Читать книгу M.E.L. "hoch und runter" - Marion Lehmann - Страница 8
ОглавлениеReutlinger Kindheitsjahre
Laut einer – von vielen – Legenden ist Nikolaus der Patron der Seefahrer. In Seenot geratene Schiffsleute riefen um Hilfe und prompt erschien ein Mann, der die Navigation übernahm, das Segel einholte und sogar den Sturm zum Abflauen veranlasste. Solche Rettungsaktionen wären heute nach menschlichem Ermessen kein Problem mehr, damals gingen die Seeleute davon aus, dieser Mann sei mit Wunderkräften ausgestattet, denn so schnell, wie er kam und wirkte, verschwand er auch wieder. Als die Seeleute in der Kirche von Myra zum Dank für die Rettung beteten, erkannten sie den Heiligen als ihren Retter und ernannten ihn daraufhin zu ihrem Schutzheiligen. Das kopierten einige Legenden, so dass Nikolaus für viele Menschengruppen der Schutzheilige wurde, so auch der Schutzpatronat für die Kinder, woraus sich das heutige Brauchtum ableitet. Das war mir natürlich alles mit knappen drei Jahren nicht bewusst. Ich sah nur den riesigen, roten Mann mit Rauschebart, in dessen Gefolge sich ein dunkler Geselle befand. Sie standen in unserer Wohnküche. Wohnküche deshalb, weil wir grundsätzlich in unseren Wohnungen, der Anzahl der Mitbewohner nach, nur wenig Platz hatten und Dinge, Orte, Menschen zusammenfassen mussten. Diesem riesigen Mann konnte man nicht aus dem Weg gehen, geschweige denn sich verstecken. Während er bis zur Decke wuchs und mit seiner rotgewandeten Gestalt und tiefen Stimme den Raum einnahm, krallte ich mich auf dem Arm meiner Mutter fest. Ein kleines Glühwürmchen, das stillsitzen musste, um nicht gesehen zu werden, aber nicht konnte, weil es das Geschehen mit pochendem Herzen aus großen Augen verfolgte. Mich beschlich das Gefühl, dass die Eltern mit den beiden Gestalten unter einer Decke steckten, denn sie waren guter Dinge und bestätigten beflissen die Worte vom Nikolaus, während Knecht Ruprecht unheilvoll die Rute schüttelte. Meine beiden Tanten, Lotte und Anne, die zu diesem Zeitpunkt selber erst zehn und sieben Jahre alt waren, schlotterten vor Angst. Da sie meine Vorbilder waren, schlotterte ich ergeben mit. Es ist ja im Prinzip nie etwas passiert, aber die Bedrohlichkeit der Situation hat sich bei mir tief verankert.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle etwas zu Lotte und Anne sagen. Meine erste Erinnerung an meine Kindheit, die fest mit Nikolaus verknüpft ist, spielte sich in unserer ersten Wohnung ab, an die ich selber keine Erinnerung mehr habe. Dort wohnten meine Mutter Margrit mit Oma Frida und deren Nachzüglern Lotte, Manne und Anne. Meine Mutter war die Älteste und in kurzen Abständen wurden Ruth, Doris und Rose vor bzw. während der Kriegsjahre zur Welt gebracht. Lotte, ihr Bruder Manne und Anne kamen knapp zehn J ahre später nach dem Krieg zur Welt. Da meine Mutter mich mit neunzehn Jahren bekam, war der Altersunterschied von mir zu ihren jüngeren Geschwistern, meinen Tanten und meinem Onkel nicht groß. Sehr zu meiner Freude. Von Anfang an rückten wir nah zusammen. Das hieß, dass mein Onkel Manne bei seiner Mutter im Bett schlief und wir drei Mädels uns mit meiner Mutter eine Schlafstatt teilten. Das war gemütlich, ich hatte ein wunderbares Nest warmer Körper, die mich hielten, umschlossen, mir ihren Atem ins Ohr pusteten und mich in meine Träume begleiteten. So war das dann auch in der zweiten Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Wolframstraße. Wir teilten uns drei Zimmer mit Toilette. Ohne Bad. Eine Wohnung ohne Bad war herrlich. Keine Hygienehysterie mit täglichen Duschzeremonien. Am Samstag wurde der Waschzuber in der Küche aufgestellt, das Wasser auf dem Holzkohleherd in einem Aluminiumtopf erwärmt und alle Gören durch die Lauge gezogen. Meine Mutter übernahm das Baden, während Oma Frida nebenher Kuchen buk, schließlich war der Ofen heiß und der Sonntag nahte. Es wurde wechselweise Marmor- oder Apfelkuchen ins Rohr geschoben. Wir plantschten im Zuber und forderten wie kleine Seerobben Naschereien ein. Wenn Mama und Oma sich wuschen, staubten sie uns aus der Küche, wir Kinder durften bei den Erwachsenenritualen nicht mit dabei sein. Im Großen und Ganzen war das eine Zweckgemeinschaft, in der jeder seine Fluchten hatte. Die meiner Mutter waren ihre Tanzveranstaltungen, die sie oft und leidenschaftlich besuchte. Sobald wir im Bett waren, ging meine Mutter aus. Natürlich auch, um einen Mann kennen zu lernen. Oma Frida schimpfte vor sich hin, konnte es aber nicht verhindern. Für sie lauerte die größte Gefahr bei den Männern, von denen sie nicht viel hielt, denn sie machten einem nur Kinder. Das war ihre Sicht der Dinge, kein Wunder, wo sie doch in all den Kriegsjahren die Kinderbrut allein durchzubringen hatte. Leider hatte sie sich davon nie erholt, ihre Kräfte waren bei den Enkelkindern erschöpft. Sie hatte einfach keine Nerven mehr, was man zu spüren bekam. Einzig und allein ich konnte ihr Herz zum Flattern bringen. Manchmal fuhren wir mit dem Bus in die Stadt zum Kaufhaus Merkur, das heute eine Galeria Kaufhof ist. Es hatte seine eigene Kriegsgeschichte, die mich natürlich nicht interessierte. Durch die Übernahme von Helmut Horten in den 60er Jahren trug die Fassade die typischen »Hortenkacheln«, auch Waben genannt. Für mich war es ein schillernder Palast, der mit allerlei Schätzen lockte. Ich durfte nichts anfassen und dennoch wurde jeder Gegenstand, den mein Auge auffing, von ihm gierig abgetastet. Es waren besondere Momente, meine kleine Hand fest in Oma Fridas verankert, in denen ich mit ihr dorthin ging. Dort bin ich zum ersten Mal mit der Rolltreppe gefahren, die uns ins oberste Stockwerk brachte. Oma traute diesem rollenden Ungeheuer nicht, sie wankte und schwankte und klammerte sich an dem Handlauf fest. So fand auch ich kein Vertrauen und fuhr mit pochender Brust auf dem Rücken dieser silbernen Schlange in schwindelerregende Höhe, mit starrem Blick auf den Schlund am Gipfel, der mich mit der letzten Stufe einzusaugen drohte. Und jedes Mal kamen wir davon, bis heute, obwohl ich ihr – der Rolltreppe – immer noch nicht traue. Oben angekommen tauchten wir in einen riesigen Rummel aus Menschen und Geschnatter ein. Wir mussten uns durch lange Tischreihen zwängen, ein enger Gang aus Rücken in Tweet und Flanell. Oma traf dort regelmäßig, ohne feste Vereinbarung, Freundinnen und Nachbarinnen, und es dauerte mitunter, bis wir einen Platz ergattert hatten. Still wartete ich ab, bis meine heiße Schokolade kam. Ich schlürfte das süße, heiße Zeug, das mir die Zunge verbrannte, und ich schleckte gierig die kalte Sahne nach, die beharrlich fest oben aufschwamm. So war mein Bedürfnis nach Bewegung und Raum gesättigt, und wir hielten es gut aus, den Moment zu genießen. Während Mutter zur Arbeit und Lotte, Anne und Manne in der Schule waren.
Lotte, Manne und Anne nahmen mich überall mit hin. Das war gar nicht zwingend ihr Auftrag, sondern ergab sich aus einem natürlichen Verbundsystem, das durch alle Teile gehalten wurde. Wir trappelten von einem Raum in den nächsten, wir trappelten vom oberen Stockwerk unserer Wohnung durchs Treppenhaus, runter und wieder hoch. Die meiste Zeit wuchsen wir auf der Straße auf. Spielten Murmel und Ballspiele mit den Kindern aus der Nachbarschaft, klauten Erdbeeren in den Gärten der Nachbarn, in deren Reihenhäuschen wir leider nicht wohnen konnten und schüttelten mit rotverschmierten Mündern den Kopf, wenn wir nach unserem Diebesgut gefragt wurden, oder rannten vor Aufregung jauchzend unseren Verfolgern davon. Für uns war diese Freiheit selbstverständlich. Wir waren vogelwild, unserer Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Ich fühlte mich beständig beschützt, es gab keine Straßengesetze, ich lernte in der Beobachtung Mensch und Natur einzuschätzen, mich entsprechend anzupassen, durchzusetzen, zu beschäftigen. Mit Manne verbrachte ich Nachmittage in der Spedition Hasenauer, die damals sowohl mit Pferden als auch mit Lastwägen arbeitete. Manne half dabei, die Ställe auszumisten, und ich stand als kleiner Knopf dabei und schaute zu, wie die riesigen Kaltblüter in stoischer Ruhe ihre Arbeit verrichteten. Wir waren einfach immer viele. Ob im Hort oder zuhause – es gab wenige Momente, in denen ich in dieser Zeit allein war. Das änderte sich, als mein künftiger Stiefvater Georg in unser Leben trat. Ich war erst zwei Jahre alt und bekam relativ wenig von Mamas Errungenschaft mit. Erst nach weiteren zwei Jahren heirateten sie und wir zogen in die Mittnachstraße. Zu dritt. In eine kleine Zweizimmerwohnung, in der es natürlich kein Kinderzimmer gab und ich im Bett meiner Mutter und meines Stiefvaters zu schlafen hatte. Ich war nicht direkt unglücklich über die neue Situation, aber dort erlebte ich, was ich war: ein Einzelkind. Da ich das nicht gewohnt war, suchte ich mir relativ schnell ein Ersatznest. Meine Freundin Gabriela aus der Nachbarschaft, mit ihren fünf Geschwistern. Ich nistete mich ein, fiel auch nicht sonderlich auf, und fand es toll. Und erlaubte mir trotzdem, die Geschwister zu nerven, die im Kanon die Augen verdrehten, wenn ich »Sag nichts über Pollock« rief. Das Signal für ein Spiel, das ich liebte. Ein Satz von Gabi, als ich sie nachmittags zum Spielen abholen wollte, hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Auf meine Frage, ob wir spielen gehen, antwortete sie mir »ich muss noch Hausaufgaben machen, und du weißt doch – zuerst die Arbeit dann das Spiel«.
Eine wohlige Erinnerung an Anne, Manne und Lotte. Denn mit ihnen war ich gewohnt, verregnete Sonntagvormittage über einem Spielbrett zu verbringen, wahlweise Mensch ärgere Dich nicht oder Elfer raus.
In dieser Zeit gab es versunkene Momente, als ich mich in liebevoller Fürsorge meiner Puppe widmete. Ich wurde mit fünf Jahren an Heiligabend zur Puppenmama und liebte meinen kleinen Schatz heiß und innig. Ich verbrachte Stunden damit, die Kleidchen von ihrem Leib runter zu fummeln. Zum Glück verfügte Püppi – einen Namen habe ich ihr nie gegeben – über ein ausgesprochenes Akrobatiktalent, denn sie konnte sich in alle engen Teile, die kein Elastan besaßen und sich drei Nummern größer stretchen ließen, wieder reinzwängen lassen. Klaglos. Es grenzt an ein Wunder, dass sie sich an anderer Stelle durchaus mal etwas brach und ich mit Toilettenpapier Verbände legen musste. Ich beruhigte, ich erzählte, ich schimpfte, ich tröstete. Am meisten mich selber, wenn sie abends in meinen Armen lag und wir gemeinsam die Abenteuer des Tages in die Nacht mitnahmen.
In all diesen Jahren kannte ich bereits Bibi, meine Herzensfreundin. Da ich bereits im zarten Alter von sechs Wochen in einen Hort gebracht wurde, waren die dort geschlossenen Freundschaften tief verwurzelte Bänder. Als wir in die Grundschule kamen, wohnte ich ja schon nicht mehr bei Lotte, Manne und Anne, die ihrer Wege gingen. Also schlüpfte ich in ein anderes Verbundsystem. Hier war ich nicht die kleine Nichte, hier war ich die Freundin. Bibi war von uns beiden die antreibende Kraft, ein aufgewecktes, lebendiges Kind mit braunen, langen Haaren, die in der Regel zu Zöpfen geflochten waren. Wie sehr beneidete ich sie darum, denn selber waren mir lange Haare nicht vergönnt. Meine Mutter wehrte mein Bitten und Flehen mit der Begründung ab, meine Haare seien zu dünn, was mir als junges Mädchen partout nicht einleuchtete. Besser dünn und lang als kurz und strubblig. Ich liebte zwar das Abenteuer, doch verglich ich mich nie mit Jungen. Ich war stolz, ein Mädchen zu sein und wollte keinen Jungenhaarschnitt, sondern weiches langes geschmeidiges Haar. Widerwillig begnügte ich mich damals darauf zu warten, bis ich erwachsen werden würde. Von da ab entschied ich selbst, wann mein Haar praktischerweise kurz und wann es lang sein sollte. Zurück zu Bibi. Bibi hatte nicht nur längeres Haar, sie war auch besser in der Schule und musste nie lernen. Sie hatte nur Flausen im Kopf und dennoch blieb das Wissen, dass sie aus der Schule mit nach Hause brachte, bei ihr hängen. Sie kam aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen wie ich, wir waren beide früh im Hort, doch ihre Eltern hatten das Potential ihrer Tochter nicht erkannt und sich wenig um das Mädel gekümmert. Da wir uns gegenseitig nie besuchten war unsere gemeinsame Zeit im Hort oder Schule beschränkt. Das zog mit sich, dass wir sie entsprechend sinnvoll nutzen mussten. Und sinnvoll erschien es uns keineswegs, in die Schule zu gehen. Wir kamen grundsätzlich zu spät. Wenn wir nicht sogar den ganzen Vormittag schwänzten. Wenn wir dummerweise auf dem Schulweg irgendetwas Tolles entdeckten und abgelenkt waren, konnte es passieren, dass die Sanduhr etwas schneller lief und »es sich nicht mehr lohnte«, in die Schule zu gehen. Mit welcher Ausrede auch? Also fingierten wir Entschuldigungsschreiben, die leider aufflogen. Wir wurden einzeln zur Rektorin vorgeladen. Als Bibi aus dem Zimmer der Rektorin kam vor dem ich wartete, wollte ich mich mit ihr absprechen, kassierte jedoch eine kräftige Ohrfeige dafür. Bibi war mir das wert, aber bescheuert fand ich es trotzdem. Mit Bibi erlebte ich meine glücklichsten Momente in der Kindheit. Ihr fiel einfach immer wieder herrlicher Blödsinn ein und ich war eine gnädige Mitläuferin. Eines Tages gingen wir durch die Straßen und erbettelten von den Leuten Groschen, indem wir behaupteten, dass wir unser Busgeld verloren hätten. Ich weiß nicht, was in den Köpfen der Leute vor sich ging. Es war so offensichtlich gelogen zu sagen, dass wir beide unser Busgeld verloren hätten. Aber es funktionierte. Entweder, weil wir Mitleid erregten, oder weil man zwei Mädchen etwas so Unverfrorenes nicht zutraute – ich weiß es nicht. Die Groschen, die wir einhamsterten, wanderten auf direktem Weg in die roten Automaten, die bevorzugt an Stellen, an denen Kinder gerne vorbeikamen – wie Kinderspielplätze, Gast-schenken, Dorfläden, auf Augenhöhe an Zäunen oder Häuserecken –, hingen. Durch ein kleines, meist schon schmuddeliges Fenster leuchteten die bunten großen Bollen verheißungsvoll. Wir pfriemelten die 10-Pfennig-Stücke in den Schlitz, dreimal mussten wir den schwarzen Hebel umdrehen und schon schoss eine Kugel durch den Gang und klackte an das silberne Metallplättchen oder direkt in unsere Hände, wenn wir es nicht erwarten konnten und das Plättchen nach oben hielten. Ich liebte die Roten, aber es war natürlich Glückssache, welche Farbe man bekam. Die Kaugummis konnten wir kaum im Mund halten, was uns aber nicht davon abhielt, es auch mal mit zwei oder dreien zu probieren. Am Anfang schmolz die bunte Glasur im Mund, dann kaute man den süßen Glibber, bis man endlich Riesenblasen machen konnte, die wir uns gegenseitig kaputthauten, und sie blieben natürlich in Haaren, Wimpern und Augenbrauen hängen. Wir lachten uns scheckig, bis auch mal was in die Hose ging.
Apropos Busfahren. Das muss ich schnell erzählen. Mama arbeitete ja. Und ich war im Hort unter-gebracht. Meine Mutter hatte nie einen Führerschein, das bedeutete, sich auf ein Leben mit öffentlichen Verkehrsmitteln einzustellen. Möglichst früh. Im Sommer fuhren wir also mit dem Fahrrad. Dabei wurde ich in einen Kindersitz auf dem Gepäckträger geschnallt. Einmal bekam ich meinen Fuß in die Speichen, was fürchterlich weh tat. Nach dem Motto »Wir müssen jetzt schauen, dass wir nach Hause kommen« fuhr meine Mutter weiter und ich flennte vor mich hin. Manchmal gab es Ausnahmen. Freitags. Da konnte es sein, dass Mama mit mir zum Einkaufen fuhr und ich eines der heiß geliebten Pixie Bücher abstaubte, die mir Papa abends vorlas. Dass Papa mir vorlas war schön.
Wenn es regnete oder winterliche Temperaturen einzogen, fuhren wir mit dem Bus. Mama und ich mit einer Linie zusammen bis zum Busbahnhof, dann musste ich wechseln und fuhr alleine weiter bis zum Hort. Da war ich fünf Jahr alt. Ich kannte alle Busfahrer. Da ich die meisten von ihnen mochte, setzte ich mich erst gar nicht in eine Sitzreihe, sondern blieb rechts von ihnen stehen, balancierte geschickt mein Gewicht im Stadtverkehr aus und schwadronierte sie voll. Eigentlich hätte ich das Steuer übernehmen können.