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ОглавлениеDer Ruf über das atlantische Meer
Ich hatte mich in den jungen Vagabunden verliebt. Seine unbekümmerte Lebensart mit den Träumen nach Freiheit betörten mich. Horst drückte sich über seinen Körper aus. Wenn er über das Schiff sprang, es in den Wind legte und meinte, alles seinem Willen unterwerfen zu können, zeigte er eine mitreißende Vitalität und Kraft. Er war so überzeugt von dem was er tat, selbstverständlich wie der Wind, der durch Gräser und Bäume streift und das Blätterwerk fortträgt. So nahm er mich mit, die sich bereitwillig von dem Ast der Heimat löste und von den Lüften des Lebens treiben ließ. (Dass das Temperament eines Windes, der sich zum Sturm drehen kann, ein einzelnes Blatt bisweilen verweht und es unter aufgewirbeltem Staub zurücklässt, ahnte ich, ignorierte das leise Flüstern jedoch konstant.) Wir vereinbarten, gemeinsam über den Atlantik zu segeln.
Wenn ich von »Schiff« spreche, liegt es daran, dass ich über die gesamte Strecke meiner Erzählung bei einem einheitlichen Begriff aus dem Vokabular der Segler bleiben möchte. Mit Schiff assoziiert man etwas Großes und Erhabenes. Das muss ich zwingend für die Cachalot korrigieren. Ich will ihr nicht zu nahetreten, denn sie hat uns über den Atlantik getragen und jahrelang begleitet, doch nach heutigen Maßstäben war sie nicht mehr als ein Wohnklo mit Küche. Dasselbige war in der Kajüte, und wollte man seine Notdurft verrichten, musste man es anmelden, damit die anderen sich diskret an Deck zurückziehen konnten, oder in Kauf nehmen, dass man nicht allein dabei war. Zudem verfügte unsere kleine Nussschale über keinerlei moderne Ausstattung. Wie gesagt gab es damals kein GPS. Funk hatten wir auch nicht und das Echolot war defekt. Meine Eltern mussten mich mit 27 Jahren ziehen lassen. Ich weiß nicht, ob sie sich jemals darüber bewusst waren, was ihre Tochter dazu bewegte bzw. auf was sie sich einließ.
Wir wollten für die Atlantiküberquerung einen weiteren Mitsegler, den Horst wieder über eine Anzeige suchte. Heiko P. war der Auserwählte. Die Entscheidung fiel ohne mich, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch in Stuttgart arbeitete, doch als ich Heiko auf den Kanaren kennenlernte, war er mir auf Anhieb sympathisch. Er kam aus dem Norden und besaß eine ruhige überlegte Art, die sein Beruf als Augenarzt auch notwendig machte. Er war in unserem Alter, sah einnehmend gut aus und war offen für neue Erfahrungen, denn er wollte sich später ein eigenes Schiff kaufen. Zudem war er rücksichtsvoll, denn während Horst und ich verliebt auf dem Vordeck turtelten, fraß er sich durch die gesamte technische Schiffsbibliothek. Das Einzige, was ihn wirklich mürrisch werden ließ, war Horst und meine Essensbestückung. Da er sich an den Kosten beteiligte, kauften wir für die drei Wochen Überfahrt Lebensmittel ein. Was Horst und ich nicht berücksichtigten, weil wir wenig Verlangen danach hatten und jeden Pfennig sparsam einsetzten, waren Zuckervorräte in Form von Süßigkeiten. Der arme Heiko, er ist regelmäßig in einen mentalen Unterzucker gefallen. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen. Was ein Snickers, Mars oder Raider für Wirkungsmechanismen im Stimmungszentrum unseres Gehirns auslösen können! Aber schließlich hätte er auch was sagen können. Naja, er hat es überlebt und geschadet hat es wohl auch nicht. Als wir endlich ankamen, unsere Füße auf festen Boden setzten und eine Strandbar aufsuchten, waren es Horst und ich, die sich eine eiskalte Cola bestellten und Heiko griff zu einem Bier. Was soll man dazu sagen?
Noch auf der Insel La Palma wollten wir vor unserer langen Atlantiküberquerung auf Wasser den Begriff »Erde« unmittelbar und sinnlich in unseren Köpfen verankern und planten eine dreitägige Bergtour. Während ich mit meinen Stricknadeln klimperte und sich Reihe für Reihe aus unzähligen Maschen meines dünnen Garns eine Pudelmütze für Horst aufbaute, packte er unsere Rucksäcke. Wenn sich mein Blick für einen Wimpernschlag von den Maschen trennte, fragte ich mich – sobald ich mich wieder auf Ab und Zunahmen konzentrierte – so ganz nebenbei, warum dort zwei große Rucksäcke standen und was um Himmels Willen er da alles reinstopfte. Ich war, was Gepäck anging, das ich selbst schleppen musste, extrem berechnend. Ich neckte ihn mit dem Hinweis, dass wir zwei Tage und nicht drei Wochen unterwegs seien, was seine Stimmung deutlich verschlechterte. Klar, sitzen und meckern ist reizvoll, aber wie hätte ich es anders beobachten können. Wir hatten eine unausgesprochene Arbeitsteilung, die keiner Logik folgte, außer der, dass sie für Horst stimmig war. Allerdings war sich Horst auch für keine Arbeit zu schade. Am nächsten Tag standen also die Rucksäcke an Bord und Horst ließ es sich nicht nehmen, sie an Land zu bringen, bevor er mich mit dem Beiboot holte. An Land frachteten wir das Gepäck auf unsere Schultern, Horst knickte dabei ein, und als wir loswanderten, stellte ich fest, dass aus seinem Rucksack Wasser tropfte. Ich piesackte ihn so lang, bis er mir übellaunig gestand, dass der vermaledeite Rucksack ins Wasser gefallen sei. Meiner Logik zu folge, hieß der Weg wieder Rückzug aufs Schiff, seiner Logik zu folge sollten wir loswandern. Was wir auch taten. Ich musste ihn ja nicht tragen. Es triefte und tröpfelte seine behaarten Beine entlang in den Staub, deren Spur ich stumm nachging. Die gefühlte Tonne auf seinem Rücken wurde nicht leichter, bis Horst erschöpft zusammenbrach. Wir hielten ein Auto an, der Fahrer sollte uns irgendwo in den Bergen absetzten. Nach ein paar Autostunden wurden wir eigentlich ausgesetzt, denn wir hatten keine Ahnung, wo wir uns befanden. Die Essensvorräte waren bis auf ein paar Ausnahmen, die sich in meinem Rucksack befanden, mit Meerwasser durchtränkt. Notgedrungen stiegen wir auf Kaktusfrüchte um, die wir sammelten und mit Zwiebeln und Zucker über dem Gaskocher rösteten. Abenteuer und Bergromantik pur. Wir stießen auf einen Bergbauern, der mit seinen und wie seine Schweine hauste. Wir zelteten wild und machten kein Auge zu, weil uns ständig unbekannte Geräusche aufschrecken ließen und es selbst Horst, von dem ich das nicht kannte, unheimlich wurde. Nach drei Tagen kamen wir an einem Steinbruch vorbei und fragten einen LKW-Fahrer, der gerade Steine abholte, ob er uns mitnehme. Die Fahrt in einem sehr alten Lastwagen steil den Schotterberg immer knapp an Abhängen entlang war bedrohlich. Der Fahrer musste wild mit den Bremsen pumpen, damit sie ihm den Dienst nicht versagten. Ich weiß nicht, ob ich mich deswegen in den Stürmen auf dem Meer nie so fürchtete, ich fühlte mich sicherer auf dem Wasser.
Zurück auf dem Schiff hieß es für die dreiwöchige Überfahrt: Abschied nehmen. Heiko war auf Gran Canaria zu uns gestoßen und gemeinsam machten wir das Schiff startklar. Nach etwa 5 Tagen auf dem Wasser, ich kämpfte wieder mit meiner lästigen Übelkeit, beutelte uns ein Sturm mit einer riesigen Sandwolke aus der Sahara, die das Schiff in eine dicke rote Sandschicht kleidete. Sand am Strand ist schön. Sand an Bord ist nicht schön. Denn er ist in jeder Ritze, ob am Schiff oder am Menschen. Ich schüttelte und kehrte und schüttelte und kehrte und schüttelte und kehrte. Es nahm kein Ende und ich sah ein, dass ein Schiff in den seltensten Fällen sandfrei ist.
Weil unser Schiff keine Selbststeueranlage besaß, hätten wir in Schichten ununterbrochen am Ruder sitzen müssen. Eine kräftezehrende Angelegenheit. Doch Horst war ein findiger Fuchs und ich bewunderte ihn zutiefst, wenn er mit einfachem handwerklichem Geschick und klugen Überlegungen ein beeindruckendes Resultat erreichte. Er hatte nicht nur – wie jeder andere Segler bei einer Atlantiküberquerung es täte, bei Passat-Winden von hinten – eine Schmetterlingsbesegelung installiert, sondern diese clever mit der Pinne verbunden, so dass wir das Schiff eine Zeitlang sich selbst überlassen konnten. Damit hatten wir drei nahezu fremde Menschkinder allein auf dem Meer wie ein Päckchen zusammengeschnürt auf engstem Raum nicht nur mehr Zeit zum Schlafen, sondern auch zum Langweilen. Heiko las, über den Kassettenrekorder liefen die Dire Straits, Pink Floyd, Peter Gabriel, Keith Jarrett, ich strickte, kochte einfältige Gerichte und Horst puzzelte am Schiff. Das liest sich alles nicht so prickelnd, doch das »Auf-sich-selbst-gestellt-Sein« mit minimaler Ausstattung inmitten der Natur mit dem Ziel vor Augen – in diesem Fall in der warmen Karibik anzukommen – verleiht einem Kraft und Lebendigkeit. Man fühlt sich frei und ungebunden, obwohl man das nicht ist. Man wartet und reagiert. Wie sind die meteorologischen Verhältnisse, wie verhält sich das Schiff, die Technik, was wird von mir gefordert, wie passe ich mich an, welche Möglichkeiten habe ich, wie verhalte ich mich, wenn ich in die Enge, ins Überleben, getrieben werde. Dafür war man selbst verantwortlich.
Auf der Reise begleitete mich oft ein Bild, das sich vor dem Auslaufen aus dem Hafen in meine Erinnerung einbrannte, als wir eine deutsche Familie kennengelernt, die ebenfalls den Atlantik überqueren wollte. Eine dicke Mutti mit drei Kindern zwischen sechs und vierzehn Jahren und einem verrückten Vater, der keine Ahnung vom Segeln hatte. Man sah, dass er diese Reise für seine Familie und vor allem für seine Frau eine schreckliche Zumutung war. Sie hielt sich nicht an Deck auf, hatte Angst über den Steg zu gehen und bewegte sich wie ein Fremdkörper auf dem Schiff. Er konnte zwar segeln, hatte habe überhaupt keine Ahnung von Navigation. Horst versuchte noch einen Abend lang, ihm die wichtigsten Informationen über Längen- und Breitengrad und wie man mit der Sonne und Sextant einen Standardort bekommt zu erklären. Wir hatten große Sorge um die Familie. Wir waren heilfroh, als wir ihnen drei Wochen nach unserer Ankunft begegneten und sahen, dass sie dieses Abenteuer überlebt hatten.
Zurück zu uns. Wir hatten ebenfalls Hochs und Tiefs. Nach sechs Tagen auf hoher See kugelte sich Horst während eines Sturms beim Reffen des Großsegels den Arm aus. Er litt unter enormen Schmerzen. Nicht nur das war ein Problem, denn Horst war auch der Einzige, der wirklich etwas vom Segeln und Navigation verstand und sein Schiff in- und auswendig kannte. Jetzt kam uns zugute, dass Heiko Augenarzt war. Zu zweit versuchten Heiko und ich den Arm von Horst wieder einzurenken. Im Salon unter Deck wurde der Tisch abgenommen und Horst mit der Achsel hinter das Tischbein geklemmt. Heiko gab mir die Anweisung fest am Arm zu ziehen während er versuchte ihn reinzudrehen. Das war eine leidvolle Prozedur, da Horst den Arm reflexartig anspannte, so dass der Weg zurück ins Gelenk erschwert wurde. Nach zwei Stunden Ziehen und Drehen mussten wir erstmal aufgeben. Horst war trotz der Gesichtsbräune inzwischen ganz weiß im Gesicht und Heiko hatte die Befürchtung, dass er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen könnte. Nach ein paar Stunden wurden die Schmerzen für Horst jedoch unerträglich. Heiko hatte Gott sei Dank etwas Morphium dabei, und damit schafften wir es irgendwann doch, den Arm wieder einzurenken.
Während der ersten Zeit auf dem Atlantik Richtung Süden war es noch kalt und sehr unruhig auf dem Boot, wir mussten die Teller während der Mahlzeiten festhalten und konnten bei den hohen Wellen nicht ins Wasser gehen. Als wir endlich die südlicheren Breiten erreichten, es wärmer und ruhiger wurde, entspannte sich die ganze Atmosphäre an Bord. Wir gingen hin- und wieder ins Wasser, auch wenn wir zu unserer Sicherheit immer an einem Seil angebunden waren. Nicht zuletzt Heiko erinnerte uns immer wieder an die Erzählung aus dem Buch Yachtunfälle von Joachim Schult, in dem er die traurige Geschichte von sechs Seglern erzählt, die bei einer Flaute ins Meer sprangen und alle ertranken, weil die Bordwand des Schiffes zu hoch war und sie nicht mehr an Bord kamen. Zu guter Letzt wurde auch noch das Wasser schlecht, es schmeckte zumindest ganz furchtbar, so dass wir es einfach zum Duschen verwendeten, ohne groß nachzudenken, wie es denn weitergeht. Jetzt hatten wir kein Wasser mehr zum Drinken. Nach ein paar Tagen leckten wir den Tau vom Segel, hofften auf Regen. Sobald Wolken aufstiegen, stellten wir unseren gesamten Vorrat an Töpfen und Schüsseln auf das Vordeck, um Wasser zu sammeln, dann holte Horst noch eine alte Anlage aus dem Vorschiff raus, ein schwarzer Ballon, mit dem man Wasser destillieren konnte. Diese schaffte nicht mal einen halben Liter am Tag. Der Durst wurde immer quälender, irgendjemand kam auf die blöde Idee, den Erbsensud aus den Dosen zu trinken, woraufhin ich noch mehr Durst bekam und ich die Tage zählte, bis wir ankamen.
Nach 21 Tagen war Barbados in Sicht. Für das Einklarieren mussten wir in den Hafen von Bridgetown fahren. Horst wollte den Motor, den wir drei Wochen lang nicht gebraucht hatten, starten. Der ließ uns im Stich, so dass wir in den Hafen reinsegeln mussten und prompt mit dem Bug die Piermauer rammten. Trotzdem war es eine seglerische Glanzleistung, denn nur unter Segel das Schiff präzise in einen engen Hafen zu lenken, ist nahezu unmöglich. Wir meldeten uns pflichtbewusst bei der Einwanderungsbehörde und beim Zoll und wurden in Barbados einklariert. Endlich geschafft! Wir waren so stolz! Heiko trank ein kaltes Bier, wir tranken eine eiskalte Cola. Bis zu diesem Tage mochte ich eigentlich keine Coca Cola, aber jetzt war es das beste Getränk auf der Welt. Danach zog Heiko an Land in ein Hotel und wir gingen zur Marina, wo Post unserer Mütter wartete. Horst‘s Mutter Renate war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Sie war der Meinung, dass wir viel schneller hätten segeln und ankommen müssen. Sie hatte uns schon über Funk suchen lassen, was nutzlos gewesen war. Heiko verabschiedete sich relativ bald und flog nach Deutschland zurück.