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1.3. Beziehungskultur

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1.3.Beziehungskultur

Gesellschaftlicher Wandel

Der Zerfall der traditionellen Familie begleitet die Entwicklung der letzen Jahrzehnte in unserer modernen, westlichen Kultur. Soll man gegen dieses gesellschaftliche Drama ankämpfen oder diesen Zustand akzeptieren, indem man einfach beginnt, das Wort Familie neu zu definieren? Die traditionelle Kernfamilie wird häufig nur noch als eine der möglichen gleichwertigen Formen von Familie angesehen. Dennoch stellt die intakte, traditionelle Familie immer noch die Ursehnsucht junger Menschen und das ideale Nest für unseren Nachwuchs dar.

Der moderne Mensch wollte sich von gesellschaftlichen und moralischen Zwängen befreien und war bereit, für sein individuelles Glück einen sehr hohen Preis zu bezahlen. Die zunehmende Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hat es insbesondere Frauen ermöglicht, aus unerträglichen Zwängen auszubrechen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das Positive daran: Heute bleibt man nicht mehr deshalb beisammen, weil man muss, sondern weil man es wirklich will. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass gesellschaftliche Normen nicht nur Zwangsjacke, sondern auch Schutz für das Individuum und für die Familie sind. Ich wage zu behaupten, dass die modernen Menschen mit ihrer neuen Freiheit nicht glücklicher geworden sind. Die vielen Alleinerziehenden und Patchwork-Familien sind meist nicht Resultat einer bewussten Wahl, sondern einer Situation, die sich irgendwie so ergeben hat. Die Belastungen für Eltern und Kinder sind meist nicht kleiner, sondern größer geworden und dementsprechend auch die unerfreulichen Nebenwirkungen.

Nach der wohl notwendigen individuellen Liberalisierung der letzten Jahrzehnte geht es jetzt darum, chaotische Entwicklungen zu erkennen und nach einem neuen Gleichgewicht zu suchen. Vielen jungen Familien gelingt das bereits und die moderne Psychologie bietet allerlei Möglichkeiten, Paare und Familien dabei zu unterstützen, gute und gesunde Grundlagen aufzubauen, das Gleichgewicht in den Beziehungen immer wieder neu zu finden und so einen lebendigen Prozess zu fördern. Die Hochzeit in Film und Märchen ist nur ein vorläufiges Happy End. In der Wirklichkeit fängt jetzt erst eine spannende Geschichte an und das Leben führt Regie.

Die Balance zwischen Geben und Nehmen

Jeder, der in längeren Beziehungen gelebt hat, wird das gelegentliche Gefühl kennen, zu kurz zu kommen, das Gefühl, mehr zu geben als zu empfangen. Es ist der Nährboden für Beziehungsfrust. Interessanterweise stellt er sich meist auf beiden Seiten ein. Um dieser gefährlichen Emotion keine Macht zu geben, müssen Sie sich einmal vor Augen führen, dass wir immer zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen einen direkten Zugang haben, zu jenen des Partners aber nicht. Jeder spürt, wo der eigene Schuh drückt. Beim anderen kann ich es nur indirekt nachvollziehen, wenn er es mir erzählt und ich obendrein genug Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen aufbringen kann und will. Daher erscheint das eigene Problem immer größer und wenn wir versuchen, das Geben und Nehmen streng quantitativ zu bemessen, ergibt sich dabei immer eine »optische Täuschung«. Ohne es zu wollen, nehmen wir die eigenen Bedürfnisse wichtiger als die des Partners, geben wir den eigenen Bemühungen einen höheren Stellenwert als jenen des anderen.

Daraus ergibt sich ein wichtiger Aspekt für gelungene Beziehungskultur, welcher in modernen Zeiten oft als naiv abgewertet wird, nämlich das Glück des anderen wichtiger zu nehmen als das eigene. Das klingt nach Aufopferung, und davon will der moderne Mensch nichts mehr wissen. Frauen scheinen dieses Geheimnis in ihrer tiefen, weiblichen Intuition immer schon geahnt zu haben.

Das Merkmal glücklicher Beziehungen besteht in der Grundhaltung: »Dein Wohl ist mir wichtiger als das eigene.« Wirklich beziehungsfähig sind nur jene Menschen, die in der Lage sind, ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren und zu vertreten, die aber auch fähig und bereit sind, sie gegebenenfalls hintanzustellen.

Wenn idealer Weise beide Partner aus der Bereitschaft handeln, mehr zu geben als zu nehmen, dann wird sich das subjektive Gefühl einer stimmigen Balance auf beiden Seiten einstellen.

Nicht mit Anerkennung sparen

Eine weitere menschliche Eigenschaft ist es, Störungen stärker zu registrieren als das Positive, sei es bei den Kindern oder dem Partner. Dass es den ganzen Tag harmonisch war, nehmen wir kaum zur Kenntnis, eine Missstimmung aus nichtigem Anlass registrieren wir jedoch mit Verärgerung.

Wenn ich in Paarberatungen die Qualitäten des einen herausstreiche, meint oft der andere: »Ja, das ist doch selbstverständlich!« Warum aber sollten wir nicht auch das Selbstverständliche würdigen? Dass wir füreinander sorgen, Pflichten erledigen, für den Partner und die Kinder da sind, Solidarität statt Egoismus leben etc.? Familie und Gesellschaft würden ohne diese täglichen Selbstverständlichkeiten zusammenbrechen und im Chaos versinken.

Tagtäglich werden viele Gelegenheiten verpasst, einander Wertschätzung auszudrücken. Dabei ist es lebenswichtiges Vitamin C für unser Selbstwertgefühl und unser Wohlbefinden. Wenn ich genug positives Feedback erhalte, bin ich auch eher bereit, gelegentliche Kritik anzunehmen, anstatt sie in einem Reflex der Kränkung zurückzuschmettern.

Wir alle brauchen Anerkennung und Ermutigung. Warum geizen wir dann so sehr bei anderen damit? Ich plädiere nicht für ein exzessives, oberflächliches Schmeicheln, sondern für den wohlwollenden Blick auf die Qualitäten Ihres Partners oder Ihrer Partnerin und dies bei passender Gelegenheit in stimmigen Worten immer wieder auszudrücken. Im Zweifelsfall: lieber einmal zu viel als zu wenig. Was Ihnen anfänglich womöglich gekünstelt vorkommen mag, wird mit der Zeit und mit der Übung zu etwas wohltuend Natürlichem. Diese Übung brauchen Sie nicht allein auf Ihren Partner beschränken. Sie können sie bei Ihren Kindern, Ihren Nachbarn, Kollegen und Vorgesetzten, einfach überall anwenden, wenn Sie mit Menschen zu tun haben. Ich bin überzeugt, wir hätten mehr Lächeln in den Gesichtern und unsere tägliche Arbeit würde mehr Freude machen.

Ihr Partner ist die wichtigste Person in Ihrem Leben

Wir sollten auch bedenken, dass gerade unser Lebenspartner am meisten von unseren eigenen Belastungen abbekommt. Er oder sie ist Teamkollege, Manager, Blitzableiter, Kuschelecke, Vertrauter, Feuerwehr, Finanzminister, Koch oder Köchin, Putzfrau und Butler, Reparaturstelle etc. Niemand sonst kennt mich besser mit all meinen Licht- und Schattenseiten, mit meinen Fehlern und Schwächen. Das macht weich, aber auch verletzlich. Wenn Paare beginnen, auf den Schwachpunkten des anderen herumzutrampeln, dann geht es häufig unter die Gürtellinie und eine Negativspirale beginnt sich zu drehen.

Niemanden dürfen und müssen wir mit unseren eigenen Problemen mehr belasten als unseren Partner. Daher sollten wir gerade mit dieser Person besonders verständnisvoll und wertschätzend umgehen, hilfsbereit und rücksichtsvoll sein, damit wir uns tagtäglich und womöglich lebenslänglich einander »zumuten« können. Und wenn kein Partner da ist, dann ist es besonders wichtig, darauf zu achten, dass wir nicht mehr oder weniger unbewusst einem unserer Kinder diese Rolle zuzuteilen.

Verzeihen können

Da niemand perfekt sein kann und Verletzungen gerade in nahen Beziehungen sich nie ganz vermeiden lassen, sollten wir immer eine Haltung der Offenheit, des Dialogs und auch des Verzeihens einnehmen.

Lebensaufgabe Beziehung:

Einander helfen, bessere Menschen zu werden

Liebevoller, weiser und reifer zu werden ist die zentrale Lebensaufgabe jedes Einzelnen. Sie erfordert eine ehrliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebenssituationen und viel ehrliches Bemühen und Selbstüberwindung. Paare können einander in einzigartiger Weise dabei unterstützen.

Warum »Ändere dich!«-Botschaften auf Widerstand stoßen

Allerdings lauert hinter diesem Bemühen auch eine große Gefahr. Die Fehler und Schwächen, oder positiv ausgedrückt, das individuelle Verbesserungspotenzial erkennen wir beim anderen meist leichter als bei uns selber. Nachdem wir uns selbst infolge »optischer Täuschung« naiv als das Maß aller Dinge erleben (»So wie ich bin, ist es gut, ist es ›normal‹ «), messen wir andere Menschen, insbesondere unseren Partner, nach unserem persönlichen Maßstab. Abweichungen sind »nicht OK«. Leicht sind wir dazu geneigt, mit mehr oder weniger eifrigen Bemühungen »an die Arbeit« zu gehen, den andern verändern zu wollen. Wenn wir jedoch mit »Sei anders!«- oder »Ändere dich!«-Botschaften konfrontiert werden, reagieren wir naturgemäß mit Abwehr oder Rückzug, worauf der andere seine Bemühungen noch verstärkt. Der »Teufelskreis« beginnt sich zu drehen.

Paradox: Um mich ändern zu können, muss ich mich

zuerst einmal akzeptiert fühlen

Wie aber können wir tatsächlich wichtige und positive Veränderungen herbeiführen? Als Grundsatz sollten wir uns merken: Ich kann immer nur mich selbst verändern, nicht den anderen. Positive Veränderungen entstehen nur unter Freiwilligkeit, nicht unter Zwang. Ich muss also auch Handlungsspielraum lassen und dem anderen die Möglichkeit geben zu »kommen«.

Zunächst sollten wir prüfen, was wirklich wichtig ist, was wirklich stört. Ist das Verhalten des Partners falsch an sich oder liegt es an meiner subjektiven Sicht der Dinge? Sind wir uns über Werte und Ziele einig? Ist mein Partner überhaupt in der Lage sich zu ändern? In der Art und Weise und in der Geschwindigkeit, die ich mir wünsche? Oder ist ein geduldiger Lernprozess mit viel Toleranz aussichtsreicher? Schaffen wir es alleine oder brauchen wir Hilfe von außen? Hilfreich ist auch der offene Austausch mit anderen Paaren.

Die wichtigste Frage ist jedoch: Was kann ich an MEINEM Verhalten verändern, um eine Trendwende einzuleiten? Denn einzig und allein darauf habe ich tatsächlich Einfluss.

Es müssen auch Prioritäten gesetzt werden. Wenn Ihr Partner oder Ihre Partnerin 10 Eigenschaften hat, die Sie stören, dann entscheiden Sie sich zunächst nur für die wichtigste und konfrontieren Sie ihn wertschätzend mit der einen Angelegenheit. Nehmen Sie seine Sicht der Dinge ernst und fragen Sie, wie Sie ihn dabei unterstützen und welche Erwartung Sie im Gegenzug erfüllen können. Geben Sie einander Zeit, daran zu arbeiten. Würdigen Sie jedes Bemühen, jeden Erfolg. Um schlechte Gewohnheiten abzulegen, brauchen wir viel Ermutigung. Es ist wie bei Kindern. Schließlich müssen wir für jeden kleinen Lernschritt über unseren eigenen Schatten springen. Das erfordert eine gute Portion Selbstüberwindung und Selbstdisziplin.

Liebe, Konsequenz, Nachsicht und Treue sind einige der Eigenschaften, die wir benötigen, um einander zu helfen, bessere Menschen zu werden – ein lebenslanges Programm.

Egal, welche Probleme Sie mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin haben: Kritik sollte immer mit Wertschätzung erfolgen und am besten unter vier Augen. Wenn Kinder erleben, dass ihre Eltern solidarisch und respektvoll miteinander umgehen, dann fühlen sie sich gut und geborgen. Dann lernen sie gutes Sozialverhalten und Achtung vor den Eltern wie von selbst.

Gewaltfrei, aber nicht machtlos

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