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2.7. Das »3-Körbe-Prinzip«

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2.7.Das »3-Körbe-Prinzip«

In den zahlreichen täglichen Interaktionen zwischen Eltern und Kindern fällt es nicht immer leicht, schnell und gleichzeitig situationsgerecht zu reagieren. Was können Sie erlauben, was nicht? Wie lange sollen Sie mit Ihren Kindern diskutieren? Wann lieber nicht? Wann sollen Sie auf Gefühle eingehen, wann auf Ihre Autorität pochen? Das Bild von den drei Körben soll Ihnen helfen, die jeweilige Situation schnell und stimmig zuzuordnen, um rasch und kompetent reagieren zu können.

Das 3-Körbe-Prinzip Eltern als Führungskräfte: gewaltfrei, aber nicht machtlos
Die natürliche hierarchische Ordnung: Eltern sorgen – Kinder folgen – Kultur des Widerspruchs Kinder sind gleichwertig (Würde, Wertschätzung), aber nicht gleichberechtigt (unterschiedliche Rechte und Pflichten). Wir hören aufeinander: Eltern auf die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder, Kinder auf das Wort der Eltern
FREIHEIT – Kinder bestimmen Für Gefühle und Bedürfnisse. Die Wesensart des Kindes annehmen, wie es ist Fördert: Kreativität, Lebensfreude, Selbstwertgefühl, individuelle Entfaltung Freiheit braucht einen geschützten Rahmen je nach Situation, Alter und Entwicklungsstand des Kindes VERSTÄNDNIS, ANNAHME Aktives Zuhören, Coaching
MITSPRACHE – Beide bestimmen Bei Dingen, die Kinder etwas angehen, bei Problemen, die sie haben oder verursachen Fördert: Kompetenz, Selbstbewusstsein Verantwortungsgefühl, Kooperation Kinder nach ihren Ideen fragen, wie sie Probleme lösen möchten PARTNERSCHAFTLICHKEIT Verhandeln, Familienkonferenz
GEHORSAM – Eltern bestimmen Bei Dingen, welche die Kompetenzen und Einsichtsfähigkeit der Kinder überschreiten Fördert: inneren Halt, Sicherheit Geborgenheit, soziale Eingliederung Regeln, Strukturen, Gebote, Verbote, Vorbilder, Werte, Familienkultur, Rituale GRENZEN, AUTORITÄT Anweisungen, Konsequenzen, Strafen

Übersicht 1

Der Korb der Freiheit

Hier bestimmt das Kind, es kann tun, was es will. Hier kann es seinen kindlichen Übermut, seine Fantasie und seine Sorglosigkeit ausleben und Lebenslust auftanken. Es ist der Bereich der Gefühle und Bedürfnisse, der Lebensfreude und der Kreativität. Ein Kind muss auch spüren, dass es so sein darf, wie es seiner Wesensart nach ist. Das gelingt, wenn Eltern die Botschaft vermitteln: »Ich mag dich, wie du bist!« »Wir freuen uns, dass es dich gibt!« Das vermittelt Selbstwertgefühl und Urvertrauen.

Der Korb der Mitbestimmung

Hier bestimmen beide, das Kind darf mitreden. Es gibt Angelegenheiten, bei denen Sie Ihr Kind alters- und situationsbedingt mitbestimmen und mitentscheiden lassen können. Indem Sie Ihr Kind auf diese Weise ernst nehmen, stärken Sie das kindliche Selbstbewusstsein und sein Verantwortungsgefühl. Einmal getroffene Entscheidungen sollten auch für das Kind verbindlich sein – es sei denn, es wird neu verhandelt. Dies ist der Bereich der Mitbestimmung und der Eigenverantwortung.

Der Korb des Gehorsams

Hier bestimmen die Eltern, das Kind muss folgen. In manchen Belangen hat sich das Kind einfach den Anordnungen der Eltern zu fügen. Regeln und gute Gewohnheiten können dazu beitragen, dass dieser Bereich zu einer Selbstverständlichkeit wird. Er hilft entscheidend mit, den Schutz des Kindes zu gewährleisten und die notwendigen alltäglichen Abläufe effizient und reibungslos abzuwickeln. Hier bekennen sich Eltern zu ihrer natürlichen Autorität und gewähren dem Kind dadurch Halt, Sicherheit und Geborgenheit. Es ist der Bereich der Grenzen, der Achtung und des Respekts zwischen den Generationen. Liebevolle Autorität gibt Halt, fördert Selbstdisziplin und stärkt die Liebe der Kinder zu ihren Eltern.

Schauen wir uns die einzelnen »Körbe« noch genauer an.

Korb 1: Der Korb der Freiheit

In der Deklaration der Menschenrechte steht: »Jeder Mensch ist frei und gleich an Würde geboren.« In seiner Würde ist jedes Kind frei von Anfang an. In die Freiheit des Handelns muss es erst Schritt für Schritt hineinwachsen, bis es erwachsen ist. Sensible Eltern haben Respekt vor der Persönlichkeit und Würde ihres Kindes, vor der Freiheit, zu der jeder Mensch berechtigt und berufen ist.

In welchen Bereichen hat das Kind Freiheit? Zunächst beim Äußern seiner Gefühle und Bedürfnisse. Niemand weiß besser über das eigene Befinden Bescheid als die betreffende Person selber – auch das Kleinkind. Es weiß selbst am besten, ob es hungrig oder ängstlich ist, auch wenn es sich noch nicht adäquat artikulieren kann. Eltern müssen nicht für alle Gefühle und Bedürfnisse Lösungen anbieten, aber sie sollten sie akzeptieren und ernst nehmen.

Ein wichtiger Bereich der Freiheit ist die Entfaltung der Persönlichkeit, das Kind in seiner ganz persönlichen Eigenart zu akzeptieren und nicht durch »Sei anders«-Botschaften zu verunsichern. Jedes Kind hat seine besondere Art sich auszudrücken. Es sollte nicht dauernd gezeigt oder vorgeschrieben bekommen, wie es etwas zu machen hat. Um seine Fähigkeiten zu entfalten, braucht es die Möglichkeit zu testen und zu experimentieren. Ihre Kreativität entfalten Kinder am besten, wenn ihnen innerhalb entsprechender Rahmenbedingungen angemessene Freiheit zugestanden wird, insbesondere beim Spielen. Geben Sie Ihrem Kind so viel Freiheit wie möglich innerhalb der Grenzen, die Sie für sinnvoll erachten. Das kann auch individuell von Kind zu Kind verschieden sein. In seiner Entwicklung fordert das Kind immer mehr Freiheit und Eigenständigkeit. Grenzen werden fortlaufend in Frage gestellt und verschoben – was beide Seiten herausfordert und dort gelingt, wo Liebe und Vertrauen die Basis bilden.

Das Kind in seiner Freiheit zu respektieren erfordert sehr viel Einfühlungsvermögen und Verständnis. Daher sind hier die erforderlichen Schlüsselqualifikationen das aktive Zuhören und das Hinführen zu Selbständigkeit und Einsicht durch das elterliche Coaching-Gespräch mit der Formel »verstehen – klären – lösen«, das in einem späteren Kapitel vorgestellt wird.

Korb 2: Der Korb der Mitbestimmung

Die moderne Auffassung von Pädagogik geht davon aus, dass Kinder selbständiger und selbstbewusster werden, wenn sie angemessen mitreden und mitbestimmen können. Auch ich teile diese Ansicht. Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie auf rechte Weise (»Mama, bitte darf ich …?« »Ich hab’ einen Vorschlag …«) und mit guten Argumenten bei ihren Eltern etwas erreichen können, haben sie es nicht nötig, zu trotzen und zu erpressen. Doch ist es Aufgabe der Eltern, darauf zu achten, Kinder mit der Frage »Was willst du?« nicht zu überfordern. Das hängt vom Alter und Reifegrad des Kindes ab und ob die Eltern dafür sorgen, dass vereinbarte Regeln eingehalten werden.

Wenn Sie sich gestört fühlen, ist es ebenfalls von Vorteil, Mitbestimmung einzuräumen, statt Befehle auszuteilen: »Ich hab’ ein Problem: Ihr seid mitten im Basteln, aber wenn der Tisch voll geräumt ist, kann ich nicht kochen …« Wenn Sie Ihren Kindern Gelegenheit geben, selber Lösungsvorschläge einzubringen, werden sie mehr Verantwortung übernehmen und beide Seiten fühlen sich respektiert – so mancher Machtkampf kann so vermieden werden.

Die kommunikativen Schlüsselqualifikationen im Korb der Mitbestimmung sind verschiedene Verhandlungstechniken, wie sie vor allem auch Thomas Gordon in seiner »Familienkonferenz« sehr schön dargestellt hat. In vielen Unternehmen ist betriebliche Mitbestimmung eine Selbstverständlichkeit und trägt bedeutend zur Motivation der Mitarbeiter und zum Unternehmenserfolg bei.

Korb 3: Der Korb des Gehorsams/der Autorität

Warum verwende ich dieses für viele Menschen so ungeliebte Wort? Ich könnte doch einfach nur vom Grenzensetzen reden. Grenzen setzen müssen wir im Leben immer wieder, auch auf gleicher hierarchischer Ebene, wenn zum Beispiel ein Kollege oder Nachbar meine Grenzen missachtet. Hier aber geht es darum, dass Kinder lernen, sich einzufügen und unterzuordnen. Diese Tugenden stehen heute nicht hoch im Kurs, weil man häufig annimmt, dass sie dem gesunden Selbstbewusstsein im Wege stehen. Das ist ein Irrtum. Wer Führungsqualitäten erwerben will, muss zuerst einmal gelernt haben, sich unterzuordnen. Dies ist gerade in den ersten Kindheitsjahren sehr wichtig. Kinder fühlen sich gut, wenn sie sich ihren Eltern bedingungslos anvertrauen und unterordnen können, in der Gewissheit, dass sie auch ihrerseits mit ihren Anliegen ernst genommen werden. Dann strahlen sie Heiterkeit und innere Ruhe aus. Notorische Neinsager hingegen sind nicht selbstbewusster, sondern labiler, launenhaft, überdreht und unausgewogen.

Welche kommunikativen Strategien können Eltern anwenden, um sich in Korb 3 durchzusetzen? Hier kommt es vor allem zum Einsatz von Ich-Botschaften, Anweisungen, Geboten und Verboten, Regeln und Konsequenzen. Manchmal kann auch eine Strafe angemessen sein – vorausgesetzt, sie greift nicht auf körperliche Züchtigungen oder Demütigungen zurück.

Wie können Eltern erkennen, auf welcher Ebene, in welchem Korb sie jeweils reagieren sollten?

Hier einige Beispiele:

•Ihr Kind hat ein Problem, kommt mit sich selber und seinen Gefühlen nicht klar? Verständnis und Einfühlungsvermögen sind gefragt: Korb 1.

•Es missachtet Ihre Grenzen? Dann haben Sie Handlungsbedarf in Korb 3.

•Sie reden sich »den Mund fusselig«, aber es fehlt Ihrem Kind an Einsicht? Fragen Sie sich leise: »Fühle ich mich ernst genommen?« Wenn Sie die Frage mit nein beantworten müssen, ist ebenfalls Handlungsbedarf in Korb 3.

•Sie spüren bei Ihrem Kind ein legitimes Streben nach Autonomie? Bieten Sie Mitsprache an, um neue Vereinbarungen zu treffen! (Korb 2)

Für eine Kultur des Widerspruchs

Um sicher zu gehen, dass wir Eltern nicht über kindliche Bedürfnisse »drüberbügeln«, müssen wir ihnen die Möglichkeit einräumen, Einwände zu präsentieren. Wenn Sie der Meinung sind, dass die Steuervorschreibung zu hoch ist, erheben Sie Einspruch. Wenn Ihr Kind der Aufforderung »Zieh dich an, wir müssen gehen!« nicht nachkommen will, kann es mit Ihnen Verhandlungen aufnehmen und somit in Korb 2 (Mitsprache) wechseln: »Darf ich noch den Turm fertig bauen?« Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass Sie diesem Einwand stattgeben – aber die Führungskompetenz bleibt bei Ihnen.

Zuerst »abholen«, dann hinführen

Sie sollten sich von einem Tobsuchtsanfall im Supermarkt von Ihrem Kind nicht erpressen lassen, daher ist Korb 3 (Gehorsam) angesagt. Ein stures elterliches Nein kann die Eskalation jedoch noch verschärfen. Wie wäre es, Sie holen Ihr Kind in Korb 1 (Freiheit) ab, indem Sie zunächst Verständnis für seinen Wunsch äußern (»Du hättest dieses Spielzeugauto wirklich gerne …«) und dann erst zu Ihrem Entschluss zurückkehren (Ich-Botschaft: »Das Problem ist nur, dass ich dir nicht jedes Mal etwas Neues kaufen will, wenn wir einkaufen gehen. Aber du kannst wählen, welches Joghurt du möchtest.« (Korb 2) So wird es Ihrem Kind leichter fallen, Ihr Nein zu akzeptieren (Korb 3).

Mit diesem kurzen Ausflug zur Kunst des Grenzensetzens möchte ich veranschaulichen, wie Sie zwischen den drei Körben flexibel hin- und herschwenken können – und Ihre Führungskompetenz

beibehalten.

Vorsicht Machtmissbrauch!

Die Notwendigkeit der Wahrung elterlicher Autorität soll aber kein Freibrief für willkürliche Machtausübung sein. Gar zu leicht lässt sich Autorität missbrauchen – wenn Eltern nicht auf die Gefühle ihrer Kinder eingehen und wichtige Bedürfnisse missachten, wie Aufmerksamkeit, Zuwendung, Überforderung, bzw. »lästiges« kindliches Verhalten autoritär »abstellen«.

Hier einige Beispiele:

•Wenn Einwände abgewimmelt werden:

»Warum muss ich die warme Weste anziehen?« »Weil ich es gesagt habe!« – »Warum darf ich nicht zu meinem Freund gehen?« »Weil ich nicht will!« – »Ich bin schon so müde, ich will nach Hause gehen!«, aber Kinder die halbe Nacht lang das Elternprogramm absolvieren müssen.

•Wenn kindliche Kritik abgeschmettert wird:

»Mama, du hast selbst gesagt, dass man vor dem Essen nicht naschen soll!« »Sei nicht so frech!« – »Papa, du hast versprochen, mit mir zu spielen!« »Jetzt gib endlich Ruhe!«

•Wenn Meinungen der Kinder lächerlich gemacht werden:

»Was verstehst denn du schon davon!«

•Wenn mit Angst manipuliert wird:

»Wenn du nicht sofort aufhörst, holt dich der schwarze Mann!«

•Wenn mit Liebesentzug gedroht wird:

»Wenn du nicht brav bist, hab ich dich nicht mehr lieb!«

•Wenn Eltern die Abhängigkeit der Kinder missbrauchen und ihre Macht ausspielen:

»Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen!«

Herausforderung in Liebe

Es war immer schon so: Kinder stellen Eltern in Frage, Kinder halten uns den Spiegel vor, Kinder machen uns auf unsere eigenen Fehler und Schwächen aufmerksam. Das tut manchmal weh. Aber wenn wir uns ernsthaft damit auseinandersetzen, dann fördern wir nicht nur die Beziehung zwischen uns und unseren Kindern, sondern auch unsere eigene Entwicklung. Wenn Offenheit, Verständnis und Wertschätzung unsere Beziehungen prägen und wir nicht alles persönlich oder tierisch ernst nehmen, sondern uns vom kindlichen Humor anstecken lassen, dann können unsere täglichen familiären Auseinandersetzungen durchaus witzig und lustvoll sein – sind sie doch die Übungswiese unserer Kinder zum Erlernen sozialer Kompetenz.

Die eigenen Kinder sind unsere größte Herausforderung. Es gibt keine schönere Anerkennung, keinen größeren Erfolg im Leben, als die Liebe und die Achtung unserer Kinder zu gewinnen. Dies wird nur möglich sein, wenn unsere Beziehung zu ihnen von Liebe und Wahrheit geprägt ist und wenn wir uns ehrlich bemühen, an uns zu arbeiten und Vorbild zu sein. Keine Angst: Kinder brauchen keine Übermenschen. Sie haben Nachsicht mit so manchen unserer Fehler, wenn sie unsere Fairness und unser ehrliches Bemühen spüren.

Gewaltfrei, aber nicht machtlos

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