Читать книгу M.E.L. "hoch und runter" - Marion Lehmann - Страница 18
ОглавлениеKaribische Träume
Wir schwebten in einer bunten Kaugummiblase aus wohliger Wärme, weichem Wasser, seichtem Dahingleiten in einem unendlichen, bizarr wohlgefälligen bedingungslosen Raum. Wir schlossen mit einigen Leuten von anderen Schiffen noch Freundschaften um mit ihnen gemeinsam in die Inseln wie Martinique, San Lucia, San Vincent, um nur einige zu nennen, einzutauchen. Einmal war da das Pärchen, das uns zum Poppy-Schlampi-Essen einlud, wie sich herausstellte, Kartoffelbrei. Die zwei waren ganz lustig. Kurz nach unserer Ankunft in Barbados wurde eines Morgens ein kleines sechs Meter langes Bötchen an uns vorbeigeschleppt. Der Motor ganz offensichtlich defekt und dann auch noch ein abgeknickter Mast. Wir vermuteten, dass es ein lokales Segelboot war. Ein paar Tage später kam der Besitzer, Heinz, ein Österreicher, zu uns an Bord und erzählte uns seine traurige Geschichte. Dass er mit seiner Freundin zusammen das Schiff in Südafrika gekauft hatte, um in die Karibik zu segeln. Bei einem Zwischenstopp in Brasilien ist die Frau dann unglücklich gestürzt und musste zurück nach Europa. Dann ist ihm auf dem Weg von Brasilien in die Karibik der Mast kurz oberhalb der Saling abgebrochen, dass er nur noch mit einer sehr kleinen Besegelung bis Barbados weitersegeln konnte. Weil das Boot nun sehr langsam war, ging ihm unterwegs das Essen aus und das Wasser wurde knapp. In Barbados angekommen, war ihm dann auch noch der Motor verreckt, dass er sich nicht getraute in die Bucht einzufahren und draußen auf See ankerte. An sich kein Problem, aber als die Ankerkette ausrauschte, war sie am anderen Ende nicht festgemacht und der Anker mitsamt der Kette verschwand auf fünfzehn Meter Tiefe. Das Boot wurde dann von einem Fischer in das Innere der Bucht geschleppt, um es am Ufer festmachen zu können. Wie er gerade bei uns im Cockpit sitzt und uns seine traurige Geschichte erzählt, kommen unsere Poppy-Schlampi-Freunde mit dem Dinghy vorbeigerudert. Sie wollten nicht an Bord kommen und riefen nur rüber: »Heinz, die Symptome deiner Hautprobleme haben wir in unserem Gesundheitsratgeber nachgelesen. Es könnte möglich sein, dass es sich um eine ansteckende Krankheit handelt.« Sofort rückten Horst und ich etwas zur Seite, wir wollten nicht angesteckt werden. Aber Heinz war, obwohl er so ein Chaot war, okay. Er verkaufte das restliche Boot für ein paar Pampelmusen und Fische an einen lokalen Fischer und zog auf ein tschechisches Segelboot. Drei junge Männer aus der noch damaligen Tschecheslowakei, zwei Brüder und ein Freund. Sie hatten das Boot selbst gebaut. alle Metallbeschläge selbst hergestellt und auch sonst alle anderen Materialien irgendwie mit viel Phantasie zusammengesammelt. Als das Boot dann endlich fertig war, mussten sie beantragen, für kurze Zeit mit dem Boot aufs Meer fahren zu können, um es zu testen. Zu der Zeit gab es noch den Eisernen Vorhang. Es wurde ihnen bescheinigt, dass das nicht in Ordnung sei, aber für ein paar Tage wurde ihnen genehmigt, mit dem Boot loszufahren. Sie nutzten die Gelegenheit, um weiter wegzufahren. Aber sie wollten die Verbindung zur Heimat nicht ganz abbrechen. So schrieben sie an Vorgesetzte und Behörden, dass Wind und Wetter sie immer weiter aufs Meer hinausgetragen hätten und es für sie aus navigatorischen Gründen unmöglich gewesen sei, umzukehren. Aber sie würden auf alle Fälle, sobald es möglich wäre, heimkehren. Das schrieben sie beim Verlassen der Adria, das schrieben sie wieder beim Verlassen des Mittelmeers und das schrieben sie bei der Ankunft in der Karibik. Einer von dreien verließ nie das Schiff, lag nur im Vorschiff, um hin und wieder zum Luk mit dem Fernglas hinauszuschauen, Heinz nannte ihn den Observer. Er hatte schreckliches Heimweh und wollte unbedingt wieder nach Hause. Der zweite hatte eine nette amerikanische Frau kennengelernt, die mit ihren Eltern auf einem schicken Segelboot unterwegs war. Der Vater, ein Professor für Psychologie, wollte für die drei die Greencard für die USA besorgen, damit seine Tochter mit ihm zusammenbleiben konnte. Aber auch er wollte wieder zurück. Der dritte war mit der Situation, wie sie war, ganz zufrieden, sehr geistreich und unterhaltend. Heinz lud uns einmal auf das Schiff der drei zum Kaffeetrinken ein, aber sämtliche Lebensmittel, die sie an Bord hatten, waren verdorben oder mit Maden versetzt. Danach beschränkten wir uns darauf, uns mit ihnen an Land zu treffen. Schade, dass es damals noch kein Internet und Facebook und Co. gab. Es wäre interessant gewesen, den Lebensweg dieser vier Menschen verfolgen zu können.
Im Januar kam Renate, die Mutter von Horst, mit ihrer Freundin Anneliese für vier Wochen zu Besuch nach San Lucia. Ich habe die Platzverhältnisse auf der Cachalot bereits beschrieben. Ich kannte bis dato weder Renate – meine Schwiegermutter in spe – noch Anneliese. Zu viert mit zwei Frauen, die Nichtsegler und zur Spezies Mutter gehören, ist riskant, was sich bestätigte. Ich möchte ihnen nichts nachsagen, dennoch empfand ich diese Wochen als Psychoterror. Man konnte nichts recht machen. Renate reagierte mit Beleidigungen in Richtung ihrer Freundin und diese konterte mit Angst. Sie hatte Angst vor dem Schiff, vor dem Wasser, vor dem Wind – schlichtweg vor allem. Wie kommt man bloß auf die Idee, Urlaub auf einem kleinen Schiff zu machen? Trotz alledem segelten wir nach Grenada. Horst und ich flohen abends zu Katja und Jörg auf ihr liebevoll hergerichtetes Holzschiff, auf dem sie uns stundenweise mitleidig Zuflucht gewährten und wir uns weinselig ausweinten. Wir hatten die beiden auf San Lucia kennen gelernt und wir waren uns sehr sympathisch. Was für ein Segen, dass es nur einen Steg oder einen Sprung brauchte, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen.
Das ist keine »Böse-Schwiegermutter und Arme-Schwiegertochter-Geschichte«. Es gab schöne und auch lustige Momente und Erinnerungen. Eines Tages – wir ankerten in der Bucht von Bequia – wachten wir auf und stellten fest, dass unser Schiff quer durch die gesamte Bucht gewandert war. Das Wunder des nächtlichen Spaziergangs war, dass Cachalot keines der 100 anderen Schiffe angeditscht und Löcher in ihre Leiber gerissen hatte. Normalerweise prüft man den Anker, indem man mit dem Motor rückwärtsfährt, um ihn am Meeresgrund einzugraben. Wir dachten auch, das ordentlich gemacht zu haben. Ein Trugschluss. Nachdem es uns Wochen später ohne Renate und Anneliese auf Guadeloupe ein weiteres Mal passierte – wir waren gerade an Land gepaddelt und auf dem Weg einen Berg hochzuwandern, als wir mit Blick auf die Bucht unser Schiff davonschippern sahen, so dass wir eilig umkehrten und es wieder einfingen – gewöhnten wir uns an, eine halbe Stunde zu warten.
Ein paar Tage später ruderten wir drei Frauen mit dem Beiboot, einer kleinen kippligen Segeljolle, an Land. Beim Aussteigen muss man eine bestimmte Reihenfolge einhalten. Erst steigt die am Bug sitzende aus, dann die am Heck sitzende, am Schluss die in der Mitte sitzende. Klingt logisch. War ein erprobtes, souveränes Prinzip. Annelieses Adrenalinspiegel war bis zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Höchststand und trieb sie zum sofortigen Aussteigen, obwohl sie als am Heck sitzende erst an zweiter Stelle dran gewesen wäre. Zweite war sie deswegen, weil sie als Angsthase als Letzte eingestiegen war. Filmte man diese Szene, rief man beständig »Stopp! Warte! Alles gut! Geduld! So macht es keinen Sinn!«, schüttelte man ungläubig den Kopf und sah das Ende voraus. Im Boot sieht man das Ende auch voraus, kann aber weder beruhigend einwirken noch das Wanken des Bootes ausgleichen. Auf der Kirmes schwingt die Schiffsschaukel hoch und runter, bei uns auf dem Wasser in alle Richtungen, so dass wir schließlich konsequent über Bord gingen. Das Chaos nahm seinen Lauf. Renate mit Strohhut ging ohne ihn unter, tauchte erstaunlicherweise mit Hut wieder auf. Anneliese schrie wie am Spies, weil sie nicht schwimmen konnte. Irgendwie schafften wir es, uns am Steg festzuklammern, er war aber zu hoch, als dass man hätte raufklettern können. Die hysterischen Schreie von Anneliese lockte Männer vom Strand an, die mich sahen, was ihren Testosteron-Spiegel auf den Höchststand schoss und damit in einen automatisierten Rettungsmodus katapultierten. Es war nicht einfach, abzuwinken, um ihnen klarzumachen, dass sie nicht mich jungen Hüpfer retten durften, sondern die beiden Damen mit Hut, sich verzweifelt am Steg festkrallend. Es ging zum Glück alles gut. Den Sparziergang durch den Ort machten wir dann doch noch, trotz unserer nassen Kleidung.
Die nächste Einkaufsrunde bestritten Horst und ich, während wir auf St. Vincent in einer Bucht ankerten. Die Frauen wollten nach dem letzten Abenteuer nicht wieder mit an Land kommen. So ruderten Horst und ich allein an Land. Nachdem wir mit unserem Einkauf fertig waren, standen drei Jungs neben unserem Beiboot. »Hi Skipper, we watched your dinghy.« Von diesem Ausspruch waren wir inzwischen schon ein bisschen genervt. Überall, wo man das Boot festmachte, stand jemand da und wollte einen Dollar, um das Dinghy zu bewachen. Eigentlich machte man das Beiboot ja selbst sicher fest und brauchte keinen Bewacher. Horst gab ihnen dann auch zu verstehen, dass es keinen Grund gegeben hätte, das Boot bewachen zu müssen und dass es dieses Mal keinen Dollar geben würde. Da zog einer der Jungs ein Klappmesser raus und tänzelte mit aufgeklapptem Messer um uns herum. Nun wurde die Situation etwas brenzlig. Während wir mit ihnen weiter über Bezahlen oder Nicht-Bezahlen diskutierten, versuchten wir immer näher an unser Beiboot ranzukommen. Irgendwann gelang uns das, einer gab dem anderen dann ein Zeichen ins Boot zu springen und dann waren wir auch schon weg. Nochmals Glück gehabt. Als wir dann an Bord kamen, erzählten uns Renate und Anneliese, dass die drei bereits mit unserem Beiboot zu ihnen ans Schiff gekommen waren, um Geld zu verlangen. Wir lichteten sofort den Anker und suchten das Weite. Wieder waren die Frauen furchtbar geschockt. Ein paar Tage später erreichten wir wieder St. Lucia, wo die zwei Damen Abschied nahmen. Danach war die Cachalot ein paar Quadratmeter gewachsen.
Horst und ich segelten weiter durch die karibischen Inseln mit dem Ziel, Florida entlang der Dominikanischen Republik und den Bahamas zu segeln, und erlebten erstaunliche Geschichten, so dass es nie langweilig wurde. Irgendwann tauchten zwei große Frachtschiffe vor uns auf. Unsere Peilung sagte uns, dass wir es schaffen zwischen den zwei Frachtschiffen durchzufahren, sie waren weit auseinander. Doch plötzlich tauchte, als wir uns näherten, ein Seil zwischen den zwei Schiffen auf, es handelte sich um einen Schleppverband, der so nicht sofort zu erkennen gewesen war. Wir konnten gerade noch rechtzeitig abdrehen. Danach gerieten wir auf dem Weg in die Bahamas in einen Sturm. Wir hatten immer noch keine Selbststeueranlage und mussten selbst an der Pinne sitzen. Bei Eintritt der Dunkelheit stellten wir fest, dass jetzt auch noch das Kompasslicht defekt war. In der Nacht ohne Kompass einen bestimmten Kurs zu steuern ist nahezu unmöglich. Um den Kompass ablesen zu können, installierte Horst eine Petroleumlampe am Großbaum. Lieb gemeint, doch sie schlug wie die Affenschaukeln einer kleinen hüpfenden Dirn schwungvoll hin und her, was meine Magensäfte zum Mitmachen anregte, und mir entsetzlich übel, bis ich sie ausschaltete. Wir beschlossen, die Nacht über hoch am Wind zu segeln. In dieser Nacht habe ich gelernt, mich nur über mein Gehör und das Schlagen des Segels im Wind zu orientieren und zu steuern. In einer meiner Schichten kamen wir in die Nähe einer Untiefe mit Leuchtturm, und ich war sehr nervös, die Orientierung zu verlieren und eventuell die Untiefe zu dicht zu passieren. Irgendwann sah ich das Licht des Leuchtturms hinter mir, wir waren an der Untiefe vorbei. Das bezeichne ich heute als mein eigentliches Segeldiplom.
Zwei Tage dauerte der Sturm, wir konnten keine Position mehr mit unserem Sextanten nehmen, nur noch mitkoppeln. Am zweiten Tag, kurz vor Morgengrauen, war uns klar, dass wir uns in der Nähe der südlichen Bahama Inseln befanden. Wir entschieden uns, die Segel zu bergen und zu warten, bis es hell wurde, um weiter zu segeln. Während wir die Segel einpackten, entdeckte ich im Mondlicht schemenhaft ein paar Hügel aus dem Meer ragen. Mein erster Gedanke war, dass wir in einer Herde schlafender Wale geraten waren. Doch schnell mussten wir feststellen, dass wir bereits mitten in der Inselwelt der Bahamas waren. Welch glückliche Eingebung wir hatten, die Segel just in diesem Moment zu bergen.
Nacktbaden, wie Gott uns schuf, bleibt dem Paradies vorbehalten. In einem Nationalpark auf den Virgin Islands ist das Schnorcheln traumhaft. Man hat das Gefühl, dass man die Tier- und Pflanzenwelt durch eine Art Vergrößerungsglas betrachtet. Vor dem Auge entsteht ein Kaleidoskop an Formen, Farben und Bewegungen, das sich durch die Dynamik der eigenen Bewegungen in einem ständigen Wechsel befindet. Ich erlebte das Dahingleiten als friedvoll und nachbarschaftlich. Und ganz selbstverständlich nackt. Auf dem Schiff waren wir unter uns, im Wasser fühlten wir uns unter uns. Kein Mensch war in der Bucht und trotzdem tauchte plötzlich ein Ranger auf, der uns bat, uns anzuziehen.
Auf St. Barths schnorchelten wir nackt, unser Dinghy dabei hinterherschleppend, bis ein Fischerboot mit dem Dorfpolizisten im Boot angerudert kam. Wir mussten in unser Dinghy steigen und sie bestanden darauf, uns zu unserem Schiff zurück zu schleppen. Sie wollten sich sicher sein, dass wir zurück an Bord gehen. Das war absurd, denn beim Schnorcheln hätte man unter Wasser weniger nackte Haut gesehen als im Beiboot.
Nachdem wir jetzt also auf den Bahamas angekommen waren, gingen wir in der nächsten Bucht auf einer unbewohnten kleinen Insel gleich vor Anker, um uns erst mal von den Strapazen der letzten zwei Tage auszuruhen. Nach einem ausgiebigen Frühstück ruderten wir an Land und suchten am Strand nach leeren Muschelgehäusen. Für uns war die Nacktheit natürlich. Das hatte keinen ästhetischen oder revolutionären Aspekt, sondern war gedankenlos normal. In diesen realen Tagtraum platzte das Rotorengeräusch eines Hubschraubers, der wie eine dicke Hummel auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz durch die Luft donnerte. Es ist irreal, wenn man nackt, einsam und allein auf einer kleinen Insel an einem Strand ist, über sich einen lauten, windigen Helikopter stehen. Ich dachte mir noch, das kann doch nicht wahr sein, jetzt kommt die Coast Guard schon von Florida rübergeflogen, um uns mitzuteilen, dass man sich gefälligst etwas anziehen soll, wenn man an Land geht. Doch es stellte sich heraus, dass sie nach Drogendealern Ausschau hielten und sich dann noch netterweise erkundigten, ob bei uns alles in Ordnung sei.
Zu guter Letzt lernten wir auf einer Insel in der Nähe von Nassau einen schwarzen Einheimischen kennen, der sehr oft am Strand saß. Wenn wir vom Schiff an Land übersetzten, kamen wir mit ihm ins Gespräch, was sehr unterhaltsam und witzig war, so dass wir ihn aufs Schiff einluden. Sobald er das Deck betrat, zog er sich komplett aus. Er schäkerte mit mir, war aber nie übergriffig. Mir war das sehr unangenehm, ich fühlte mich auf meinem eigenen Fleck Zuhause nicht mehr frei. Was beklemmend war, war das Erkennen der eigenen Rechtsprechung, der eigenen Selbstherrlichkeit. Dass ich mich bislang nackt auf den Inseln bewegt hatte, wo es verboten war, wie also konnte ich von ihm das Befolgen von Regeln auf meinem Schiff erwarten? Es gibt Momente im Leben, die durchdrungen sind von Verstehen, in denen man mit der Schöpfung im Einklang ist. Auch wenn sie noch so klein und banal erscheinen. Ich wusste, dass so anziehend Nacktheit ist, der Mantel des Respekts, dass die Schöpfung uns nicht allein gehört, sie bedecken sollte.
Auf der Passage von den Bahamas nach Florida passierte, was uns lange schwelend begleitete. Zehn Meilen vor Fort Lauderdale lag Horst im Bett und kugelte sich wieder den Arm aus. Gleichzeitig fing aus unerklärlichen Gründen der Motor an zu brennen. Horst bat mich sofort nach unten in den Maschinenraum zu gehen. Mir war sofort klar, dass ich da nichts ausrichten konnte. Wir stritten, Horst vor Schmerzen, ich vor Überforderung, technisch nicht die richtige Entscheidung zu treffen. Zum Glück war ein Coast Guard Schiff in der Nähe, das uns in den Hafen schleppte. Im Nachhinein war das witzig, da wir durch diese Aktion ohne Zollkontrolle in die USA einreisten. Leider riefen sie gleich den Krankenwagen. Das war zwar ein aktives Hilfsangebot, für uns aber zum Nachteil, weil wir den Krankenwagen bezahlen mussten und er sehr viel teurer als ein Taxi war. Später stellte Horst fest, dass nicht der Motor gebrannt hatte, sondern ein Kabel. Man muss Glück im Unglück haben, um vor Schlimmerem verschont zu werden. Daran glaube ich fest.
Und nochmal ließ uns die Schulter von Horst im Stich. Auf den Bahamas beim Schnorcheln kugelte er sich den Arm wieder aus. Von einem Nachbarschiff funkten wir über UKW Hilfe an, bis uns um 22 Uhr ein Motorschnellboot, man nennt es wegen seiner schlanken langen Form »Zigarette«, holte. Er brachte uns zu einem Arzt, der selber zu diesem Zeitpunkt mit seinem Schiff Urlaub machte und über UKW verfügte, den Notruf hörte und bereit war, zur Krankenstation zu kommen. Er war der Arzt, der sich Horsts malträtierter rechten Seite am besten näherte. Er redete eine Zeitlang ruhig und gelassen mit Horst, bis er ihn überrumpelte und mit einem Ruck den Arm in seine Verankerung brachte. Mit dieser letzten Aktion war klar, dass wir zurückfliegen mussten, damit Horst die unausweichliche SchulterOperation vornehmen lassen konnte. Bis dahin blieben wir in der Marina River Bend in Fort Lauderdale, ich arbeitete mit meiner alten US Social Security Number in einer Zeitarbeitsfirma und Horst bastelte auf dem Schiff. In diesen Wochen lernten wir ein deutsches Paar auf dem Nachbarschiff kennen. Marion und Uwe kamen aus Herford. Uwe war zeitweise mit einer anderen Frau auf dem Boot, wenn Marion mal wieder ausgezogen war, weil sie sich gestritten hatten. Sie prügelten sich gerne, Marion hatte hin und wieder ein blaues Auge. Uwe war eigentlich ein netter, umgänglicher Kerl, aber Marion wusste, wo sie seine roten Knöpfe drücken konnte um ihn zur Weißglut zu bringen, und tat dies mit großer Lust. Viele Jahre später kauften sie sich ein Grundstück in Panama und bauten zwei Häuser, für jeden ein eigenes. Damit konnten sie ihrer Lust am Streit nachgehen und hatten eine ideale Möglichkeit, sich danach aus dem Weg zu gehen. Von Marion lernte ich, gewissen Dingen mit einer fast schon frivolen Lust an Provokation und Selbstvertrauen zu begegnen. So lief sie eines Tages durch die vielen Marinas in Fort Lauderdale und erzählte jedem Skipper »I´m the best varnisher in town!«, obwohl sie bislang nur einen Schulpinsel in den Händen gehalten hatte. Sie bekam gleich einen Auftrag, der ihr dann fürchterlich missraten war, dann noch einen, und noch einen, und machte es gar nicht mehr schlecht. Wenn jemand nicht zufrieden war, ließ sie den Frust dieser Person an einer Wachsschicht abperlen. Und dann kam sie eines Abends auf unser Schiff und fragte mich, ob ich einen Gary kennen würde. Ja, ich kannte mal einen Gary in San Francisco. Genau, den hatte sie heute in einer Marina getroffen. Er erzählte ihr, dass er mal mit einer Marion in San Francisco zusammengelebt hatte, und sie fanden raus, dass sie von der gleichen Person sprachen. Ich hatte das 3000 km entfernte San Francisco vor fünf Jahren verlassen, was für ein Zufall. Aber wir waren gerade dabei unsere Koffer für Deutschland zu packen, so dass es zu keinem Wiedersehen gekommen war. Wie sich später herausstellte, war das auch gut so.