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b) Votum für ein extensives Begriffsverständnis – Bestimmung des dominierenden Strafzwecks nach der konkreten Art der Tat

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Über die formale Bestimmung des Begriffs der Strafe hinaus finden sich in der Literatur vielfältige Versuche, die Strafe auch material näher zu bestimmen. Obwohl es sich bei dem Begriff der Strafe um den zentralen Begriff des Strafrechts schlechthin handelt[263], herrscht über seine materiale Bestimmung eine weitreichende Unsicherheit[264].

Diese Unsicherheit kommt zunächst in der Kontroverse der verschiedenen Straftheorien zum Ausdruck. Zwischen absoluten und relativen Theorien vermittelnd soll eine Vereinigungslehre die Grundlage des gesamten Systems bilden[265]. Die mit der Strafe verfolgten Zwecke bestimmen aber in jedem Fall ganz wesentlich den Gehalt der Strafe, soweit er über das bloße Zufügen eines empfindlichen Übels hinausgehen soll. Der Strafzweck als materialer Legitimationsgrund der Strafe beeinflusst maßgeblich deren kommunikativen Gehalt sowie ihre tatsächliche Ausgestaltung und damit das Sanktionensystem überhaupt[266]. Die entscheidende Weichenstellung folgt aus der Entscheidung, ob Strafe (auch) einen personalen Tadel oder (nur) ein rechts- oder sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck bringen soll[267], ob Strafe (auch) zur symbolischen Wiederherstellung eines Rechtsverhältnisses oder (nur) der Normbestätigung dienen soll[268] und ob Strafe weitere Nebenzwecke verfolgen darf[269].

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Zwar werden in der Strafrechtswissenschaft der Verbrechensbegriff und das Strafziel nicht selten getrennt voneinander behandelt, und auch die Kategorien der Straftat werden in der Regel eigenständig ohne ausdrücklichen Bezug auf die Strafzumessung entfaltet[270]. Dies ändert indessen nichts daran, dass jede nähere Deutung des Verbrechensbegriffs zumindest implizit die Vorstellung von einem konkreten Strafziel voraussetzt[271]. Dabei wird im vertikalen wie horizontalen Rechtsvergleich in jeder entwickelten Rechtsordnung zwischen verschiedenen Arten von Delikten unterschieden:

In fast jeder europäischen Rechtsordnung wie auch in der Rechtsordnung des anglo-amerikanischen common law findet sich die Unterscheidung zwischen Kriminalstrafen und Verwaltungssanktionen[272]. Für das deutsche Strafrecht kann auf die Unterscheidung zwischen Privatverbrechen, bürgerlichem Unrecht und Kriminalunrecht bei Kant und Hegel und das aus dem Kriminalstrafrecht ausgegrenzte Polizeistrafrecht bei Feuerbach verwiesen werden[273]. Noch heute wird de lege lata grundlegend zwischen dem Kriminalstrafrecht und dem Recht der Ordnungswidrigkeiten unterschieden. In jüngerer Zeit unterteilt – zum Teil als wegweisend charakterisiert[274] – Naucke das Strafrecht im weitesten Sinn in ein „echtes“ Strafrecht unter dem Postulat der Vergeltungsstrafe, dem ein Interventionsrecht gegenüber stehen soll, das kriminalpolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen offen steht[275]. In der Folge grenzt er den Verbrechensbegriff stark ein und fasst unter das echte Strafrecht nur „vorsätzliche, mit Unrechtsbewusstsein begangene gewaltsame Angriffe auf Leib, Leben und Freiheit“. Abstrakt beschreibt er das damit erfasste Unrecht als Unrecht, das unabhängig davon ist, ob man in einer Demokratie oder einer Diktatur lebt, das so gesehen absolut sei und sich politischer Verfügung entziehe[276].

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Die vorstehenden Erwägungen zeigen jedenfalls, dass die Sanktion als Reaktion auf unwertes Handeln einen Sinngehalt hat, der maßgebend durch die Tat bestimmt wird. Je nach Tat fungiert Strafe als Instrument zum Schutz von elementaren Rechtsgütern, schützt Strafe Sicherheitsinteressen oder eine elementare Sozialmoral oder verwirklicht einen sozialen Ordnungsauftrag. Dies alles unter den einen Begriff des Strafrechts zu fassen, ist bei einem Verständnis des Begriffs der Strafe als Sanktionierung von unwertem Verhalten möglich, für die Entwicklung prinzipieller Zurechnungs- und Verantwortlichkeitsstrukturen aus Gründen der Praktikabilität der Rechtsanwendung wünschenswert und insbesondere im Kontext einer wirtschaftsstrafrechtlichen Abhandlung auch sachdienlich[277]. Jenseits dieses Grundverständnisses ist die Strafe material aber vielgestaltig, weshalb auch das Sanktionensystem insgesamt pluralistisch ausgestaltet ist.

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Damit verknüpft ist die Forderung nach einer Präzision bei der Strafrechtsanwendung im Einzelfall: Strafe als Vergeltung für die Verletzung elementarer Rechtsgüter, wie etwa der Tötung eines Menschen, fordert die schärfste Sanktion heraus, verlangt material eine möglichst präzise Zurechnungsdogmatik und prozessual die größtmögliche Gewährleistung der Beschuldigtenrechte. Bei einer Strafe als Reaktion auf einen bloßen Verstoß gegen gesamtgesellschaftliche Sicherheitsinteressen (z. B. den öffentlichen Frieden) oder elementare sozialmoralische Vorstellungen rückt das Element des sozialethischen Tadels in den Vordergrund, material liegt hier die Straftat möglicherweise im Vorfeld einer in der Außenwelt dokumentierten, dinglich fassbaren Rechtsgutsverletzung, dafür bleibt die Strafe in ihren Folgen begrenzt. Eine Sanktion gegen bloße Ordnungsvorschriften kann möglicherweise bereits bei einem rein objektiven und nicht mit individueller Schuld verknüpften Verstoß gegen eine Norm verhängt werden, entsprechend gering wird der kommunikative Gehalt der Strafe, die ihrem Betrag nach im Einzelfall – etwa bei einem massiven kartellrechtlichen Verstoß gegen die gesetzlich festgeschriebene Marktordnung – weit über der Geldstrafe einer Straftat liegen kann. Daraus folgt, dass auch Ordnungswidrigkeiten und Verwaltungsunrecht mit einem sozialethischen Unwerturteil belegt werden, der Gehalt dieser Aussage erschöpft sich aber (meist) in dem Tadel des Verstoßes gegen die Ordnung oder den Missbrauch einer bestimmten Institution[278].

Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts

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