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Ärztlich-therapeutische Interventionen im Behandlungsverlauf Was tun, wenn?
ОглавлениеWas tun, wenn Schwierigkeiten auftauchen? Wie sollen wir uns verhalten? Unsere Reaktionen sind wie immer individuell gefärbt, entsprechend unserer Persönlichkeitsstruktur und therapeutischen Grundhaltung. Meine Empfehlungen sind auch nur für denjenigen massgebend, der sich am oben dargelegten Therapiekonzept zu orientieren vermag.
1.Patient erscheint nicht zur Methadon-Einnahme
Das Nichterscheinen des Patienten zur Methadon-Einnahme wird an einem überlasteten Arbeitstag mitunter lediglich am Übrigbleiben des zubereiteten Methadons bemerkt. Es verlangt eine sofortige Reaktion des Arztes am folgenden Tag, ein klärendes Gespräch, eine dringliche Mahnung (die gelbe Karte). Das regelmässige tägliche Erscheinen ist das A und O des Methadon-Erhaltungsprogrammes. Im allgemeinen kann angenommen werden, dass der Patient beim Nichterscheinen sich mindestens eine Heroininjektion verabreicht hat.
2.Positiver Urinbefund
Das psychische Verlangen nach der orgastischen Wirkung einer Heroininjektion («Einfahren») meldet sich auch beim gut auf Methadon eingestellten Patienten von Zeit zu Zeit. Mit positiven Urinbefunden muss daher bei fast allen Methadon-Patienten gerechnet werden. Sie können übrigens, besonders im Anfangsstadium, den Behandlungsverlauf auch günstig beeinflussen. Wenn das Heroin nicht «eingefahren» ist wegen der Methadon-Barriere (Kreuztoleranz), kann diese enttäuschende Erfahrung den Patienten vor weiteren Heroininjektionen abhalten. Der positive Urinbefund soll in jedem Fall dem Patienten mitgeteilt und beanstandet werden. Die Zuverlässigkeit der Urinprobe stärkt sein Vertrauen in das Behandlungskonzept. Beschimpfungen oder übertriebene Unmutsbezeugungen gegenüber dem Patienten sind indessen fehl am Platz: Da der Laborwert gewöhnlich erst 1–2 Wochen nach dem Rückfall eintrifft, ist eine solche Reaktion zeitlich verspätet und daher verfehlt. Auch erweist sich eine bestrafende oder moralisierende Haltung gegenüber dem Patienten oft als ein wenig erpriessliches Mitagieren mit dessen Selbstbestrafungsbedürfnis. Die ausgeglichen-strenge Haltung ist gerade bei dieser oft provokatorischen Haltung des Patienten die angemessene. Man kann ihm etwa sagen: «Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass letzte Woche ein Urinbefund positiv ausgefallen ist und dass sich das nicht wiederholen sollte; wir müssen dann bei der nächsten Besprechung darauf eingehen, weshalb das so gekommen ist.» Liegt indessen ein systematisches Weiterfixen vor (eine Reihe positiver Urinbefunde trotz wiederholter Ermahnungen), so ist ein konfrontativ-ermahnendes Gespräch angezeigt, in welchem dem Patienten klargestellt wird, dass er nicht die Doppelidentität eines Fixers und Methadon-Patienten weiterführen darf, sondern sich zwischen Heroin-Fünfer und Methadon-Weggli zu entscheiden hat.
3.Patient hat das WochenendMethadon verloren
Erscheint der Patient am Freitagabend mit der Mitteilung, dass er leider soeben das Wochenend-Methadon verloren habe, so empfehle ich, ihm den Verlust nicht zu ersetzen. Ein Entgegenkommen bahnt hier einen Verlust-Nachschub-Mechanismus. Ein positiver Urinbefund am folgenden Montag ist in der Regel weniger besorgniserregend als das Ingangkommen dieses Mechanismus.
4.Interkurrente Erkrankungen
Bei Erkrankungen ist auf dem täglichen Erscheinen des Patienten in der Behandlungsstelle zu bestehen, und wenn dies nicht zu verantworten ist, eine Hospitalisierung vorzunehmen. Andernfalls riskiert man, dass der Patient durch wiederholte Flucht in die Krankheit den Arzt zur Herausgabe des Methadons zwingt.
5.Klagen über Entzugserscheinungen
Klagt der Patient über Entzugssymptome wie Knochenschmerzen, Schweissausbrüche, Schlaflosigkeit, innere Unruhe, Bauchschmerzen, Gähnen usw., so ist die Dosierung ohne Umstände zu erhöhen. Eine geizige, ängstliche und retentive Haltung des Arztes steigert im allgemeinen die «psychische» Nachfrage des Patienten nach Methadon. Lieber 10 mg zuviel als zuwenig! Entscheidend ist, dass auch hier auf eine Stabilisierung der Behandlung tendiert wird. Nicht wenige Patienten unterdrücken ihr Verlangen nach einer Dosiserhöhung auch bei eindeutigen Entzugssymptomen aus Schamgefühl und Angst vor Unverständnis des Arztes. Diese Hemmung sollte unbedingt angesprochen werden. Wenige Patienten entwickeln eine exzessiv-süchtige Einstellung zum Methadon, was zu einer überschiessenden Dosiserhöhung führt (z. B. bis 200 mg). In diesem Fall kann eine befristete stationäre Entzugsbehandlung (ca. 5 Tage) erwogen werden, um anschliessend auf einem niedrigeren Dosierungslevel weiterzufahren.
6.Verlangen nach Dosisreduktion oder Beendigung (Ausschleichen) der Behandlung
Wünsche solcher Art seitens des Patienten sind meistens das ungünstige Zeichen dafür, dass er aus dem langfristigen Konzept ausscheren will. Sie sind oft die ersten Vorboten eines Rückfalles. Wir sollten dieser Tendenz gegensteuern und den Patienten für die Langfristigkeit gewinnen. Ist der Patient hingegen auf extrem hohe Dosierung eingestellt (z. B. 200 mg pro Tag), so kann der Reduktionswunsch Ausdruck eines verständlichen Unbehagens sein, das durch einen stufenweisen langsamen Abbau, z. B. 5 mg pro Monat und Stabilisierung auf einer niedrigeren Dosis (z. B. 100 mg), gelindert werden kann.
7.Klagen über vegetative Beschwerden
Klagen über Müdigkeit bei der Arbeit, Schlaflosigkeit, Schlaf-Wach-Umkehr, Obstipation, Potenzstörungen werden am ehesten beim Behandlungsbeginn vorgebracht. Anteilnehmende Bestätigung ist meist wirkungsvoller als korrektive
Medikation (z. B. mit Tranquilizer). Im Verlaufe der Behandlung mässigen sich oder verschwinden meistens die vegetativen Begleiterscheinungen. Die meisten Patienten sind einsichtig und beruhigt, wenn ihnen erklärt wird, dass ihr Körper einige Zeit brauche, um sich auf das Methadon und die neue Lebensweise einzustellen.
8.Psychopharmakologische Zusatzmedikation
Patienten bringen oft eine beträchtliche Auswahl von Psychopharmaka (Schlafmittel und Tranquilizer) in die Methadon-Behandlung mit. Es empfiehlt sich dringend, diese Medikation auszuschleichen und eine Einschränkung des psychopharmakolotherapeutischen Spektrums auf das Methadon anzustreben. Zusatzverordnungen führen im allgemeinen zu einer verwirrenden Komplizierung der therapeutischen Beziehung, zu einer therapeutischen Identitätsdiffusion.
9.Polizeiliche Untersuchung
Es kommt vor, dass ein Methadon-Patient in aufgeregtem Zustand erscheint, weil er eine polizeiliche Vorladung wegen eines eventuell schon vor Beginn der Methadon-Behandlung begangenen Deliktes erhalten hat. Eine Panikreaktion (Racheakt oder Fluchtverhalten, z. B. ins Ausland) ist mitunter zu befürchten. Ein klärendes und beratendes Gespräch bewirkt im allgemeinen eine Entschärfung der Situation und hält den Patienten vor unreflektierten und selbstschädigenden Primitivreaktionen zurück. Zumindest bei zufriedenstellendem Behandlungsverlauf kann ihm auch eine Hilfe durch ein gutachtliches Schreiben in Aussicht gestellt werden im Hinblick auf eine eventuelle Umwandlung einer ausgesprochenen Strafe in eine ambulante Massnahme.
10.Der Patient verliert seine Stelle
Hat der Patient seine Stelle verloren, so soll dies an der Stabilität der Methadon-Abgabe nichts ändern. Gerade in solchen Krisensituationen soll der Arzt in der gelassenen Bereitschaft zum Durchharren und Weiterfahren ein Vorbild sein. Der labile Suchtkranke hat nur allzuleicht die Tendenz, wenn irgendetwas in seinem Leben scheitert, auch die Methadon-Flinte ins Korn zu werfen.
11.Auswärtige Arbeitsstellen
Hat der Patient eine Arbeitsstelle ausserhalb der täglichen Erreichbarkeitsgrenze der Methadon-Behandlungsstelle gefunden, so ist auch in diesem Falle das Methadon keinesfalls für die tägliche Selbstverabreichung mitzugeben. Bevor wir uns dem Vorwurf aussetzen, eine ernsthafte rehabilitative Chance zu verpatzen, werden wir die Aussichten an der neuen Arbeitsstelle genauestens klären und auch die Möglichkeit prüfen, ob im Einzugsbereich der Behandlungsstelle sich keine geeignete Arbeit findet. Mitgeben oder Einschaltung von Vermittlerpersonen öffnet zwar eine rehabilitative Möglichkeit, unterminiert aber das gesamte Behandlungskonzept.
12.Besonders ärgerlich ist es, wenn noch Monate nach Behandlungsbeginn und nach zahlreichen Klarstellungen der Patient die therapeutischen Abmachungen nicht verstanden hat oder haben will. Vielleicht plant er unvermittelt eine Weltreise und richtet an uns die arglose Frage, ob er das Methadon für 4 Monate mitbekomme; er betrachtet sich als geheilt und durch Heroin und andere Drogen nicht mehr gefährdet und drängt daher auf raschen Entzug von Methadon. Oder er will in eine bestehende Wohngemeinschaft ziehen, um jüngere Fixer zu betreuen. Geduld ist hier unser bester Berater, und wir scheuen nicht, nochmals Punkt für Punkt alle Abmachungen des therapeutischen Kontraktes durchzubesprechen und den ungeduldigen Patienten für eine langfristige Behandlung zu gewinnen.