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1.1. Erziehung – gestern, heute, morgen

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1.1.Erziehung – gestern, heute, morgen

So wie alle Bereiche menschlichen Lebens, ist auch Erziehung nicht nur im persönlichen, individuellen, sondern auch im jeweiligen sozio-kulturellen, gesellschaftlichen Kontext zu sehen. In den letzten 60 Jahren hat sich ein starker gesellschaftlicher Wandel vollzogen, der die Einstellung zu Erziehung und zu Fragen der Autorität enorm verändert hat.

Erziehung zu Großmutters Zeiten

Wenn wir versuchen, uns in die Welt unserer Groß- und Urgroßmütter bzw. -väter hineinzuversetzen, in Zeiten der Großfamilien ohne Waschmaschinen, Geschirrspüler und all den Errungenschaften des modernen Haushalts, können wir vielleicht nachvollziehen, dass das Eingehen auf individuelle kindliche Gefühle und Bedürfnisse blanker Luxus war. Kinder mussten funktionieren und möglichst wenig Aufwand verursachen – im Vordergrund standen die Versorgung der Großfamilie und die Weitergabe der Tradition.

Gehorsam war als oberste Tugend angesagt. Das kindliche Recht auf Eigenwillen und Individualität war kein Kriterium und wurde stark eingeschränkt. Körperliche Strafen und Machtmissbrauch wurden als »elterliche Gewalt« legitimiert – was oft gravierende Auswirkungen auf die kindliche Persönlichkeit und ihr Selbstwertgefühl hatte. Jemand mit geringem Selbstwert wiederum kann Widerspruch schwer dulden. Er hat Angst davor, in Frage gestellt zu werden – besonders von den eigenen Kindern. Von Generation zu Generation war es also nicht leicht, das autoritäre Muster zu durchbrechen. Es wäre jedoch falsch, generalisierend daraus zu schließen, dass früher Eltern ihre Kinder nicht geliebt hätten und Autorität nur negativ erlebt worden wäre.

Grenzenlose Freiheit

Die Auswirkungen des nationalsozialistischen Regimes haben besonders deutlich gemacht, wohin missbrauchte Macht und Autorität führen können. Immer mehr Menschen wurde bewusst, wie sehr sie unter einer unterdrückenden, autoritären Erziehung zu leiden hatten, und sie wollten das ihren eigenen Kindern nicht antun. Daraus folgte der Trend zur anti-autoritären Erziehung, welche die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder als vorrangiges Ziel sah. Der kindlichen Freiheit sollten nur ja keine Einschränkungen auferlegt werden. Der anti-autoritäre Erziehungsstil, der besonders bei vielen Eltern der 68er Generation sehr verbreitet war, blieb ebenfalls nicht ohne unerwünschte Nebenwirkungen: Er gibt Kindern zu wenig Halt und Orientierung und fördert die Entwicklung egozentrischer Persönlichkeiten, die Schwierigkeiten haben, sich in Gemeinschaften einzugliedern.

Partnerschaftlich – Verzicht auf Autorität

In den 70er Jahren entwickelte Thomas Gordon auf der Grundlage der humanistischen Psychologie seine »Familienkonferenz«. Er vertrat einen partnerschaftlichen Erziehungsstil und zeigte Wege auf, wie Eltern mit ihren Kindern Beziehung pflegen und sie in Problemlösungen einbeziehen können. Thomas Gordon war getragen vom Ideal der Gleichberechtigung zwischen Eltern und Kindern und glaubte offenbar, auf Autorität ganz verzichten zu können. Vor allem ging es ihm darum, nicht nur die körperliche Gewalt zu verbannen, sondern Eltern dafür zu sensibilisieren, direkte oder indirekte abwertende Botschaften (Du-Botschaften) zu vermeiden. Eltern sollten Kinder durch Ich-Botschaften (authentischer Ausdruck ihrer eigenen Gefühle und Bedürfnisse) motivieren, auch auf ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Eltern, die seine Gesprächsregeln anwenden, getragen von einer wohlwollenden, starken Persönlichkeit, ist oft gar nicht bewusst, dass ihre Autorität im Spiel ist, denn sie SIND Autorität. Ob bewusst oder unbewusst: Immer da, wo Liebe, Autorität und gesunde Familienstrukturen zusammenwirken, wird Erziehung gelingen. Wenn nicht, kommt es zu Verwirrungen und Komplikationen.

Unsicherheit und Überforderung

Es wurden und werden viele psychologische Bücher über Kindererziehung geschrieben und darüber, wie viel Unheil falsche Erziehung mit sich bringen kann, mit vielen Anregungen und guten Ratschlägen. Die Rechte, Gefühle und Bedürfnisse der Kinder stehen absolut im Vordergrund, Autorität gilt vielen als Unwort. Durch das Ideal der Gleichberechtigung und dem damit verbundenen Autoritätsverzicht und -verlust kommen Eltern in eine Zwickmühle. Es ist, als würde man von ihnen verlangen: »Geh schwimmen, aber mach dich nicht nass!« Sie sollen Verantwortung tragen, dürfen aber keine Macht ausüben. Das ergibt ein Anforderungsprofil an Eltern, dem sich viele nicht gewachsen fühlen. So manche moderne Mütter und Väter sind verunsichert und schwach ihren Kindern gegenüber. Sie gehen so sehr auf deren Wünsche und Launen ein, dass sie die Führung abgeben und sich allzu leicht Schuldgefühle unterjubeln und manipulieren lassen. Dadurch geraten Eltern unter einen ständigen Rechtfertigungsdruck und Machtverlust. Weil Kinder auf schwache Eltern nicht hören, orientieren sie sich zunehmend an Gleichaltrigen, an der Peer-Gruppe, die einander jedoch nicht Halt und Orientierung bieten kann. Wenn Kinder sich selbst überlassen sind, geraten sie unter Geltungszwang und Gruppendruck. Um nicht missverstanden zu werden: Ich denke, dass Kinder sehr wohl die Gesellschaft von Gleichaltrigen zu ihrer Entwicklung brauchen, aber sie können nicht Elternersatz sein, nicht elterliche Fürsorge und Geborgenheit bieten, weil sie deren selbst noch bedürfen.

Andererseits steht das moderne Leben mit seinen erheblichen Stressfaktoren oft im Widerspruch zu den eigentlichen Bedürfnissen der Kinder, die zu befriedigen manchen Eltern die Zeit und innere Ruhe fehlt. Statt sich mit ihren Kindern auseinanderzusetzen, werden sie durch bequeme Ersatzbefriedigungen aus der Konsumwelt abgelenkt und abserviert. Dadurch wird es immer schwieriger, authentische und tragfähige Eltern-Kind-Beziehungen aufzubauen, die Zeit und persönliche Präsenz erfordern.

Der gegenwärtige Trend in der Kindererziehung geht wieder hin zur Notwendigkeit des Grenzensetzens. Allerdings macht es einen Unterschied, ob ich aus der Perspektive der Gleichberechtigung oder Kraft meiner elterlichen Autorität Grenzen setze. Auch sind die Meinungen über brauchbare und akzeptable Methoden unterschiedlich. Manche Eltern wünschen sich eine »Super Nanny«, die ihnen wie eine Zauberfee die passenden Patentrezepte liefert.

Eltern haben eine Führungsrolle zu erfüllen

Im ABC-Elternführerschein® setzt man auf gewaltfreie und Halt gebende Erziehung auf Grundlage des Respekts für die Persönlichkeit, die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes, einer Kultur der Mitsprache und des Einspruchs und auf ein klares Bekenntnis zur elterlichen Autorität. Die Teilnehmer/innen haben Gelegenheit, ihre Rolle als Führungskraft im Erfahrungsaustausch mit anderen Eltern zu reflektieren und kommunikative Schlüsselqualifikationen zur Stärkung ihrer natürlichen Erziehungskompetenz zu erwerben – für mehr Sicherheit, Gelassenheit und Freude im Erziehungsalltag.

Gewaltfrei, aber nicht machtlos

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