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Himmelwärts und erdverbunden: Hildegard von Bingen

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Bereits zu Lebzeiten sprach man davon, dass sie eine Heilige war. Hildegard von Bingen – eine Frau, an der sich die Geister scheiden, bis heute. Prophetin und Mystikerin nennen sie die einen, die anderen machen sich mit esoterischem Interesse an ihrem Werk zu schaffen und verbannen sie in das Reich der „Kräuterhexen“: Hildegard-Tee, Hildegard-Seife, Hildegard-Kräuterlikör – mit dem Namen der Nonne aus Rheinhessen lassen sich selbst die obskursten Kräutermixturen verkaufen. Die Heilkundige, die Mystikerin, die Köchin und Autorin von Rezepten, die esoterische Gesundheitsratgeberin: Diese rein naturverbundene Sicht auf Hildegard von Bingen wird dieser außergewöhnlich begabten Frau nicht gerecht. Sie komponierte, dichtete und betrieb Kirchenpolitik. Es waren Visionen, aus denen Hildegard von Bingen ihre Kraft zum schöpferischen Denken und Handeln gewann. Hildegard war eine starke Frau, eine selbstbewusste Persönlichkeit, die den Mächtigen durchaus auch ins Gewissen redete.

Vieles aus dem Werk und auch aus dem Leben der Hildegard mutet heute jedoch erstaunlich modern an und fasziniert gerade deswegen viele, eben auch der Kirche fernstehende Menschen. Ihre Rede von der „Harmonie und Symphonie der Schöpfung“ beispielsweise, ihr Wissen über die heilende Wirkung von Pflanzen, Speisen und Steinen, ihre ganzheitliche Sicht von Mensch und Kosmos lassen den zeitlichen Abstand fast vergessen, der uns von der mittelalterlichen Frau trennt.

Hildegard wurde 1098 geboren. Zur Zeit ihrer Geburt kämpften Kaiser und Papst um die Investitur, die Einsetzung von Bischöfen und Äbten, und damit zugleich um die politische Macht im Abendland. Ein Kreuzfahrerheer eroberte Jerusalem, innerhalb des Klerus herrschten teilweise unmoralische Sitten. Zur gleichen Zeit brach mit der Entstehung neuer Orden eine Blütezeit der Frömmigkeit an. Hildegard stammte aus einer adligen Landfamilie, ihre Eltern und fast alle ihrer neun Geschwister bekleideten wichtige und einflussreiche Ämter in Staat und Kirche. Hildegard, die Jüngste, sollte Gott geweiht werden. Die Eltern übergaben sie in die Obhut einer Frauenklause, die dem Mönchskloster auf dem rheinhessischen Disibodenberg angebaut worden war. Dort lernte Hildegard lesen und schreiben, sie übte in lateinischer Sprache die Psalmen und den Gesang des Stundengebets ein. Obwohl Frauen zu jener Zeit nicht die „artes liberales“, die freien Künste, gelehrt wurden, also Fächer wie Geometrie, Rhetorik und Musik, eignete sich Hildegard mit ungeheurem Wissensdurst ein fundiertes Wissen über die Heilige Schrift, Texte der Kirchenväter und weltliche Wissenschaften an. So verlebte sie zunächst ein ruhiges Klosterleben, auch wenn sie zu dieser Zeit einige innere Visionen hatte. Nach dem Tod ihrer Lehrerin Jutta von Sponheim wurde die mittlerweile achtunddreißigjährige Hildegard 1136 von ihren Mitschwestern zur neuen Meisterin gewählt. Von nun an war Hildegard mit der Erziehung ihrer Mitschwestern betraut und unterwies sie auch in weltlichen Dingen. Ihr Ruf drang immer mehr nach außen.

1141 erhielt Hildegard nach ihren eigenen Aussagen von Gott den Auftrag, ihre Visionen schriftlich festzuhalten. Sie zögerte zunächst aus Angst vor ihren Mitschwestern und dem Gerede der Leute. Doch schrieb sie letztlich doch auf, was sie aus den Visionen erfuhr. Zehn Jahre arbeitete sie an ihrer ersten Schrift mit dem Titel „scivias“ – „Wisse die Wege“. Hildegard entfaltet darin das Bild einer Welt, in der die Menschen und der Kosmos untrennbar mit Gott verbunden sind. In 26 Visionen stellt sie das gesamte Schöpfungs- und Erlösungswerk dar. Nach wie vor zerrissen sie aber Zweifel, ob ihre Visionen tatsächlich echt waren. So schrieb sie an Bernhard von Clairvaux, der ihr freundlich und zustimmend antwortete und sie in ihrer Arbeit bestärkte. Hildegard wagte sich darauf erstmals mit ihrem Werk an die Öffentlichkeit. Auf der Trierer Synode 1147 las Papst Eugen III. sogar aus ihrem Werk vor und ermutigte sie in einem Brief zur Fortsetzung ihres Werkes. Aus der Seherin wurde eine beglaubigte Prophetin. Die Anerkennung von Papst und Synode veränderten das Leben der Hildegard nachhaltig. Sie geriet in das öffentliche Interesse. Zahlreiche Menschen pilgerten auf den Disibodenberg, um sich Rat bei Hildegard zu holen. Mehrere adlige Frauen schlossen sich der Frauenklause an. Der Platz wurde eng, so fasste Hildegard den Entschluss, das Disibodenberger Kloster zu verlassen und ein eigenes Kloster auf dem Rupertsberg zu eröffnen, einem unbesiedelten Hügel an der Mündung der Nahe in den Rhein bei Bingen, etwa 30 Kilometer entfernt vom Disbodenberg. Es begannen die Jahre der Selbstentfaltung Hildegards, das Kloster blühte auf. Hildegard begann weiter zu schreiben und verfasste ein Buch über den Widerstreit zwischen Tugenden und Lastern. Im Zentrum stehen die Auseinandersetzung des gläubigen Menschen mit Gut und Böse und seine Verantwortung für die Weltordnung. Und Hildegard schrieb Briefe. Über 300 sind erhalten, darunter Briefe an die Mächtigsten ihrer Zeit, wie den Kaiser Friedrich I. Barbarossa. Von ihm erhielt das Kloster Schutz, doch hinderte dies Hildegard nicht, den Kaiser für törichtes Handeln zu tadeln und sich in seine Politik einzumischen.

Hildegard unternahm Predigtreisen nach Köln, Trier und Würzburg. Sie wurde regelrecht berühmt. Und sie neigte zu unkonventionellem Handeln: 1178 brach ein schwerer Konflikt mit dem Mainzer Erzbischof aus, weil Hildegard einen exkommunizierten, jedoch kurz vor dem Tod vom Kirchenbann befreiten Edelmann auf dem Klosterfriedhof beerdigen ließ. Auch wenn sich der Konflikt schließlich löste, zehrte diese schwere Auseinandersetzung aber an den Kräften der mittlerweile über 80 Jahre alten Nonne. Am 17. September 1179 starb sie auf dem Rupertsberg.

Offiziell wurde Hildegard niemals heiliggesprochen. Mehrere Versuche kurz nach ihrem Tod scheiterten an der Kirchenpolitik. Zum einen sperrte sich das Mainzer Domkapitel, zum anderen konnte man sich einigen, wer für den Kanonisierungsprozess zuständig war. Aufgrund ihrer Verehrung und der großen Bedeutung ihres Lebens und Werkes wurde Hildegard aber in den 1584 erstmals erschienenen offiziellen Katalog der Heiliggesprochenen aufgenommen. Im Mai 2012 bestätigte Papst Benedikt XVI. ihre Aufnahme in den Heiligenkalender. Am 7. Oktober 2012 erhob der Papst Hildegard von Bingen zudem zur Kirchenlehrerin.

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