscheinigen roten Stoff sinken. Ihr Widerstand fiel vollends in sich zusammen als Meg fürsorglich die Milch in der Tasse verrührte und sie ihr reichte.

„Matthew betrügt mich.“ Die Worte hörten sich fremd an. Nein, es konnte nicht sein, dass ihr, Alison, geborene van Oosterzee, so etwas passiert war.

Meg zog sich einen anderen, in der Mitte des Raums abgestellten Bürostuhl heran. „Bist du sicher?“

Alison nickte – und dann erzählte sie Meg alles.

Gestern war sie mit ihrer Schwester Christine im Deckchair-Cinema gewesen, einem unterhalb der City, nicht weit von der Stokes Hill Wharf, dem Kai an dem sich Restaurants angesiedelt hatten, entfernt gelegenen sehr beliebten Open-Air-Kino. Sie traf sich nicht oft aber doch in regelmäßigen einmonatigen Abständen mit ihrer jüngeren Schwester. Hätten sie in einer größeren und mehr Unterhaltung bietenden Stadt als Darwin gelebt, wusste Alison, hätten sie sich seltener getroffen. Sie waren einfach zu verschieden. Alles an der sechs Jahre jüngeren Christine war schriller und auffälliger als an ihr. War Alisons Haar honigblond, war das von Christine wasserstoffblond, trug Alison kurze Kleider, waren die von Christine geradezu obszön kurz und auch grell gemustert. Christine wog ein paar Kilo mehr als Alison und das machte sie, die auch fast zehn Zentimeter kleiner war, kompakter: Ihr Hals wirkte gedrungener, ihre Schultern waren breiter und ihre Füße größer.

Dennoch: Christine war durchaus nicht unattraktiv. Sie bewegte sich geschmeidig auf ihren dünnen Absätzen, hatte ein ansteckendes Lachen und brachte in jede langweilige Barbecueparty Schwung. Sie hatte kein Glück bei den Männern – nein, Alison berichtigte sich - sie hatte vielleicht zu oft Glück. Ihre Liebschaften lösten sich in nicht allzu großen Abständen ab und geheiratet hatte sie nur einmal. Phil, einen ehemaligen Cricket-Spieler. Diese Heirat hatte den Bruch mit ihrem Vater herbeigeführt. Dieses Ereignis lag nun schon acht Jahre zurück. Seitdem hatte sie an keiner einzigen Familienfeier mehr teilgenommen. Ihr Vater wiederum, seiner jüngeren Tochter was Dickköpfigkeit anging, nicht nachstehend, hatte nach dem Bruch jegliche finanzielle Unterstützung eingestellt. Nach den unterschiedlichsten Jobs war Christine seit einem halben Jahr in einem Friseurladen beschäftigt, und Alison hatte den Eindruck, dass ihr dieser Beruf endlich Spaß machte.

Sie hatten sich gerade mit einem Drink in die bequemen Liegstühle fallen lassen, und warteten mit der hereinbrechenden Dämmerung auf den Beginn des Films, als Christine den Strohhalm ihres Cocktails aus dem Mund schnippte und in beiläufigem Ton begann: „Ach, übrigens, Alison …“ Sie brach ab und ihr Blick flüchtete sich auf die Rücken der vor ihnen Sitzenden.

Alison erwartete Christines Bitte um eine finanzielle Hilfe, die sie natürlich so schnell wie möglich zurückzahlen würde. In Gedanken überschlug sie bereits einen Betrag, den sie entbehren könnte. Das auf ihren und Matthews Namen laufende Konto hätte sie nie ohne seine Zustimmung anzurühren gewagt. Und Matthew hätte ganz sicher nicht zugestimmt.

„Wie viel brauchst du?“, fragte Alison also, als Christine nicht weiter sprach. Da erst kehrte Christines Blick wieder zu ihr zurück. In ihren Augen lag ein seltsames Glühen und im Nachhinein fragte sich Alison, ob Christine diesen Moment besonders genoss. „Ich brauche kein Geld.“

Alison ignorierte den spitzen Unterton.

Christine saugte an ihrem Strohhalm.

„Ich hab’ übrigens deinen Matthew mit einer jungen Frau gesehen. Das Ganze wirkte ziemlich ... äh ... vertraulich.“

An das, was dann geschehen war, konnte sich Alison nur noch vage erinnern. Sie war wütend geworden, hatte Christine beschimpft, Matthew schlecht zu machen, und war dann aufgesprungen und gegangen. Ziellos war sie durch die Stadt gefahren, und erst, auf dem langen Stuart Highway entlang des Flughafengeländes war ihr klar geworden, dass ihre Schwester nichts dafür konnte.

Irgendwann fuhr sie heim, legte sich ins gemeinsame Bett. Spät in der Nacht als sie ihn kommen hörte, kauerte sie sich an den äußersten Rand des Bettes und stellte sich schlafend. Doch Matthew ging ins Gästezimmer. Am Morgen konnte sie ihm nicht in die Augen sehen. Sie fragte sich, ob dies derselbe Mensch war, den sie vor achtzehn Jahren geheiratet hatte, und wann sie aufgehört hatte, ihn genau anzusehen.

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