Читать книгу M.E.L. "hoch und runter" - Marion Lehmann - Страница 11
ОглавлениеAm Anfang war: ein kleiner Gedanke
Ich war und bin bis heute kein besonders politischer Mensch. Ich interessierte mich mit fünfzehn Jahren nicht für den Kniefall von Willy Brandt 1970 in Warschau. Wenn er meinte, er müsste das zur Verständigung von Frieden und Vergebung als Geste der Demut für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg machen, sollte er es tun. Und es hat ja tatsächlich zur Verständigung beigetragen. Meine Eltern waren politisch nicht aktiv, als Arbeiter linksorientiert, was mich mit Sicherheit geprägt hat. Ich bin von klein auf in wechselnden Gruppen gewesen, ich hatte gelernt mich anzupassen, mich unterzuordnen, mich zu trennen und mich wieder auf etwas Neues einzulassen. Ich hatte gelernt, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Ich war kritisch, denn vieles hat mir nicht gefallen, ich wusste, dass ich nicht so wie meine Eltern leben wollte, aber ich war so realistisch und duldsam, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Ich war zutiefst überzeugt, dass das Leben mir immer wieder Chancen bietet und ich sie nur annehmen muss. Ich gab mich der Strömung des Lebens hin in dem Vertrauen, dass sie mich dahin trug, wo es für mich richtig und gut war. Ich hatte eine zutiefst pazifistische Überzeugung – leben und leben lassen. Aus dieser Haltung heraus war es für mich unverständlich, ja sogar unbegreiflich, wie Menschen andere daran durch Gewalt, Unterdrückung, Bevormundung hindern wollten. Pazifismus ist ein großes Wort. Auch ich streite und bin streitbar. Da Menschen keine Götter bzw. keine perfekten Wesen sind, können sie als Menschheit nicht pazifistisch sein (wenn es selbst die Götter nicht sind, wer dann?). Aber Menschen können sich dieser Idee annähern. Mit fünfzehn Jahren nähert man sich durch Widerstand an. Dazu verhalf mir Gabriela K. – sie war eine Strömung, der ich folgte. Gabriela kannte ich seit früher Kindheit aus der Nachbarschaft, allerdings hatten wir uns mit Beginn der Lehrzeit aus den Augen verloren. Dann zog ich mir mal wieder beim Handball eine Bänderzerrung zu und ging in Pfullingen, wo ich meine Lehre machte, zu einem Orthopäden. Und wen traf ich da? Meine Gabriela! Das war schnell ausgemacht, dass wir uns treffen und den Faden unserer Freundschaft wieder aufnahmen. Gabriela trug mich schließlich zu der Organisation terre des hommes, die sich für Kinder in Not einsetzt. Es sprach nichts dagegen, eine Organisation zu unterstützen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zu einer »Erde der Menschlichkeit« beizutragen. Und es liegt so nahe, den Schwächsten – nämlich den Kindern – zu helfen, die gleichzeitig die Zukunft sind. Ich war ein leiser Helfer, was mir am meisten entsprach, denn ich war noch nie jemand gewesen, den es auf die Bühne drängte oder der eine Ideologie oder Überzeugung laut in die Welt trug. Ich half bei Veranstaltungen aus und dort, wo ich gebraucht wurde. Die Organisation schickt in der Regel keine Helferinnen und Helfer aus Deutschland in die Krisengebiete, sondern unterstützt einheimische Initiativen mit Spenden und durch Beratung. Diese Zeit war wichtig, denn sie wurde zu einer Insel des Respekts gegenüber Menschen und des Mitgefühls für das, was in der Welt passierte. Über den eigenen, schwäbisch sparsamen, aber satten Tellerrand zu schauen und großzügig zu sein.
Ein zentrales Thema der Organisation in diesen Jahren waren die Geschehnisse in Vietnam. Terre des hommes Deutschland wurde 1967 gegründet, um schwer verletzten Kindern aus dem Vietnamkrieg zu helfen. Das hieß, die Kinder vor Sklaverei, Ausbeutung zu schützen, Flüchtlingskindern zu helfen, und sich um die Opfer von Krieg, Gewalt und Missbrauch zu kümmern. Und natürlich für Erziehung und Ausbildung zu sorgen. In Bezug auf Vietnam war das sehr schwierig. Dieser elende Krieg zwischen Nord und Südvietnam, der zwanzig Jahre in und um Vietnam tobte und seine Wurzeln im Indochinakrieg hatte und bis 1954 anhielt, war eine unmenschliche und völlig irrsinnige Hölle. Es mischten sich zu Zeiten des Kalten Kriegs die Großmächte ein und das auf Kosten einer hilflosen, völlig desolaten Bevölkerung. Dem Vietnamkrieg konnte sich keiner hier entziehen, denn er wurde auch medial ausgetragen. Wir haben ihn alle über den Fernseher sozusagen miterlebt. Während wir an unseren nächsten Discobesuch dachten, sahen wir im Fernsehen amerikanische Flieger und zerstörte Dörfer. Das war ein Schock. Gabriela war zu diesem Zeitpunkt bereits mit Andreas zusammen, der ein paar Jahre älter war als sie und Architektur studierte. Er kam aus einer anthroposophischen Familie und war politisch interessiert. Ihm ist die Initiative zu verdanken, dass eine Ortsgruppe von terre des hommes in Reutlingen gegründet wurde, in der ich als Freundin der Beiden Mitglied der ersten Stunde wurde. Unsere Aufgabe war es, auf die Missstände aufmerksam zu machen und im Auftrag der Organisation Spenden zu sammeln. Wir organisierten ein Sommerfest auf dem Marktplatz von Reutlingen, gingen auf Weihnachtsmärkte, und selbst am Volkstrauertag scheuten wir uns nicht, uns bei minus zwanzig Grad vor den Friedhof zu stellen und Kerzen zu verkaufen. Das kam nicht bei allen Leuten gut an und wir ließen uns beschimpfen, wie blöd das wäre. Wir wollten gar nicht auf Kosten der Verstorbenen sammeln, sondern als Band der Hinterbliebenen, das die Menschen in der Trauer um die Verstorbenen verknüpft und ihnen in der Gemeinschaft hilft. Ganz wohl war mir nicht und ich konnte verstehen, dass es in der Trauer für jeden eine Grenze gibt, die empfindsam ist und der man respektvoll begegnen muss.
1975 war der Vietnamkrieg nach zwanzig Jahren beendet. Ich stand an der Schwelle, mein Leben in Deutschland fürs Erste zu verlassen. Vorher geschah noch etwas, was damals in einer mädchenhaften Mischung aus Weltverbesserung, Mütterlichkeit und Naivität entstand, und 15 Jahre später seine Bestimmung fand. Ich war eines Abends zu Besuch bei Gabriela und Andreas, die mittlerweile gemeinsam eine kleine Wohnung teilten. Gabi war zu dieser Zeit bereits Arzthelferin, Andreas studierte noch. Die Wohnung war mit zusammengesuchten Sachen vom Flohmarkt bestückt, sehr gemütlich, und ich fühlte mich jederzeit willkommen und wohl. Im Grunde genommen beneidete ich die beiden um ihr Refugium. Sie teilten sich den kleinen Raum der 2-ZimmerWohnung und hatten dennoch beide ihre eigenen kleinen Inseln. Gabrielas Insel war eine alte schwarze Schreibmaschine auf einem großen dunkelbraunen Tisch. Es gab bereits modernere Exemplare, aber Gabi beharrte auf ihre schwarze stolze Lady, auf der sie regelmäßig Briefe an Insassen aus dem Gefängnis schrieb, mit denen sie Brieffreundschaften unterhielt. An einem der vielen Abende saßen wir zusammen auf den unzähligen Matratzen und sprachen zunächst über unsere neueste Diät – wahlweise Kartoffeln mit Quark oder eine Eierdiät – und anschließend über die Situation in Vietnam. Gabriela war mir in vielen Dingen ein Vorbild. Sie hatte und hat auch heute noch ein großes Herz und war damals schon unglaublich hilfsbereit. Daneben war sie sehr bestimmend, was mich manchmal nervte und mir doch zugutekam, weil mit ihr immer etwas vorwärtsging. Eine kleine Anekdote, die so herrlich ihre Menschlichkeit beschreibt, die manchmal so herrlich menschlich widersprüchlich war, ist unser Besuch bei Amnesty International. Es war klar, dass wir da irgendwann mal aufschlugen. Zu jeder Weltverbesserer-Attitüde gehört auch eine Visite bei dieser großen Menschenrechtsorganisation. Also saßen wir da und hörten uns bei der Veranstaltung die Beiträge an, bis der »Dampfkessel Gabriela« Druck ablassen musste und dem ganzen bockig den Rücken zuwendete, begleitet von einer Schimpftirade in dunkelroten Sprechblasen wie »da gehen wir nie wieder hin«, »sind alles Linke«, »alles Radikale«. So war es dann auch für mich erst mal entschieden.
Kommen wir zurück in die Wohnung. An diesem Abend hingen wir den Gedanken nach, dass es ein totaler Schmarrn sei, eigene Kinder in die Welt zu setzen, weil es so viele gäbe, die ein Zuhause bräuchten und es sinnvoller sei, ein Kind zu adoptieren. Während Andreas, dessen Naturell ruhig und besonnen war, sich dazu nicht äußerte, malten wir uns kühn unsere Familienbande mit gemeinsamen Kindern aus Vietnam aus. Ich war damals knappe siebzehn Jahre alt. In diesem Alter hat man Träume, man hat Ideen, man hat Weltverbesserungsvisionen. Ich weiß gar nicht, ob es damals meine waren oder die von Gabriela, die wesentlich reifer schien. Ich weiß nur, dass dieser Abend etwas hinterlassen hat, an das ich lange Zeit nicht mehr gedacht hatte. Wie ein kleiner Samen, der in einen Nährboden gesetzt wurde und zum richtigen Zeitpunkt seinen Weg ins Licht fand.
Heute haben Gabriela und Andreas, denen ich in tiefer Freundschaft verbunden geblieben bin, vier leibliche wunderbare Kinder. Severin, Lupina, deren Patentante ich bin, Christoph und Malvine. Sie haben kein Kind adoptiert, sondern sind auf andere Art und Weise ihrer Bestimmung gefolgt und haben Gutes um sich verbreitet. Gabi ist der Kirche verbunden und nach wie vor ein sehr hilfsbereiter Mensch mit offenen Armen für jeden, der Trost und Hilfe benötigt. Sie ist ein Teil meines Lebens und hat dort Spuren hinterlassen, für die ich sehr dankbar bin.