Читать книгу Jahresabschluss nach dem Schweizer Rechnungslegungsrecht - Marco Gehrig - Страница 55
Praxisbeispiele verschiedener rechnungslegungsspezifischer Generalnormen
ОглавлениеOR 958: Die Rechnungslegung soll die wirtschaftliche Lage des Unternehmens so darstellen, dass sich Dritte ein zuverlässiges Urteil bilden können.
HGB 264 II: Der Jahresabschluss hat unter Beachtung der Grundsätze ordnungsmässiger Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft zu vermitteln.
FER 6: Die Grundlage für die Jahresrechnung bildet ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild (True and Fair View, Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bildes).
Über die Verbindlichkeit der Generalnorm bestehen in der Fachliteratur unterschiedliche Auffassungen. In ausländischen Rechtsordnungen, z. B. Grossbritannien, geht die Generalnorm den Einzelnormen vor – entgegen dem Rechtsgrundsatz »lex specialis derogat legi generali« (Einzelnorm vor Generalnorm) –, was als Overriding Principle bezeichnet wird.114 So sind einerseits zusätzliche, durch keine Einzelnormen oder keinen Grundsatz geforderte Informationen zwingend offenzulegen, wenn es zur Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes notwendig ist (ergänzendes, schwaches Overriding), und/oder andererseits müssen Vorschriften ordnungsmässiger Rechnungslegung nicht beachtet bzw. modifiziert werden, wenn bei ihrer Beachtung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild nicht vermittelt werden kann (starkes Overriding).115 In der Praxis dürfte das Overriding Principle nur ausnahmsweise zur Anwendung kommen, weil die Einzelnormen mit dem durch die Generalnorm festgelegten Zweck der Rechnungslegung vereinbart sein sollten.116 Die Generalnorm kann auch eine Auslegungs- oder Lückenbüsserrolle übernehmen.
Es ist nicht einfach, die Bedeutung der Generalnorm im schweizerischen Rechnungslegungsrecht zu bestimmen. Die Generalnorm in Verbindung mit den Grundsätzen ordnungsgemässer Buchführung und den Grundsätzen ordnungsgemässer Rechnungslegung bildet eine Richtlinie für den Entscheid von Einzelfragen und hilft, das allgemeine Ziel der Rechnungslegung, d. h. die getreue Rechenschaft,117 zu erreichen. Die Generalnorm von OR 958 gewährleistet jedoch in keiner Art und Weise eine zuverlässige Beurteilung der wirtschaftlichen Lage, geschweige denn eine getreue Darstellung (Fair Presentation/True and Fair View). Es ist unbestritten, dass die Generalnorm des OR durch das Konzept des Tax Driven Accounting zu einer Leerformel geworden ist.