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New York New York

In der hundertjährigen Geschichte des Fliegens war das Fliegen vor vierzig Jahren für den normalen Passagier, verglichen mit heute, noch etwas Besonderes. Der nationale und internationale Flugverkehr hat sich bis heute rasend entwickelt, befindet man sich in einer Abflughalle, merkt man, dass es der am stärksten wachsende Verkehrssektor ist. Die Flugverkehrsdichte ist gestiegen, der Komfort für den Passagier hat sich vervielfacht. Die Flugpreise sind gesunken, nur damit haben sich auch das Gedrängel um die Flieger, die Sitze, die Gepäckaufgabe und viele nervende Details erhöht. Ein Flugzeug bleibt in der Grundlage ein Flugzeug so wie ein Schiff ein Schiff bleibt. Den Fortschritt der Technik kann man dabei nicht klein reden, vor allem ich nicht, denn ich kenne mich damit zu wenig aus. Vergleiche ich es mit dem Bereich des Segelns, um vorwegzugreifen, habe ich während der letzten Jahrzehnte natürlich ebenfalls Sprünge im Fortschritt – ob GPS Systeme oder der gewachsene SicherheitsStandard – miterlebt. Das Fliegen ist global gesehen ein unumgängliches Mittel der Mobilität, doch bis heute ist die Reihenfolge meines bevorzugten Fortbewegungsmittels definitiv meine Beine, mein Auto, ein Schiff, der Zug und dann, für längere Strecken, eben das Flugzeug.

Bei meiner ersten Atlantiküberquerung im Flieger erschien es mir als purer Luxus, dass jemand durch die Reihen trollte und uns etwas zu essen und zu trinken anbot. Unabhängig davon, was es war. Darüber hinaus gab es kein TV, keine Handy-Spiele, kein iPod mit Musik, die Übermittlung der aktuellen Positionsdaten oder sonstige Ablenkung. Ich hatte mir schwere Lesekost erspart, so dass ich döste und die Zeit absaß. Das muss man können. Sich mal eine lange Weile mit sich langweilen. Ohne eine Sinnkrise zu bekommen oder anderen auf den Geist zu gehen. Unglaublich hilfreich und hat mir bis heute über so manch öde Stunde – auch hier flicke ich Erinnerungen an stundenlanger Flaute auf offenem Wasser ein – hinweggeholfen.

Nach der Landung auf dem Newark Liberty International Airport, in dem man durch lange Gänge und Zollstationen geschleust wird, holte ich mein Gepäck, lauschte dem amerikanischen Stimmengewirr, bis ich schließlich von einem Herrn mit Schild der Carl Duisburg Gesellschaft in Empfang genommen wurde. Neben drei anderen deutschen Mädchen, die mit demselben Flieger gekommen waren, bis dato allerdings nichts voneinander wussten. Etwas scheu, mit einer kichernden Unsicherheit, waren wir froh, uns auf Deutsch austauschen zu können. Brav folgten vier Küken dem Fahrer Richtung Bus.

Fährt man mit dem Schiff vom Atlantik in den Hafen ein, dessen Gewässer sich mit dem Hudson River, der sich träge durch New York schlängelt, mischt, wird man von Lady Liberty, der imposanten Freiheitsstatue, empfangen. Das blieb mir zunächst vorenthalten. Wir fuhren vom Westen über Jersey City nach Newport und von dort durch den Holland Tunnel unter dem Hudson River nach Lower Manhattan. Wir tauchten in den Großstadtdschungel der Wolkenkratzer ein, durch enge schattige Straßenschluchten, die plötzlich in helle 6-spurige Straßen mündeten, auf denen gelbe Taxis hektisch umherhuschten, das Echo heulender Sirenen hallte und sich viele Menschen in scheinbar einiger Formation bewegten. Eine der Hauptstraßen ist die 34th Street, die sich in Midtown Manhattan befindet und die Insel von West nach Ost durchquert. Dort befand und befindet sich bis heute – übrigens in Nachbarschaft zum Empire State Building – die »Webster Apartments«, unser Domizil für das kommende halbe Jahr. Mitten in Manhattan! Was meinem Lieblingsfortbewegungsmittel sehr zugute kam! Damals nahm das Haus nur Frauen auf. Unsere Zimmer waren winzige enge Schläuche mit einem Bett und einem Schrank bestückt. Mein Nest lag im 11. Stock und hatte die Nummer 1107. Es gab ein Bad auf dem Flur, indem auch ein Telefon hing. Um Letzteres machte ich einen großen Bogen, weil Telefonate zu dem damaligen Zeitpunkt für meine schmale Börse nicht erschwinglich waren. Ich hatte gar kein Bedürfnis, mich meiner Heimat über den Fernsprecher zu vergewissern. Ich hatte mich für diesen Aufenthalt selbst entschieden. Ich wusste, wenn ich wollte, könnte ich telefonieren. Das reichte. Wir bekamen Frühstück und Abendessen, beides ziemlich bescheiden, manchmal verzichteten wir sogar freiwillig und investierten Geld in Burger, Pizzas oder Pasta. Es gab Momente, in denen ich die schwäbische, gehaltvolle und irgendwie eindeutige Kost meiner Mutter zu schätzen lernte. Das alles war aber nicht wirklich relevant. Ich kam in feste Strukturen und musste nicht ins kalte Wasser springen, was mir Sicherheit gab. Denn ich stellte schnell fest, dass mein Englisch miserabel war und ich kein Wort amerikanisch verstand. Ähnlich ging es Brigitte K.

Kaum in New York, wurden wir nach einer Nacht in einen Greyhound Bus gesetzt, um amerikanische Familien zu besuchen und, in den drei Wochen, Erfahrungen mit dem »American Way of Life« zu sammeln. Dabei reisten wir durch Boston und Connecticut, was weder einen Wow! noch einen Urghhh!-Effekt hatte. Die Familien waren sehr offen, nahmen sich Zeit und gaben sich mit uns durchaus Mühe. Sie engagierten sich ehrenamtlich und ihre Freizeitangebote waren nicht selbstverständlich. Wenn man sich vorstellt, Zwanzigjährigen nicht des Englischen mächtigen deutschen Mädchen etwas zu sagen oder zu zeigen, kann man sich nahezu hilflos fühlen, vor allem, wenn man nicht weiß, für was sie sich überhaupt interessieren. Geschweige denn, wie man Reaktionen des Interesses richtig einschätzt, wenn diejenigen nicht die Sprache können. Bedeuten große staunende Augen und ein schiefes Grinsen: »Ich verstehe nichts und habe schrecklich Angst mich zu blamieren!« oder »Ihr Amis habt alle einen an der Waffel und jetzt lass ich das halt über mich ergehen, weil es im Programm steht«. Eines Abends zogen wir zusammen los zu einem Eishockey-Spiel. Wenn die Amerikaner etwas können, dann ihre Lieblingssportarten zu zelebrieren und zu feiern. Was ich bei diesen Spielen an Engagement, Enthusiasmus und purer Freude erlebte, war klasse. Wäre von dieser Begeisterung ein Fünftel beim Handballspiel in unseren Allzweckhallen rübergekommen, wäre die Motivation auf dem Spielfeld bestimmt nochmal eine andere gewesen. Egal. Wir verfolgten das Spiel, obwohl wir keine Ahnung hatten, und genossen den Abend. Meine Gasteltern wussten auch nach diesem Abend nicht, wie sehr er mir gefallen hat und dass ich selber ein Fan von Teamsportarten war.

Zurück zu Brigitte. Sie konnte eigentlich kein Wort Englisch, sich also überhaupt nicht mit den Familien unterhalten im Gegensatz zu Christa, die mit uns im selben Flugzeug angereist war. Sie war mit 25 Jahren bereits von einem Pakistani geschieden. Ihr Vorteil: sie konnte nahezu perfekt Englisch und war äußerst eloquent, was dazu führte, dass wir uns völlig minder geeignet für dieses Unterfangen fühlten. Brigitte war zudem von schlimmem Heimweh geplagt, weinte viel, wollte eigentlich direkt wieder nach Hause. Ich musste regelmäßig die amerikanische Hebamme spielen, sie trösten, ermutigen und das Leben in New York schmackhaft machen. Eigentlich nicht meine stärkste Gabe, denn hin und wieder nervte das, weil mir Heulerei fremd war und ich mich selbst zurechtfinden musste. Doch irgendwie galt hier das von Alexandre Dumas so wunderbar in seinem Roman Die drei Musketiere proklamierte und in Szene gesetzte Motto »Einer für alle, alle für einen«, das mich mein Leben lang begleiten sollte. Was Brigitte damals noch nicht ahnte und weit von dieser Vorstellung entfernt dachte und fühlte, war, dass sie später lange in New York leben und bei der UN arbeiten würde.

Zurück in New York, ging es übergangslos in den Schulalltag. Wir waren acht deutsche junge Frauen in einer Klasse. Aus den acht deutschen Startern kristallisierten sich vier heraus, die sich gegenseitig stets aushalfen und unterstützten. Birgit mit der ich später in San Francisco zusammenlebte und mit der sich über die Zeit eine bis heute erhaltende wundervolle Beziehung entwickelte; Elfi und Hermine, die zwei anderen im Bunde, zwei unglaublich praktisch veranlagte Persönlichkeiten, von denen ich grundlegende Tipps bekam, wurden mir enge Vertraute und Freundinnen.

Am Anfang waren wir noch von den Regeln beeindruckt, machten uns aber ziemlich bald davon frei. Eine unausgesprochene Pflicht in der Schule war es, Röcke, Westen und Jacken anzuziehen. Ich hatte gar nicht das Geld dazu und trug meine Jeans. Klar, war da auch eine bockige Gegenreaktion im Spiel, als wir uns mit »Scheiß drauf, wir haben schließlich bezahlt und ziehen an was wir wollen!« gut zuredeten. Doch irgendwann kaufte ich mir billigen Stoff und Hermine zeigte mir, wie man mit einfachen Stichen einen Wickelrock nähte. Das war immer noch weit von dem Standard entfernt, aber schon besser. Ich lernte amerikanische Betriebswirtschaftslehre, was mich langweilte. Mein Englisch hingegen wurde besser. In den ersten Wochen benutzte ich die Abendstunden, um zu lernen. Musikalisch wurde ich in diesen Wochen von Leonard Cohen mit Suzanne und James Taylor mit Handy Man begleitet. Sie liefen ständig im Radio, was einer meiner ersten Anschaffungen in New York war.

Anfangs trafen wir uns nach der Schule tagsüber in einem deutschen Café mit deutschem Kuchen und dachten uns, so quasi als richtige Deutsche, dem Café zu mehr Authentizität zu verhelfen. Es dauerte nicht lange, da verfielen wir der amerikanischen Zucker und Butter-Droge und wechselten in einen amerikanischen Coffee Shop, in dem es fette amerikanische Strawberry Cheesecakes gab, die so heftig waren, dass wir stundenlang an einem Stück mümmelten, bis die Bedienung uns entnervt rausschmiss, weil wir nicht für genug Umsatz sorgten.

Birgit war eine leidenschaftliche Fotografin und animierte mich, eine Spiegelreflexkamera zu kaufen. Diese Investition habe ich nie bereut. Das Prozedere eines Kaufs in New York verlangte mir arges Verhandlungsgeschick ab, das ich mir bis dato nicht aneignen konnte. Man musste in jedem Laden mit den Verkäufern handeln, so auch in dem Elektronikladen. Da ich nicht wusste, was dieses Kameramodell wert war, fiel es mir schwer, einen angemessenen Preis zu kalkulieren und anzubieten. Nachdem ich gnädig ein paar Dollar Nachlass zugestanden bekam, nahm ich stolz meinen neuen Schatz und ging mit Birgit auf Fototour. Die Stadt hielt einen unermesslichen Schatz an interessanten Motiven und besonderen Momenten dafür bereit. Wie auf einem Präsentierteller boten sich uns Menschen, Objekte, Szenen an. Da es damals noch keine Digitalkameras gab, mussten wir uns für jedes Bild entscheiden. So lernte ich die unglaublich abwechslungsreiche Millionen-Metropole auf eine andere Art und Weise kennen. In ihr offerierte sich die Gegensätzlichkeit in so vielem. Schwarze, gelbe, weiße, dicke, dünne, große, kleine Menschen. Moderne Wolkenkratzer neben wildem Baustil, wie dem Brooklyn Museum oder auch dem Hauptbahnhof als neobarockes Gebäude, oder das aus dem Jahr 1906 stammende Bibliotheksgebäude an der Fifth Avenue, das mit dem Anbau und seiner gläsernen Verbindung eine Kombination aus alt und neu darstellt. Das Chrysler Building als ein phänomenales Beispiel der Artdéco-Architektur ist beeindruckend. Hier lebte unermesslicher Reichtum neben bitterer Armut, dazu musste man nicht von der funkelnden Auslage bei Tiffanys in die berüchtigte Bronx fahren. Regelmäßig blieb ich mit meinen Augen an einfachen Straßenszenen hängen. Etwa: Wenn Kleiderständer prall gefüllt mit Bügeln, die dicht aneinander gereiht die neueste Mode trugen, durch das Verkehrschaos über die Straßen geschoben und in die Läden geliefert wurden. Das waren Augenblicke, die mir ein anderes Leben als das mir bekannte vor die Linse holten und bei denen ich den Auslöser drückte.

Obwohl man uns immer davor warnte, da es viel zu gefährlich sei, nachts als Frau mit der Subway zu fahren, sind Birgit und ich auch nachts noch oft unterwegs gewesen, um uns Manhattan zu erobern. Wie an diesem Abend, als Birgit vor meiner Zimmertür stand, ob ich noch Lust hätte mit ihr auszugehen, sie hatte etwas von einer tollen Disco gelesen. In der Disco waren dann jedoch fast nur Frauen, faszinierend gutaussehende Frauen. Doch irgendwie wurden wir unsicher, sah diese Frau, die da an uns vorbeilief, nicht aus wie ein Mann? Einer von den wenigen Männern, die in der Disco waren, bemerkte unsere Unsicherheit und klärte uns auf, dass es in der Disco fast nur Männer – Transsexuelle – gab. Er sei jedoch ein Hetero, und ob ich mit ihm tanzen möchte. Wir hatten einen großartigen Abend. Ich war beeindruckt von dieser Szene, kam ich doch aus dem biederen Reutlingen und war vorher mit diesem Thema noch nie in Berührung gekommen. Diese Disco haben wir noch öfters in unserer New Yorker Zeit besucht.

Von einem weiteren Erlebnis in New York möchte ich auch noch berichten. Meine Begegnung mit der deutschjüdischen Vergangenheit. Auf die ich erschreckenderweise nicht vorbereitet war. Ich hatte familiär weder jüdische noch nazitreue Bezüge, zumindest wusste ich nichts von beidem, was ja lange Zeit verbreitet und üblich war. Mein Großvater mütterlicherseits war während des Krieges in Frankreich in Gefangenschaft gekommen, weil er sich geweigert hatte, als Soldat zu schießen. Er sagte seinem Offizier, dass er persönlich kein Problem mit den Franzosen habe. Er musste als Sträfling auf einem Bauernhof irgendwo in Frankreich arbeiten. Was ein großes Glück für ihn war. Als er nach Hause kam, hat er meiner Mutter immer von der Madam erzählt, die ihn gut, da ihr Mann auch im Krieg war, vielleicht zu gut, versorgt hatte. In der Schule war die Aufarbeitung der Vergangenheit und deutschen Kriegsverbrechen erst im Aufkeimen. Rückblickend war es eine naive Weltsicht zu denken »was vorbei ist, ist vorbei«, und ich sah mich selber in der Haltung, »wenn sich jeder selber nicht so wichtig nimmt, können wir alle friedlich koexistieren«. Aber so einfach ist es eben nicht. In New York gibt es eine Münchner Replik vom Oktoberfest. Es floss deutsches Bier zu Brezn, Schweinshaxn und Giggerl. Als wir vier uns – nicht in Dirndln; obwohl ich als schwäbisches Mädel nicht weit entfernt von Bayern lebte, hatte ich das Münchner Original nie besucht – ins Festzelt aufmachten, dauerte es nicht lange, und wir lernten zwei Männer kennen, mit denen wir einen ausgelassenen Abend verbrachten. Sie waren Juden, ich weiß heute nicht mehr, woher diese Information kam, schließlich stellt man sich damit ja nicht vor. Sie hatten auf Long Island ein Ferienhaus, dort, wo im Sommer halb New York nach Osten flieht, an die herrlichen Strände der Hamptons auf Long Island. Die beiden luden uns spontan ein, das nächste Wochenende bei Ihnen auf Long Island zu verbringen. Die Gelegenheit für uns, einen Ort kennen zu lernen, den wir sonst nie aufgesucht hätten. Hermine, Birgit, Elfi und ich dachten uns nichts dabei, wir waren jung, wir gingen nur vom Besten aus und hatten Lust auf Spaß und Abwechslung. Es waren noch mehr Leute fürs Wochenende gekommen, und den Nachmittag verbrachten wir alle fröhlich am Strand. Auch der Abend verlief zunächst völlig harmlos, bis irgendeine Frau plötzlich sehr aggressiv und laut schrie »Ihr seid alle Nazis und heute auch nicht besser!«. Wir waren überrumpelt und starr vor Schreck. Ich versuchte zu erfassen, ob es nur ein übler Scherz war, eine einmalige Angelegenheit, die dem Sektglas entsprungen war. Es gab die einen, die schwiegen, und die anderen, die uns wild beschimpften. Es war skurril und unangenehm, es gab keinerlei Hinweise, woher diese Aggression auf einmal kam und auch kein Nachfragen, wie wir selbst zu dem Thema standen. Es gab kein Vermitteln. Es ist seltsam, wenn man die Welt relativ vorurteilslos und friedliebend erlebt und betrachtet, aber spürt, dass man zur Verantwortung gezogen wird und werden muss für Vergangenes, das so erhebliche Auswirkungen auf Generationen hatte. Man fühlt sich hilflos, gedemütigt, wütend, schuldig und will am liebsten mit dem Ganzen nichts zu tun haben. Und merkt nicht, dass genau das ein Teil der Gefühle sind, die diese Menschen bzw. die Generationen davor in einem anderen Ausmaß erlebt hatten. Überwältigung im Angesicht einer unfassbaren Ungerechtigkeit. Mit unseren Cocktailgläsern in der Hand, wussten wir jedenfalls nicht, was wir zur Wiedergutmachung, zur Vergebung, zum »Zeichen setzen« tun konnten, sollten, oder was von uns erwartet wurde. Vielleicht hätten wir einfach nur um Entschuldigung bitten müssen. Ich für meinen Teil war überfordert. Ich weiß nicht, ob das etwas gerettet oder geändert hätte. Hermine und ich beschlossen, die Party zu verlassen, Birgit und Elfie sind geblieben. Dies war das einzige Erlebnis dieser Art, das ich im Zusammenhang mit der deutschjischen Vergangenheit in all den Jahren, die ich gereist bin, erlebt hatte.

Nachdem sich unser halbjähriges Schuljahr dem Ende neigte, mussten wir uns entscheiden, ob wir weiter auf die Schule gehen wollten oder ins Berufsleben wechselten. Mittlerweile war klar, dass ich der Schule immer noch nicht viel abgewinnen konnte und beschloss zu arbeiten, um endlich Geld in der Börse zu haben. Natürlich lag dem der Gedanke zugrunde, dass ich in den zwei Jahren möglichst viel erleben wollte und den finanziellen Rahmen dazu brauchte. Da ich der Ansicht war, New York schon zur Genüge zu kennen, überzeugte mich Hermine – was nicht viel an Überzeugungskraft bedurfte – von einer anderen Metropole: San Franzisco, die Stadt mit Strand, Wärme, Stars und Leben auf der anderen Seite, dem Westen der USA. Hermines Onkel lebte dort, was praktisch war, weil wir somit eine Anlaufstelle hatten.

Doch Hermine musste nach Schulende nochmals für vier Wochen nach Deutschland fliegen. Wir beschlossen, noch vor ihrem Abflug nach Deutschland ein Auto für die Überfahrt nach San Francisco zu kaufen. In der Zeitung wurden wir auch schnell fündig, 800$ für einen Ford Pinto 2-Sitzer ohne Rückbank aber großer Ladefläche, für unsere Fahrt genau das Richtige. Nach einer kurzen Probefahrt wurden wir uns mit dem Verkäufer, der uns nur »Honey« nannte, schnell einig, zahlten 200 $ für das Auto an, um es vier Wochen später abholen zu können. Für mich bedeutete das vier Wochen Wartezeit bis zur Abreise von New York. Birgit und Elfie wollten auch nach San Francisco und hatten durch eine Anzeige zwei jüdische Jungs mit Auto gefunden, die noch zwei Mitfahrer suchten. Die zwei waren dann auch sofort nach der Schule weg und ich blieb erst mal allein zurück. Ich beschloss, diese Zeit sinnvoll zu nutzen und fing an, einen Job für vier Wochen zu suchen. Damals noch mit Kleinanzeigen in der Tageszeitung. »Bedienung für Nachtbar gesucht« – war doch für die kurze Zeit genau das Richtige für mich. Ich rief an, sollte sofort hinkommen und wurde dann auch, nachdem ich von oben bis unten genau taxiert worden war, angenommen. Am Abend sollte ich dann mit Hot Pants und knapp sitzendem Oberteil antanzen. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Tabledance Bar handelte. Ich musste mit ein paar anderen Frauen zusammen lediglich die Getränke an die Tische bringen, ca. fünf Frauen tanzten nackt auf den Tischen. Man bekam keinen festen Lohn, sondern nur das Trinkgeld. Ein Bier kostete 2,75 Dollar, was ein Trinkgeld von 25 Cent bedeutete, aber das musste man den männlichen Kunden immer mitteilen. »Tip is not included«, es bedeutete, dass sie einem noch diese 25 Cent Trinkgeld sehr widerwillig gaben. Die Arbeit ging bis fünf Uhr früh, und ich ging todmüde mit ca. 35 bis 40 Dollar nach Hause.

Nach zwei Nächten hatte ich genug davon und erinnerte mich an eine Visitenkarte, die mir ein Mann ein paar Wochen zuvor an einer Fußgängerampel in die Hand gedrückt hatte mit der Bemerkung, falls ich mal Arbeit benötige und an Modelling interessiert sei, soll ich einfach bei ihm anrufen. Das tat ich dann auch, rief an, ob er immer noch jemand suche. Ja, ich solle sofort ein Taxi nehmen und zu ihm kommen, um alles Nötige zu besprechen. Die Kosten für das Taxi würde er übernehmen. Ich nahm dann doch die Metro und war eine Stunde später bei ihm. Mir wurde ganz mulmig, als er die Tür hinter uns zuschloss. Zuerst war es Modelling mit Kleidern, dann wurden die Kleider immer spärlicher und zum Schluss waren es Nacktaufnahmen. Das habe ich dann doch dankend abgelehnt und wollte gehen. Ohne zu murren, gab er mir das Taxigeld und schloss mir die Tür auf. Ich war erleichtert, als ich wieder auf der Straße stand und alles so glimpflich abgelaufen war.

Noch immer musste ich über drei Wochen auf Hermine warten. Was jetzt tun? Ich erinnerte mich daran, dass Hermine bei einer deutschen Spedition mit Niederlassung in New Jersey mal zwischendurch während der Schulzeit gearbeitet hatte, ich konnte mich auch noch an den Namen erinnern. Sofort rief ich dort an, konnte am nächsten Tag anfangen und bis zur Rückkehr von Hermine bleiben. Was für ein Glück für mich!

Nachdem Hermine aus Deutschland zurück war, machten wir uns auf den Weg, das Auto abzuholen, um uns dann für unsere große Fahrt nach San Francisco vorzubereiten. Und wieder wurden wir von dem Verkäufer und einem Freund von ihm sehr freundlich empfangen, Sie nannten uns »Honey« hier und »Honey« da. Er bekam die restlichen 600 $ und wir das Auto mit den Papieren. Wir fuhren mit dem Auto glücklich vom Hof, gleich in die nächste Werkstatt, um das Auto nochmals vor der großen Fahrt checken zu lassen. Eine Stunde später erfuhren wir, dass wir das Auto ja nicht kaufen sollten, weil es sich um ein Wrack handeln würde, an dem Auto würde quasi nichts mehr in Ordnung sein. Wir waren erst mal am Boden zerstört. Wie sollten wir damit umgehen? Wir entschlossen uns, erstmal mit dem Verkäufer zu reden, dass er das Auto wieder zurücknehmen solle. Aber keine Chance – er war nicht bereit mit uns zu reden und »Honeys« waren wir auch nicht mehr. Auf gut Deutsch, wir sollten uns einfach schleichen und nicht mehr blicken lassen. Aber er glaubte offenbar, zwei gutgläubige junge Mädchen vor sich zu haben und hat nicht mit der Hartnäckigkeit dieser zwei »gutgläubigen jungen Mädchen« gerechnet. Wir waren wütend, wie konnte er uns die Reise so versauen, was sollten wir mit einem nicht fahrtüchtigen Auto anfangen. Wir gingen auf die nächste Polizeistation, um Anzeige zu erstatten. Die Polizei teilte uns mit, dass wir uns damit normalerweise an einen Rechtsanwalt wenden müssten. Sie bot uns an, mit uns nochmals zu dem Verkäufer zu gehen, was wir gerne annahmen. Ich werde nie vergessen, wie überrascht die zwei Männer waren, als wir mit zwei Polizisten wieder vor ihrer Tür standen. Es dauerte eine halbe Stunde bis wir zähneknirschend die Zusage bekamen, dass wir das Auto am nächsten Tag in die Werkstatt zurückbringen konnten, um die Mängel zu beseitigen. Ein Tag lang wurde an dem Auto repariert, und die Werkstatt sicherte uns zu, dass es jetzt fahrtüchtig sei. Zwar mussten wir alle paar 100 km Öl nachschütten aber wir haben es mit dem Auto bis nach Monterey in Kalifornien geschafft.

Unsere Route führte uns über Philadelphia, Washington D.C. nach Florida und Key West, weiter nach New Orleans, Grand Canyon in Arizona, Las Vegas, San Diego bis Monterey. Übernachtet haben wir entweder in unserem Auto oder in einem kleinen Zelt, das wir noch am Anfang unserer Reise erstanden hatten. In Monterey gaben die Bremsen ihren Geist auf und wir konnten das Auto schweren Herzens nur noch zum Schrotthändler bringen. Von dort holte uns dann Hermines Onkel ab. Ich schlüpfte zwei Wochen bei ihm unter, bis ich in der Larkinstreet direkt in der Stadtmitte ein Zimmer fand. Birgit und Elfi waren auch schon mit den zwei Jungs in San Francisco eingetroffen und wohnten bereits dort.

Über eine Zeitarbeitsfirma wurde ich dann schnell und unkompliziert in eine Arbeit vermittelt, die erste Stelle trat ich in der Barkleys Bank an. Dort lernte ich einen schwulen, unheimlich gutaussehenden Südamerikaner kennen, der mir ständig Blumen und Geschenke brachte. Auch eine erste neue Erfahrung. Eine sehr schöne. Aufmerksamkeiten von einem Mann zu bekommen, einfach weil er sich freut, dass es einen gibt und weil er einen mag. Außer mir hatte er noch andere deutsche Freunde, so dass wir uns fortan öfters trafen, um deutsch zu kochen. Das Kochen zählte bis dato nicht zu meinen Stärken, wurde es auch dort nicht, aber es war lustig, zugegebenermaßen etwas heimelig, und bis auf ein paar Ausnahmen sehr lecker. Nach meinem Einsatz in der Bank wurde ich bei einer Niederlassung der Otto Wolff GmbH, heute Thyssenkrupp zugehörig, vermittelt. Auch dieses deutsche Unternehmen hatte seine eigene Vergangenheit und Beteiligung an der deutschen Kriegsgeschichte. Damals war mir das nicht bewusst und hätte auch nichts geändert. Gerade beim Arbeiten zeigte sich das typisch deutsche Fleißige, Korrekte, womit man als Angestellte gern gesehen war. Sie wollten, als mein Visum auslief, für mich eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung beantragen, was ich aber ablehnte. Schließlich wollte ich Spaß und Abwechslung und plante nach Ablauf der USA Zeit weiterzuziehen.

Dadurch, dass wir zusammenwohnten, waren Birgit, Elfi und ich oft zusammen unterwegs. Eines Tages nahm uns ein anderer Bewohner aus dem Apartmenthaus zu einem Baseball-Spiel mit, wo wir Gary kennen lernten. Gary ist ein Kapitel für sich, doch möchte ich ihm gar nicht so viel Raum geben, denn er stellte sich als echte Nervensäge heraus. Also nur in Kürze. Garys Familie kam ursprünglich aus dem Libanon nach Massachusetts, er selber war bereits in der dritten Generation in Amerika. Am Anfang war es sehr lustig mit ihm, weil er so durchgeknallt war. Irgendwann kam er auf einen religiösen Trip in Verbindung mit einer Sekte, die sich Eckankar nannte. Er predigte mir, dass diese weltweite neue religiöse Bewegung, deren Ursprünge unter anderem in der Sant-Mat-Bewegung lägen und als die Urreligion gälten, auf den Prinzipien des Karma und der Reinkarnation basiere und das Wissen sowie die Erfahrung aller großen Weltreligionen in ihrem Kern vereine. Wenn ich so was schon höre. Ich weigerte mich konstant zu diesen Treffen mitzugehen, was bei Gary eine sehr schlechte Seite zu Tage förderte. Er war unglaublich konservativ, impulsiv und herrisch. Es gab oft Streit, so dass wir sehr bereuten, mit ihm zusammengezogen zu sein. Da unser Visum sich ohnehin dem Ende zuneigte, unterstützte das den Impuls, den wir brauchten, um weiterzuziehen. Birgit und Elfi entschieden sich nach Südamerika zu gehen. Wir hatten gemeinsam einen Spanischkurs belegt, den ich nicht ernsthaft verfolgte, doch die beiden wollten ihre Sprachkenntnisse verbessern und verschiedene Länder auf dem Kontinent bereisen. Mich zog es woanders hin und ich folgte einer Eingebung, die meinen Erlebnissen beim Tauchen entsprang. Als ich mit Hermine in San Francisco angekommen war, lebten wir ja zunächst bei ihrem Onkel. Er initiierte, dass ich zur Tauchschule ging. Mein Herz für Tiere, für ihre Artenvielfalt war entbrannt. Meine Fantasie malte die komplette Unterwasserwelt auf ein Bild, das ich beim Tauchen kennenlernen und betrachten wollte. Fischschwärme, durch die ich schwamm, und die meinen Bewegungen folgten, Felsen, die bei genauerem Betrachten Figuren in sich versteckten und Schlupflöcher für versteckte Meeresbewohner boten. Die Flamme wuchs zu einem leidenschaftlich lodernden Waldbrand, der als Erstes in einem Swimmingpool gelöscht wurde, in den ich mich plumpsen lassen musste. Das Bild, das ich dort als Erstes kennen lernte, waren die Kacheln, die mich müde anschauten, denn Bikini-Ladies reflektieren sich schöner als Neopren-Würste. Bis ich mich in diese engen Gummihäute reingezwängt hatte, war ich schon völlig fertig, verschwitzt und hatte eigentlich schon keine Lust mehr. Das i-Tüpfelchen war der Bleigürtel, den man umgeschnallt bekam, was zugegebenermaßen bei meinem Gewicht notwendig war, aber das ganze Prozedere war für mich bereits im Vorfeld so aufwendig, dass ich gewillt war bockig aufzustampfen und erst recht nicht abzutauchen. Habe ich natürlich nicht gemacht. Das Ergebnis: Mein erster Tauchgang im Meer war schmerzhaft, weil meine Ohren weh taten (was ich bei keinem nachfolgenden Tauchgang besser hinbekam), und von königlichen Fischen in schillernden Farben war weit und breit nichts zu sehen. Wir schlingerten durchs Dunkle und durch Wälder von Schlingpflanzen. Es war ganz nett, weil es einen Teil meiner Abenteuerlust weckte, aber das Zinnober drum herum war für meine Verhältnisse übertrieben. Ich musste jedes Mal auf Betteltour nach einem Fahrer mit Auto gehen, der mich zu der Bucht oder dem Strand fuhr, weil man das ganze Equipment nicht auf dem Fahrrad transportieren geschweige denn tragen konnte. Dann hatte ich dummerweise Gary zu einem der Vereinstreffen mitgenommen, bei dem ein Vortrag über den Umwelt- und Gebietsschutz für Taucher und Fische gehalten wurde, in dem sich Gary so aggressiv einmischte und wetterte und die Leute wüst beleidigte, dass ich hochnotpeinlich flüchtete und mich dort nicht mehr blicken ließ. Allerdings hat das Tauchen den Ausschlag gegeben, mich für die Südsee zu entscheiden. Ich ging davon aus, dass die Gewässer der Südsee die bessere Galerie für meine Suche nach dem ultimativen Bild waren.

Vorher kamen mich Mutter und Marcus besuchen. Im Juli 1978. Papa, der Angsthase, wollte nicht fliegen und blieb zu Hause. Nehme ich ihm nicht übel, obwohl ich mich sehr gefreut hätte, wenn er mitgekommen wäre. Wir mieteten uns ein Auto und ich zeigte meiner Mutter »mein Kalifornien«. Momente der Begegnung, in denen ich spürte, dass sie stolz auf mich war. Sie lernte natürlich auch Gary kennen. Und kam auf die irre Schnapsidee, dass ich ihn heiraten sollte. Damit hätte ich die Garantie auf schönes Wetter in einem schönen Land. Wenn Gary ein reicher Texaner gewesen wäre, hätte sie wohlmöglich noch einen Handel mit ihm vereinbart. Der Traum einer jeden deutschen Frau aus der Nachkriegszeit war es, nach Amerika auszuwandern. Ihre Freundinnen hatten das gemacht, nur sie hatte sich das nie getraut. Ich verbot meiner Mutter vehement in Garys Richtung irgendwelche Andeutungen zu machen. Vergeblich. Trotzdem waren es angenehme Wochen und rundeten meinen KalifornienAufenthalt ab. Ich löste meine Wohnung auf, schickte meine Sachen nach Deutschland und nahm nur das mit, was mir wichtig erschien. Wenig.

M.E.L.

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