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3.Texte von Schizophrenen
ОглавлениеAus: Die Gefühle befinden sich im Gehirn, Verlag Signathur, 2016
Immer wieder wurde beobachtet, dass bei Künstlern von hohen Graden mit Ausbruch der schizophrenen Psychose die Produktivität versiegte. Die Schizophrenie verkürzte die Zeit ihres produktiven Schaffens. Strindberg, Hölderlin, Nerval, van Gogh sind Beispiele dafür. Umgekehrt nehmen wir immer wieder verwundert zur Kenntnis, dass Menschen ohne künstlerische Ambitionen und Aktivitäten in der schizophrenen Erkrankung kreativ produktiv werden. Der Schizophrenie wohnt ein eigentümlicher schöpferischer Zug inne. Dieser ergibt sich aus dem Streben des sich auflösenden Ichs nach integrierenden Gestalten und Gestaltungen. Bilder von chronisch kranken, dauernd hospitalisierten schizophrenen Patienten haben durch die Sammlungen von Morgenthaler (Adolf Wölfli), Prinzhorn und Navratil (die Künstler von Gugging) Weltberühmtheit erlangt. Schon der Kulturphilosoph Malraux meinte, dass Darstellungen von Geisteskranken zu den eindrucksvollsten Kunstgattungen zu zählen seien.
Im Vergleich zu Bildnereien von Geisteskranken ist der Wert ihrer sprachlichen Darstellungen zu wenig erkannt und anerkannt worden. Die Texte von schizophrenkranken Menschen fristen ein Schattendasein. Dabei ist das, was Schizophrene uns zu sagen haben, von höchstem Interesse. Und wie sie es sagen oftmals von einem ganz besonderen literarischen Reiz.
Ein Merkmal der schizophrenen Sprache ist zum Beispiel, dass Worte aus ihrem gewöhnlichen Bedeutungszusammenhang herausgelöst werden und sich zu neuen unvermuteten Sinnverbindungen zusammenfinden.
Aus dem Mund eines Schizophrenen kommt oft die Wahrheit, wie aus dem Mund des Kindes oder des Betrunkenen, bei denen gängige Konventionen und Zensuren noch nicht oder nicht mehr wirksam sind. Oder es ist eine andere Wahrheit, die uns auch angeht.
Die meisten in der Psychiatrie tätigen Psychiater, Krankenschwestern, Psychologen und Sozialarbeiterinnen erhalten in ihrem beruflichen Alltag von schizophrenen Patienten und Patientinnen gelegentlich Texte aller Art zu lesen: Gedichte, Alltagsreimereien, Briefe, Aphorismen, Tagebuchnotizen, Traktate, Abhandlungen, Pamphlete, Rechtsschriften, öffentliche Aufrufe u. a. m. Als Psychiater schien mir, dass man aus Gehalt und Sprache solcher Schriften mehr über die Schizophrenie erfährt als aus psychopathologischen Lehrbüchern der Psychiatrie. In meiner Vorlesung an der Universität Zürich liess ich von Zeit zu Zeit – durchaus in didaktischer Absicht – einen Teil meiner Privatsammlung von einem Schauspieler vortragen. Und ich glaubte beim studentischen Publikum im Hörsaal eine Faszination festzustellen, wie ich sie oft in Theatersälen bei der Aufführung von Werken von Normaldichtern nicht erkennen konnte. Die vielgestaltige schizophren schillernde Landschaft zog durch den tiefen Ernst der Aussagen und die eigenartig verspielte Sprache die Zuhörer in den Bann. Was ist es, was mich daran hinderte, diese Texte einfach auf die Seite zu legen? Es ist die Unbeirrbarkeit, mit der diese Menschen ihre Zweifel äussern und ihre eigene Welt bauen.
Schizophrene Menschen sind in der Geschichte bis in die heutigen Tage immer wieder ausgegrenzt und eingesperrt worden. In den modernen Gesellschaften erfolgt das Bemühen um ihre Integration durch Psychopharmaka, Arbeitstherapie und Sozialhilfe. Dies reicht aber nicht hin. Ein psychotischer Patient sagte mir einmal in einem Anflug bitter-ironischer Selbstcharakterisierung: «Ich bin vom Kopf bis zum Fusse auf Lithium eingestellt.» Integration kann nicht nur mit harten und kalten technischen Methoden erfolgen, indem wir die Eigenart schizophrener Menschen schlicht beseitigen, sondern nur, wenn wir uns vor ihrer Andersartigkeit verneigen. Eine Andersartigkeit, von der wir oft mehr in uns selbst haben, als wir meinen. Jeder Empathiezuwachs, den wir durch vorurteilsloses Hinhören und Hinsehen erreichen, ist ein Beitrag zur Humanisierung unseres Lebens und Zusammenlebens. Auch aus diesem Grunde ist es gut, wenn die Texte schizophrener Menschen den Weg aus dem Hörsaal auf die Bühne finden, die die Welt bedeutet.