Читать книгу Haushaltsnahe Dienstleistungen für Familien - Mareike Bröcheler - Страница 18
2.2.1 Haushaltswissenschaftliche Theorien und Konzepte
ОглавлениеZur Definition von Familienhaushalten wurde bereits in die systemtheoretische Betrachtung privater Haushalte nach von Schweitzer eingeführt, die sog. soziale Theorie haushälterischen Handelns (vgl. von Schweitzer 1991). Für ein besseres Verständnis der tatsächlichen Arbeit des Alltags ist sie durch die sog. personale Theorie zu ergänzen, die haushälterisches Handeln in ,,Arbeits-, Dispositions- und Funktionsbereiche“ (von Schweitzer 1991: 135) unterteilt, in denen alle Handlungen stets „Arbeit und Fürsorge zugleich“ (ebd.: 136) sind und neben einem rationalversorgenden folglich auch emotionalen Charakter haben. Zudem werden alle Handlungen (praktische ebenso wie organisatorische, einfache sowie komplexe) von den drei Dimensionen Lebenseinstellungen, Ressourcen und Handlungsalternativen beeinflusst (vgl. von Schweitzer 1991):
• Die vorhandenen und begrenzten Ressourcen eines Haushaltes gilt es, stets wirtschaftlich und nachhaltig einzusetzen. Beispiele für natürliche, materielle und soziale Ressourcen sind Geld, Zeit, Bildung und Alltagskompetenzen, soziale Herkunft und Humanvermögen sowie die (technische) Ausstattung eines Haushaltes.
• Über die Verwendung der Ressourcen und Ausgestaltung aller Handlungen entscheiden maßgeblich die Lebenseinstellungen, also Normen, Werte und Standards der Haushaltspersonen für den jeweiligen Handlungsbereich. Haushälterische Handlungen sind zudem immer gekennzeichnet durch Fürsorge, also eine emotionale Komponente der Arbeit des Alltags. Vorstellungen von einer „guten Ernährung“ oder von einer ,,ordentlichen Wohnung“ variieren zwischen Haushalten und auch unter Haushaltsmitgliedern und bedürfen der Aushandlung.
• Den haushälterischen Handlungen liegen stets Handlungsalternativen zugrunde, die haushaltsintern oder -extern bedingt sind. Sie werden etwa durch Anzahl und Eigenschaften (Alter, Gesundheit) der Haushaltsmitglieder sowie durch andere Akteure des Versorgungsverbundes bestimmt und fordern die rationale Entscheidungsfindung und das Abwägen zwischen Alternativen, die stets das Ausführen oder Unterlassen einer Handlung sein können.
Die drei Handlungsdimensionen unterliegen einem „haushälterischen Dreiecksverhältnis“ (von Schweitzer 1991: 137) und weisen Interdependenzen auf (siehe Abbildung 3), indem etwa Entscheidungen über Handlungsalternativen von Lebenseinstellungen abhängen, ebenso wie diese auch die Ressourcennutzung beeinflussen.
Abbildung 3: Das haushälterische Dreieck nach von Schweitzer
Quelle: Eigene Darstellung modifiziert nach von Schweitzer 1991: 138
Letztlich verdeutlichen Art und Nutzung der Ressourcen auch die Umsetzung bestimmter Handlungsalternativen und bestimmen maßgeblich die Zielerreichung für die Versorgungs-, Pflege- und Erziehungsleistungen mit. Ziel aller haushälterischen Handlungen ist wiederum die Sicherstellung der Lebenserhaltung, Persönlichkeitsentfaltung und Kultur des Zusammenlebens für die Haushaltsmitglieder und damit die Herstellung einer Alltagskultur der privaten Daseinsvorsorge. Als handlungsleitendes Prinzip konstatiert von Schweitzer das Anstreben eines gewissen Lebensstandards, der sich in den Erwartungen an das eigene Haushaltssystem ausdrückt, und zudem Einflüssen durch Trends, Moden, Politik oder Wissenschaft unterliegen kann. Neben den haushaltsinternen Faktoren für mögliche Handlungsoptionen (etwa bedingt durch die aktuelle Familienphase, gesundheitliche Voraussetzungen etc.) werden diese stets auch von haushaltsexternen Faktoren mitbestimmt, die wiederum aus den drei Umfeldebenen privater Haushalte resultieren (vgl. von Schweitzer 1991).
Haushaltsübergreifende Muster der Daseinsvorsorge lassen sich nach Meier (2000) – in Anlehnung an die von Schweitzer’sche haushälterische Handlungstheorie – durch das Konzept der Haushaltsstile beschreiben. Während sich der soziologisch begründete Begriff des Lebensstils auf die subjektiven Ausdrucksformen und Lebensweisen einzelner Personen bezieht, lassen sich über Haushaltsstile typische Muster der Daseinsvorsorge erfassen, die soziale Gruppierungen von Haushalten aufdecken:21
„Haushaltsstile sind typische Muster der Alltagsorganisation von privaten Haushalten zur Sicherung der Daseinsvorsorge. Sie werden einerseits bestimmt durch die verfügbaren Ressourcen eines Haushalts und andererseits durch die getroffene Lebensplanung seiner Mitglieder. Haushaltsstile werden von den persönlichen Wertorientierungen und von Geschlechter- und Generationenbeziehungen, aber auch von Rahmenbedingungen des haushälterischen Umfelds, maßgeblich beeinflusst. Haushaltsstile ändern sich entlang der Haushaltsbiografie.
Haushaltsstile sind kollektive haushälterische Gestaltungsleistungen, der haushaltsinterne Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zwischen den Haushaltsmitgliedern vorausgehen, um ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen, Wertvorstellungen und Lebensstilpräferenzen zu koordinieren (Mikroebene). Haushaltsstile bilden sich im Kontext milieuspezifischer Wahlmöglichkeiten und Zwänge (Mesoebene) und werden durch gesamtgesellschaftliche Strukturen (Makroebene) mitbestimmt.“ (Meier 2000: 59)
Meier integriert damit die individuell differenzierbaren und von Lebensstilen beeinflussten Wertvorstellungen in die Haushaltskontexte, wo diese in Form der Lebensführung ihren Niederschlag finden. Der Haushaltsbezug offenbart jedoch, dass hierbei Mehr-Personen-Haushalten – wie es auch Familienhaushalte sind –stets interpersonelle Aushandlungsprozesse ebenso zugrunde liegen, wie externe Einflüsse auf unterschiedlichen Ebenen beachtet werden müssen, die die Arbeit des Alltags prägen. Zudem ermöglicht der analytische Zugang mit dem Konzept der Haushaltsstile durch die explizite Inklusion von Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Regeneration und Freizeit im Kontext von Paar- oder Familienhaushalten auch geschlechtsdifferenzierte22 Arbeitsteilungsmuster offenzulegen, die in individualisierten Lebensstilkonzepten ausgeblendet werden (vgl. Meier 2000). So wird deutlich, dass Haushaltsstile, ebenso wie Lebensformen, einem Wandel unterliegen – historisch und biografisch. In der Lebensverlaufsperspektive führen etwa neue Familienzyklusphasen, Haushaltsneugründungen oder andere biografische Ereignisse immer wieder zu Veränderungen in den Ressourcen, Wertorientierungen und Handlungsoptionen, die eine Anpassung des Haushaltsstils erfordern oder hervorbringen.
Neben den genannten Dimensionen haushälterischen Handelns beeinflusst auch die Art der haushälterischen Aufgaben die spezifischen Herausforderungen an die Haushaltsführung und damit die Arbeit des Alltags. Der Wandel von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Arbeit des Alltags (etwa in den Bereichen Medien, Kommunikations- und Informationstechnologie oder Konsum) in einer heute von globalisierten Märkten und digitalisierten Alltagssettings geprägten Moderne bedeutet für private Haushalte ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Anforderungen an ihr Alltagsmanagement (vgl. Thiele-Wittig 1987). Neben die klassischen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, die mit der Beköstigung, Reinigung, Wäscheversorgung, Betreuung, Erziehung und Pflege schon immer Kernaufgaben alltäglicher Daseinsvorsorge waren, treten neue Aufgaben: Die Neue Hausarbeit ist im Gegensatz zu den praktischen Tätigkeiten der Hauswirtschaft durch intellektuelle Arbeit gekennzeichnet, denn sie umfasst „Orientierungsaufgaben, Organisations- und Koordinierungsaufgaben“ (Thiele-Wittig 1987: 120f.), die häufig anderen Hausarbeitsaufgaben vorgelagert sind (vgl. Thiele-Wittig 1987).23
Neue Hausarbeit ist weniger vom Beziehungsaspekt oder von Routinen gekennzeichnet und nicht an die haushaltsinternen Grenzen der Mikroebene gebunden. Sie entsteht durch Außenbeziehungen, die in ihrer Art der Kommunikation sachlicher geprägt sind und dem System der Erwerbsarbeit näherkommen als die zuvor genannte Fürsorgearbeit. Die Neue Hausarbeit erfordert daher von den privaten Haushalten und ihren Mitgliedern andere Kompetenzen, die sie neben der praktischen Hausarbeit zu diesen organisatorischen, integrierenden und koordinierenden Arbeiten befähigen (vgl. Thiele-Wittig 1993, 1996).24 Folglich sind die Aufgaben Neuer Hausarbeit auch zur Erfassung des jeweiligen Haushaltsstils von privaten Haushalten, in all seinen Dimensionen und unter Betrachtung aller Umfeldebenen, von essenzieller Bedeutung.
Der Umgang mit den zahlreichen Akteuren des Versorgungsverbundes, etwa Behörden und Ämtern, Institutionen des Gesundheitssystems, Finanzdienstleistern oder Betreuungseinrichtungen, erfordert von privaten Haushalten die aktive Teilnahme – sie werden zu Ko-Produzenten der Dienstleistungen (siehe Kapitel 5.2). Diese Schnittstellen zu Akteuren außerhalb des Haushaltssystems nahmen und nehmen tendenziell zu, und somit auch die Anforderung, diese zu koordinieren. Thiele-Wittig diagnostiziert dabei eine besondere Herausforderung für private Haushalte im Umgang mit einer ,,hochgradigen Asymmetrie“ (Thiele-Wittig 1987: 124) zwischen ihnen und den Akteuren des Versorgungsverbundes, die sich in mehrerlei Hinsicht zeigt: Bedeutsam ist u. a. ein Gefälle zwischen ihnen in Macht und Einfluss sowie ein Fachleute-Laien-Gefälle, der Einfluss technischer Neuerungen auf Dienstleistungen und Dienstleistungsnutzung, die Notwendigkeit der Information und Bewertung eines pluralisierten Angebotes sowie die Notwendigkeit der Koordination und Synchronisationen verschiedener Institutionen bzw. Arbeits- und Lebensbereiche (etwa die Abstimmung von Erwerbsarbeitszeiten mit Arztterminen, Schul- oder Kitazeiten). In der öffentlichen Wahrnehmung und Kommunikation werden zahlreiche Entwicklungen und Neuerungen zudem als Entlastungen für private Haushalte gewertet, die – bei allen Vorteilen, die moderne Dienstleistungen mit sich bringen können – letztlich jedoch (mehr) Neue Hausarbeit hervorbringen (vgl. Thiele-Wittig 1987, 1993; Küster 2000).
Aufgrund ihrer Andersartigkeit im Vergleich zur klassischen Hausarbeit werden in der Neuen Hausarbeit andere Kompetenzstrukturen als Voraussetzung dafür gesehen, die vorwiegend intellektuelle Arbeit bewältigen zu können. So ist mit der Beschreibung der Neuen Hausarbeit oft die Forderung nach einer Bildung von Alltags- und Daseinskompetenzen verbunden (vgl. Thiele-Wittig 1987, 2000, 2003). Daseinskompetenzen werden im Fünften Familienbericht bereits mit einer essenziellen Bedeutung für das private und soziale Leben sowie das Bestehen in Erwerbsarbeit und Haushaltsführung belegt (vgl. BMFSFJ 1995). Inzwischen gibt es Vorschläge zu Inhalten und Curricula für die Lehre von Alltagskompetenzen in allgemeinbildenden Schulen, die unterschiedliche Definitionen und Spektren des Begriffes aufzeigen. Aus einer haushaltswissenschaftlichen Perspektive sind hierfür folgende Bereiche relevant (vgl. Bröcheler 2012):
• Lebensplanung (u. a. Lebensverlaufsplanung, Konsequenzen von Lebensentscheidungen, Beziehungskompetenz);
• Management (u. a. Finanz- und Zeitmanagement, Entscheidungsfindung im Haushalt);
• Versorgung (u. a. Reinigung, Wäschepflege, Wohnraumgestaltung, Ressourcenschonung);
• Gesundheit (u. a. Gesunderhaltung, Bewegung, Wohlbefinden und Entspannung, Sorgeaufgaben);
• Ernährung (u. a. bedarfsgerechte und gesundheitsförderliche Ernährungsweisen, Ernährungsverhalten, Ernährungsökologie);
• Konsum (u. a. Konsumverhalten, Verbrauchspolitik, Nachhaltigkeit, Online-Handel).
Die Anforderungen an ein erweitertes Kompetenzprofil verdeutlichen zudem das gesellschaftliche und politische Verständnis von einer Verantwortungsübernahme für die genannten Aufgabenbereiche der Neuen Hausarbeit durch die privaten Haushalte, die in den unterschiedlichen Alltagswelten – dem Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ entsprechend – in zunehmendem Maße „Informations- und Entscheidungsarbeit“ (Küster 2000: 16) leisten müssen.
Zur Neuen Hausarbeit und damit der Koordinierung und Organisation unterschiedlichster Bestandteile des Versorgungsverbundes gehören schließlich auch Haushaltshilfen. Durch das Delegieren eines Teils der (vorrangig) praktisch-hauswirtschaftlichen Tätigkeiten entsteht damit ebenfalls ein neuer Aufgabenbereich der Neuen Hausarbeit, durch die Rolle der Haushalte als Kunden eines Dienstleistungsunternehmens oder Arbeitgeber einer im Haushalt beschäftigten Person (siehe Kapitel 6). Gleichzeitig wird an diesem Beispiel deutlich, dass es gerade Aufgaben der Neuen Hausarbeit sind, die sich schlecht oder gar nicht delegieren lassen, wenn sich ein Haushalt Entlastung verschaffen will. Außer in Fällen, in denen die komplette Haushaltsführung ausgelagert wird, ist die Verteilung Neuer Hausarbeit (von der Koordination und Absprache bis zur Wahrnehmung von Terminen bei Ärzten, Behörden, Beratungsstellen etc.) lediglich unter den Haushaltsmitgliedern möglich. Selbst Aufgaben, die mit einem hohen emotionalen Anteil verbunden sind, etwa die Betreuung von Kindern oder die Ernährungsversorgung nach den eigenen Vorstellungen, lassen sich – wenn auch unter Inkaufnahme von Abweichungen vom eigenen Zielsystem – besser an Dritte delegieren als Neue Hausarbeit (vgl. Thiele-Wittig 1991).
Die Komplexität alltäglicher Lebenswelten von Privathaushalten verdeutlicht schließlich die Notwendigkeit eines wahren Alltagsmanagements, im Sinne des Planens, Organisierens, Ausführens und Kontrollierens aller Aufgaben der alltäglichen Daseinsvorsorge. Auch wenn einzelne Faktoren mit Wirkung auf das alltägliche und haushälterische Handeln durch die vorgestellten haushaltswissenschaftlichen Theorien abgebildet werden können, treten deren Wirkungsweise oder Aspekte der gelebten Praxis von Haushaltsführung samt Zuständigkeiten in diesem Modell nicht explizit hervor.