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Die dunklen, schlecht beleuchteten Straßen Darwins waren jetzt in der Nacht noch ein wenig stiller. Nur an manchen Ecken, oft im Schatten von Bäumen, kauerten Betrunkene. Costarellli hatte beim Fahren das Fenster heruntergelassen, rauchte – und hustete.

„Meinst du nicht auch, dass die Zigaretten dir nicht besonders gut tun?“, fragte Shane irgendwann.

„Natürlich tun sie mir nicht gut, Shane“, brummte Costarelli und nahm einen tiefen Zug.

„Schau dir den an“, Costarellli sah einem Aborigine nach, der mit einer Flasche in der Hand an einem Gartenzaun entlang wankte und ihnen nachwinkte. „Sie haben alles. Geld, Grundstücke – mein Gott, du glaubst gar nicht, was manche Communities für Einnahmen haben, weil sie ihr Land an einen verdammten Supermarkt oder eine Tankstelle verpachtet haben. Und dann die staatliche Unterstützung … Alles egal. Sie besaufen sich. Jeden Tag. Jede Nacht. Saufen sich dumm und dämlich. Und wenn noch ein bisschen Hirn übrig ist, schnüffeln sie’s weg mit Benzin.“ Costarelli nahm einen Zug. „Der Mensch ist einfach nicht logisch.“

An einer ausgeschalteten Ampel bog Costarelli nach rechts ein und hielt kurz darauf auf der linken Straßenseite vor einem charmelosen dreigeschossigen Flachbau mit Klinkerfassade. Im Vorgarten wuchsen ein paar Sträucher und Gummipflanzen, der Rasen war kurz gemäht. Ein anonymes Haus, dachte Shane. Der Gärtner kommt hin und wieder, die Mieter kennen sich kaum. Schräg gegenüber leuchtete ein Schild mit der Aufschrift Holiday Apartments. Dieses Gebäude wirkte neuer und moderner.

Costarelli schloss die Haustür aus Aluminium und geriffeltem Glas auf. Automatisch schaltete sich die Treppenhausbeleuchtung an, ein gelbliches Licht, das alles in ein undefiniertes Halbdunkel tauchte. Fenster standen auf, so dass der süßliche, tropische Geruch von draußen, die Mischung aus blühenden und verfaulenden Pflanzen, auch hier hereindrang. Auch einen leichten Geruch nach Curry glaubte Shane wahrzunehmen.

Sie stiegen über eine Steintreppe in den ersten Stock hinauf, Costarelli öffnete mit dem passenden Schlüssel die versiegelte Tür und machte das Licht an. Helles Weiß strahlte. Weiß die Wände, die Ledercouch, der Tisch, die Stühle - nur der Teppichboden war hellgrau. Es war heiß und stickig, und die Klimaanlage ausgeschaltet.

„Makellos sauber und hell“, sagte Costarelli. „Die Wohnung als Spiegel unserer Seele.“

„Wusste gar nicht, dass du so poetisch bist“, brummte Shane worauf Costarelli hustete.

Man stand sofort im Wohnzimmer, das auf der rechten Seite in eine offene Küche überging. Links kam man ins Schlafzimmer. Auch hier: weiße Wände, weiße Möbel, weiße Tagesdecke, grauer Teppichboden. Das Bett war ordentlich gemacht, auf einem Stuhl lagen ebenso ordentlich ein T-Shirt über der Lehne und ein Rock über der Sitzfläche.

Korrekt, fiel Shane ein. Alex Wingers Lieblingswort. Und noch ein Wort fiel ihm ein: Kalt.

„Irgendwelche Adressen?“, fragte Shane und ging zurück ins Wohnzimmer.

„Ihr Notebook ist nicht da. Sie hatte es mit im Gericht.“

Shane betrachtete die Bücher, mit denen eines der beiden Regale von oben bis unten gefüllt war. Juristische Abhandlungen, konnte er ausmachen, und dann Krimis. Es überraschte ihn nicht, dass sie alphabetisch nach Autoren geordnet waren. Auf dem anderen Regal standen Fernseher, DVD-Recorder, eine kompakte Musikanlage und CDs.

„Da auf dem Sofa kann man es sich ziemlich bequem machen. Bei guter Musik, einem guten Buch … in der Küche stehen ein paar Flaschen Wein.“ Costarelli hatte die Arme in die Hüften gestemmt.

„Was ist mit Fotos? Briefen? Anrufen?“

„Haben wir alles mitgenommen. Es gab nicht viele Fotos. Hat sie wahrscheinlich auf dem Computer gehabt. Ach ja, ihr Handy ist auch weg.“

Shane warf einen Blick in die Küche. Doch auch auf der metallischen Tür des Kühlschranks, an der die meisten Menschen wichtige Telefonnummern oder Fotos hängen hatten, war nichts – nur makelloses Weiß.

„Die Nachbarn hier leben alle ziemlich anonym. Alleinstehende, kurzzeitig hier Lebende. Sie war morgens pünktlich im Büro und ist abends spät gegangen. Sie hatte wohl eine ganz gute Freundin, die ist aber vor zwei Wochen nach Sydney gezogen.“ Costarelli wischte sich mit der Hand über die Stirn.

„Alles okay, Tony?“

„Ist nur verdammt heiß“, knurrte Costarelli. „Hast du was gegen ein Bier?“

Zehn Minuten später lehnten sie an der Theke draußen auf der Terrasse eines überfüllten Pubs in der Mitchell Street, nur einen Steinwurf vom Büro und Shanes Hotel entfernt.

„War nicht so einfach, die Sache mit deinem Partner, was?“ Costarelli blies den Rauch aus.

„Hm“, machte Shane.

Ja, es war nicht leicht, und es ist nicht leicht, Überlebender zu sein, dachte er. Al Marlowes Geburtstag, die fröhliche Stimmung im Pub, dann, der Aufbruch nach Hause. Der dunkle Parkplatz. Seine Worte, wie er Jack überredete zu Fuß zu gehen und nicht in ein Taxi einzusteigen, obwohl eines da war. Diesen Moment in seinem Leben konnte er sich nie verzeihen. Wenn Jack ins Taxi gestiegen wäre, wäre er heute noch am Leben. Und Evans und Hawkings auch. Shane spürte, wie sich wieder sein Inneres zusammenzog. Er hatte als einziger überlebt. Seitdem litt er unter noch stärkeren Schlafstörungen, , musste seine Schmerzen im Bein immer wieder mit Schmerzmitteln betäuben, wurde öfter krankgeschrieben. Man hatte ihm eine Psychotherapie verordnet. Er sagte immer wieder die Sitzungen ab – und in denen, die er tatsächlich wahrnahm, litt er noch mehr, da ihm immer klarer wurde, dass er die Schuld trug.

Einmal sagte die Therapeutin: Sie wollen nicht darüber hinwegkommen. Welche Schuld tragen Sie mit sich herum? Ist das wirklich Ihre?

Shane sah Costarelli an,

„Jacks Mörder ist tot. Aber Jack ist nicht wieder lebendig geworden.“

Costarelli drückte die Zigarette aus und zog die Nase hoch.

„Verdammte Sache, wenn es so endet.“

Sie hoben beide fast gleichzeitig das Glas und tranken. Ein Kellner wischte die Theke unter ihren Gläsern sauber. Sie stellten die Gläser ebenso gleichzeitig wieder ab.

„Warum hinterlässt er mir so eine Nachricht, Tony? Genießen Sie Ihren wohlverdienten Ruhestand.“ Das ließ ihn die ganze Zeit nicht los.

„Vielleicht will er, dass du ihn endlich findest?“ Costarelli hustete und nahm eine neue Zigarette aus der Packung. „Was weiß man schon, was in diesen verdammten Shitheads vorgeht?“

Shane dachte an Valerie Tates Krimi-Bibliothek. Er war sicher, unter den Büchern befand sich eines mit einem ähnlich grausamen Mord. Und Valerie Tate hatte in ihrem weißen Wohnzimmer auf ihrer weißen Couch gesessen, ein Glas Wein vor sich und sich wohlig gegraust. Was für eine Ironie des Schicksals!

Auf zwei großen Bildschirmen liefen Musikvideos. Die meisten der Gäste waren junge Leute, Anfang zwanzig, schätzte Shane. Viele von ihnen schienen Backpacker zu sein, die nach dem Ende der Schulzeit in Europa oder Amerika für ein paar Monate durch Australien reisten. Und schon dachte er wieder an seine Fälle, in denen Backpacker grausamen Mördern zum Opfer gefallen waren – wann würden diese Gedanken aufhören?

„Vielleicht schreib’ ich auch ein Buch.“ Costarelli tippte sich an die Stirn. „Hier ist so viel drin, das raus will! Shane, du solltest das auch machen, wenn du aufhörst.“

„Ganz bestimmt nicht! Mein Vater schreibt eins über Wale. Das geht jetzt seit fast einem Jahrzehnt. Und ich hab` noch keine einzige Zeile davon zu sehen gekriegt.“

Eine Gruppe junger Frauen mit kurzen, engen Tops drängte sich an ihnen vorbei an einen frei gewordenen Tisch. Costarelli musterte ihre in engen Jeans verpackten Hintern.

„Wahrscheinlich interessierst du nicht genug dafür“, murmelte er abwesend.

Shane wusste, er würde ganz sicher nicht anfangen zu schreiben. Er hörte bei der Polizei auf, weil er Abstand brauchte, weil er die Gedanken an Verbrechen nicht mehr ertragen konnte. Da würde er ganz sicher nicht ein Buch schreiben, das ihn zwang, sich zu erinnern.

Sie tranken ihr Bier und zahlten.

„Danke, dass du hier geblieben bist“, sagte Costarelli auf der Straße.

„Ich hatte ja gar keine andere Wahl, oder?“

Costarelli verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Dann wurde er schlagartig ernst. „Das ist unser letzter Fall, oder?“

„Es ist sicher mein letzter, ja.“

Costarelli hob den Kopf, und sah in den Sternenhimmel.

„Ich glaube, es ist auch mein letzter.“

„Dann tun wir unser Bestes.“

„Ja, Mann. Werden wir nicht noch am Ende sentimental, was?“ Costarellli klopfte ihm auf die Schulter. „Gute Nacht.“

Spurlos

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