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ОглавлениеTingeln durch die Südsee
Kann man sich ein ungeschickteres Datum als den Heiligabend für eine Reise aussuchen? Zumindest wenn man alleine ist? Wahrscheinlich nicht. Nachdem ich mir ein Flugticket gekauft hatte, das ein Jahre galt und auf die von mir gewählte Route Papeete-Fiji-Neuseeland-Australien-Philippinen-Pakistan-Frankfurt ausgelegt war, flog ich am 24.12.1978 nach Papeete auf Tahiti. Und heulte erst mal in die Hotelkissen. Weit und breit kein Tannenbaum, kein Schnee, keine Glöckchen, keine Menschen in dicken Daunenjacken, die gestresst die letzten Einkäufe erledigen. Nicht, dass ich das vermisst hätte, aber so hockte ich allein auf einer Insel und wusste nichts mit mir anzufangen. Natürlich schaute ich mir die Umgebung an, konnte mich aber nicht von dem Gefühl befreien, dass dort jeder jemanden hat, oder wusste wo er hingehört, nur ich nicht. Ich konnte dieses blöde Französisch nicht, kannte niemanden und hatte nichts zu tun. Es war ja nicht so, dass ich das nicht vorher gewusst hätte, aber das Wirkliche daran schockierte mich. Auf Moorea, einer kleinen Nachbarinsel, mietete ich mir ein kleines Häuschen. Der Traum von Idylle auf einer Insel im Pazifik – man sieht den Schriftsteller förmlich vor sich, wie er mit leerem Blick durch das Fenster aufs Meer blickt und Eingebungen folgt, die er aufs Blatt bringt. Ich bin keine Schriftstellerin, das Haus hatte keine Moskitonetze und meine nächtliche Begegnung mit den hiesigen Mosquitos und Sandfliegen verwandelte mich in eine albtraumhafte Version von Schweinchen Dick. Es war ein dermaßen brutaler Überfall, bei dem ich mich nicht wehren konnte. Diese Viecher fressen einen bei lebendigem Leib. Ich mutierte und wuchs zur doppelten Leibesgröße.
An einem Kiosk lernte ich ein amerikanisches Pärchen kennen, das nicht abgeschreckt war von meinem Anblick und mich spontan einlud auf ihrem Boot zu übernachten, auf dem eine Koje frei war. Ich nahm an, packte umgehend mein Hab und Gut, Hauptsache raus aus der blutsaugenden Hölle. Aus einer Nacht wurden zwei Wochen. Ein Himmelreich für sandfliegenfreie Träume. Die kleinen, fiesen Beißer hatte ich nicht mehr zu befürchten, wurde aber sehender und hörender Zeuge von entsetzlichen Streitgesprächen. Wie unangenehm es ist, wenn Menschen einen nötigen, ja nahezu missbrauchen, jemanden an ihrer Lust an der gegenseitigen Zerfleischung teilhaben zu lassen. Der Zufall trieb mich geradezu in ihre Hände und sie schlugen begierig zu. Als ich ihnen zu langweilig wurde, wechselten sie die Taktik. Ich wurde zum Stein des Anstoßes, bis der Vorwurf fiel, warum er mich Schlampe mit aufs Schiff genommen habe. Da packte ich meine Siebensachen und ging. Heute kann ich kaum glauben, dass das mein erstes Erlebnis auf einem Schiff war und ich trotzdem dem Ruf aufs Wasser gefolgt bin.
Ich fand ein Zimmer in einem Bedienstetenappartement vom Hotel Aimeo in der Opunohu Bay, in dem ich als Rezeptionistin arbeiten konnte. Meine Chefin war Anne H., eine Deutsche, die mit ihrem Mann Helmut und dem gemeinsamen Segelschiff nach langen Reisemonaten völlig abgebrannt dort gelandet waren. Ob sie völlig abgebrannt waren, wusste ich nicht, aber sie erzählten, nachdem sie lange unterwegs waren, mussten sie arbeiten, um wieder den Klingelbeutel zu füllen und dann weiterziehen zu können. Letztendlich waren sie schon sechs Jahre auf der Insel. Was ich damals noch nicht wusste: Dass mir diese Art des Segler-Lebens mit dem Wechsel der Gezeiten von finanzieller Flut und Ebbe, dem Reisen auf dem Meer und dem Arbeiten an Land bald sehr vertraut sein würde.
Die Arbeit im Hotel machte Spaß. Alle zwei Wochen kamen Charterflüge aus Kanada mit frischen Touristen. Frisch für uns, auch wenn sie sich zu Beginn des Urlaubs nicht frisch fühlten. Es wurde nie langweilig. Ständig neue Menschen, ab und zu nette und unterhaltsame Kontakte, die meist oberflächlich waren, frei und unverbindlich blieben. In der Regel meckerten die Leute nicht, sondern waren glücklich. Es war befriedigend, die Veränderung zu sehen, die den Gästen nach einem gelungenen Urlaub aus den Augen strahlte. Ich begleitete das Freizeitangebot, bei dem wir zweimal in der Woche auf eine kleine unbewohnte Insel mit dem Outrigger Kanu hinfuhren und am Strand ein Feuer und Essen mit einheimischen Polynesiern veranstalteten. Meine erste Erfahrung mit dem Segeln, die mir Freude bereitete, war unser Sunset Sailing, bei dem wir mit den Gästen in den Abendstunden drei Stunden aufs Meer hinaus segelten, um den Sonnenuntergang zu genießen. Die Skipperin auf dem Schiff hinterließ einen nachhaltigen Eindruck auf mich, weil sie viel Segelerfahrung hatte und alles rund um das Segeln wusste.
Direkt vor dem Hotel in der Opunohu Bay ankerten viele Segelyachten. Unter anderem die Joshua von Bernard Moitessier. In meinen Augen ein sympathischer, drahtiger 54-jähriger Mann, der wenn immer er auf sein Schiff ging, zuerst an der Rezeption Halt machte, um ein paar Worte mit mir zu wechseln. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wer Bernard Moitessier war. Ich hielt ihn für ein bisschen verrückt, weil er immer zu seiner Joshua rüber schwamm und nie wie Andere das Beiboot dafür hernahm. Später erst erfuhr ich, dass Bernard ein intellektueller französischer Segler, Philosoph und Buchautor war. Er lebte seit Jahren auf Moorea, hatte eine polynesische Frau und einen Sohn und verschiedene Bücher geschrieben, unter anderem das Buch „Der verschenkte Sieg“. In diesem Buch beschrieb er die Teilnahme an einer Regatta rund um die Welt, die er als Sieger beendet hätte, wenn er nicht kurz vor dem Ziel seinem Gedankenblitz gefolgt wäre, sich zu fragen, was er da eigentlich mache. Als er keine schlüssige Antwort darauf fand, drehte er kurzerhand ab.
Ein weiterer kleiner Stein des Anstoßes, der ins Rollen geriet, war in der Begegnung mit Burghard, Helga und Luggi. Kurz nachdem ich im Hotel Aimeo zu arbeiten anfing, ging ein deutscher Katamaran vor Anker. Die drei kamen öfters in die Hotelbar oder auch an die Rezeption, um Geld zu wechseln oder zu telefonieren. So erfuhr ich, dass ihr Schiff Shangri La hieß und mit vier Kajüten ausgestattet war. Die Shangri La gehörte Burghard und Helga, Luggi reiste mit. Burghard war Berufskapitän und Schullehrer, Helga der Spross einer Seefahrerfamilie, bereits ihr Vater war ein erfahrener Kapitän auf großen Frachtern gewesen, auf denen sie manches Mal mitfahren durfte. Burkhard, gelenkig und sehnig, mit einem dichten Vollbart, wie es sich für einen Seemann gehört, vermittelte seine Erfahrung unterhaltsam und wunderbar witzig. Helga, seine patente Partnerin, schlank, braungebrannt mit langen dunklen Haaren, empfand ich oft als Nervensäge, wenn sie im Hamburger Stakkato dauerplapperte. Luggi hingegen war Bayer und äußerst mundfaul. Sie segelten und lebten auf dem Schiff und nahmen regelmäßig Freunde aus der Heimat auf, die bei ihnen auf dem Boot ihren Urlaub verbrachten.
Eines Tages war der Zeitpunkt gekommen, als ich dieses Leben näher kennenlernen wollte. Die drei planten weiterzuziehen. Da sie mir sympathisch waren, fragte ich, ob ich anheuern dürfe. Das ist üblich in den Kreisen, denn in der Regel sind Segler froh, neben der Unterhaltung bei den Routinearbeiten des Alltags unterstützt zu werden. Ich war seglerisch jungfräulich, aber für Hilfsjobs wie Kochen, Aufräumen gut zu gebrauchen. Burghard sagte mir zu, ich kündigte, packte meine Sachen und zog aufs Schiff. Das erste Ziel der geplanten Route war die Insel Huahine, anschließend sollte es nach Bora Bora gehen, von dort nach Suwarrow, einem Atoll im nördlichen Teil der Cookinseln, weiter über Samoa nach Tonga und schließlich zu den Fiji Inseln. Wir fuhren abends um 20 Uhr los, um am nächsten Abend noch im Hellen auf Huahine anzukommen. Ich verbrachte meine erste Nacht auf dem Meer selig schlafend in meiner Koje. Oh, hätte diese Nacht nicht ewig währen können? Sobald ich am Morgen auf meinen Beinen stand, reagierte mein Gehirn verwirrt. Die restlichen verbleibenden zwölf Stunden bis Huahine war mir speiübel. Es beschämte mich zutiefst, auch wenn Burghard mich verständnisvoll tröstete. In den Augen von Helga lief mit spöttischer Verachtung in Endlosschleife der Banner »Was für eine blutige Anfängerin«! Das konnte aber durchaus mein eigener Text gewesen sein. Jedenfalls dauerte dieser unwürdige Zustand länger als die üblichen drei Tage bis mein Gehirn die Lernkurve eines schaukelnden Unterbodens angenommen hatte. Allerdings reagierte es immer wieder beleidigt, wenn es nach längeren Landgängen zurück aufs Wasser ging. Ingwertee lindert, wie ich in späteren Jahren feststellte.
In Huahine nahmen wir einen Hahn und vier Hühner an Bord, die wir von einem Bauer aus der Bucht erworben hatten. Auf der Insel Suwarrow lebte, bis zu seinem Tod 1977, der Aussteiger Tom Neales, der dort Hühner hielt. Über sein Dasein als Eremit schrieb er ein Buch „An island to oneself“. Darin erzählt er die Anekdote, wie eines Tages ein Schiff an der Insel landete und ihn vor dem Hungertod rettete. Er hatte sich einen schweren Bandscheibenvorfall zugezogen, eine körperliche Fessel, die ihn so unbeweglich machte, dass er sich nicht mehr versorgen konnte. Also so ganz ohne ist dann auch nichts. Also so ohne menschliche Form des Miteinanders. Allein auf einer Insel, weil man dem Rest der Menschheit sein Dasein nicht zumuten möchte oder auch umgekehrt. Und dann ist es doch zutiefst menschlich und auch magisch, dass ein Schiff zufällig vorbeikam. Ich denke Tom Neales hatte akzeptiert, dass er sterben könnte; womit er gerechnet oder worauf er gehofft hatte, ist wieder etwas Anderes. Ich für meinen Teil finde das alles etwas überspannt, aber jeder wie er es mag. Diese Freiheit zu haben ist essentieller als darüber nachzudenken, ob es sinnvoll ist, als Eremit auf einer Insel zu leben oder nicht. Nachdem Neales dann wirklich gestorben war, lebte sein Federvieh fröhlich gackernd und scharrend vor sich hin, bis es von Seglern, die vorbeikamen, nach und nach geschlachtet wurde. Diese Geschichte erfuhr Burghard von Bernard Moitessier, der es schade fand, dass es auf dem Eiland keine Hühner mehr gab. Seiner Ansicht nach wurde die Vegetation durch die Hühner, die überall hinschissen, natürlich gedüngt und damit reichhaltiger. Burghard verstand seinen Hühner-Insel-Gedanken als stillen Auftrag, dem er nachkommen wollte, und schon hielten wir einen gackernden Hühnerhaufen an Bord. Kaum hatte ich mich also an das Schaukeln des Schiffes gewöhnt und konnte in Zwiesprache mit meinem Gehirn das Segeln sogar genießen, zog der Gestank bei uns ein. Hinzu kam, dass der Wind von achtern blies und den beißenden Geruch von Hühnerscheiße über das ganze Schiff wehte. Man konnte ihm nicht ausweichen. Man konnte nicht mal schnell ins Auto steigen und eine Auszeit in einem Meer von Lavendel nehmen. Dass Luggi zwischendurch kurzerhand ein Huhn schlachtete, schaffte keine Linderung.
Als Bora Bora in Sicht kam, machten wir für knapp zwei Wochen einen Zwischenstopp, so dass ich den Hühnerausdünstungen stundenweise entkam. Der Inselbesuch war lustig und unterhaltsam, denn eine Film-Crew unter Dino de Laurentis drehte gerade einen Film und suchte Statisten. Immerhin zahlten sie fünfzig Dollar pro Drehtag. Der Low- Budget-Film mit dem bezeichnenden Titel Shark-Boy of Bora Bora war eine Liebesgeschichte zwischen einem Mädchen und einem Jungen, der in der Unterwasserwelt zu Hause war und von der seinem Großvater einen Hai in Obhut bekam. Für eine Szene mussten wir drei Abende von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens an einer Bar rumstehen, für eine andere Szene wurden wir an den Flughafen gekarrt und begrüßten eine Amerikanerin, die zum ersten Mal auf die Insel kam. Sie stieg aus dem Flugzeug und rief wild gestikulierend und völlig überdreht »I love it! I love it! I love it!«. Ich musste entsetzlich an mich halten, um nicht lauthals herauszulachen. Möglicherweise hat der Regisseur diesen Teil der amerikanischen Übertreibungskultur verspottet, aber ich befürchte, er meinte es bitterernst. Eine Freundin schenkte mir später den Film als VHS. Als ich das Werk anschaute, konnte ich mich nicht so recht auf die Handlung konzentrieren, weil ich die ganze Zeit erwartete, dass ich mir im nächsten Kameraschwenk ins Auge sprang. Das tat ich nicht, wahrscheinlich fiel mein schauspielerisches Talent der Cutter-Schere zum Opfer.
Weil in dem Film viel getaucht wurde, fällt mir ein, dass ich noch etwas zu meinen Unterwasserambitionen berichten möchte. Als ich zum ersten Mal vom Schiff ins Meer sprang, schnallte ich mir von Burghard eine Taucherbrille um den Kopf und Flossen an die Füße. Ich glitt durch die Frische, spürte die Wasserbewegungen auf der Haut, ließ mich von der Hand der Schöpfung tragen und streckte meine Hände nach seinen Geschöpfen aus, die unbedarft diese Welt bevölkerten. Berauscht von dieser Freiheit trug ich von da an nie mehr einen Neoprenanzug, eine Gasflasche geschweige denn einen Bleigürtel.
Nach zwei Wochen ging es weiter Richtung Suwarrow. Dort wurden wir bereits von zwei anderen Yachten sehnsüchtig erwartet – Claude Carson, ein ehemaliger Vietnam Veteran von der SY Entropy, und Patrick von SY Lemon Butt. Es hatte sich herumgesprochen, dass wir Hühner für Suwarrow an Bord hatten. Eine weitere französische Yacht gesellte sich noch ein oder zwei Tage später dazu und für zwei Wochen lebten wir das Leben des Tom Neales. Helga und ich backten Brote und Kuchen in seinem Backhäuschen oder wir alle gingen viel schnorcheln. Luggi der Koch bestellte bei Burghard jeden Tag einen Fisch fürs Abendessen an Tom Neales Picknick-Platz am Strand unter Kokospalmen.
Wenn es nichts zu arbeiten gab, ging ich immer schnorcheln, um Kauri Muscheln zu suchen. Wir hatten die blöde Idee, dass wir diese sammeln und mitnehmen müssen. Ein unnötiger Tod dieser schönen Muscheln. Immer wieder schwammen kleine Riffhaie um mich herum. Riffhaie und Barracudas sind in der Regel nicht gefährlich und eher scheu, allerdings gibt es bei ihnen auch so etwas wie ein territoriales Verhalten, wenn sie provoziert werden oder sich bedroht fühlen. Wenn sie mir zu dicht kamen und zu aufdringlich wurden, haute ich ihnen mit dem Pfeil einer Harpune auf ihre Nase. Wohl fühlte ich mich dabei nicht, weil man nie weiß, wie ein wildes Tier reagiert, ich hatte aber auch keine Angst.
Schade, dass es nach vierzehn Tagen schon weiterging, wir mussten Richtung Samoa aufbrechen. Zuerst Pago Pago American Samoa, welches ich nur noch sehr vage in Erinnerung habe, danach nach Apia, der Hauptstadt von Western Samoa. Hier traf Burkhard einen alten Freund aus Lübeck, der für die GTZ ein Marine-Training-Center aufbaute, um so viele junge Männer wie möglich für die noch im Aufbau befindliche Handelsflotte auszubilden.
Nach Westsamoa wollten wir als nächstes Streckenziel nach Tonga, mussten aber irgendwann nach Fiji abdrehen, weil ein heftiger Sturm aufkam, der Wind sich auf Süd drehte und für uns dadurch für Tonga aus der völlig falschen Richtung wehte. Der Wind kletterte auf acht Beaufort, so dass wir für einige Stunden sogar beidrehen mussten. Durch so etwas muss man auf einem Schiff durch, fluchend zwar, aber es ist trotzdem schön und faszinierend, mit den Kräften der Natur zu arbeiten. Acht Tage dauerte der Törn, drei Tage lang hatten wir mit dem Sturm zu kämpfen, bis wir dann auf dem unbewohnten Atoll Reid Reef in der Lau-Gruppe der Fiji- Inseln angekommen waren.
Nach acht Tagen hing uns das Dosenfutter zum Hals raus und wir entwickelten eine unbändige Lust auf frischen Fisch. Gegen jeden menschlichen Verstand fischten wir in der Lagune ein paar Fische. Wir wussten, dass Fische in einer Lagune an einer Stelle des Riffs für den menschlichen Verzehr geeignet sind, während in direkter Nachbarschaft in derselben Lagune die Fische stark mit Ciguatoxinen belastet waren. Ursache sind marine Einzeller, Geißeltierchen wie Gambierdiscus toxicus, die auf Algen und Seetang von Korallenriffen leben. Eigentlich sollte man immer einen lokalen Fischer fragen, ob die Fische essbar sind, aber Reid Reef war unbewohnt.
Die Hoffnung, genau die vier unbelasteten Fische zu fangen, war größer. Und endete in einer komatösen Vergiftung, der Ciguatera Fischvergiftung. Das Schlechtwerden trat gleich nach dem Essen ein. Keiner wagte jedoch, etwas zu sagen, da man die anderen nicht beunruhigen wollte. Hätte nur einer von uns etwas gesagt. Noch in der Nacht musste ich mich entweder an der Reling übergeben und zur Toilette schleichen, die leider im anderen Rumpf war. Nach kürzester Zeit war ich völlig dehydriert und ausgelaugt. Wir hingen halb tot auf dem Schiff. Ich hatte in den folgenden Tagen mit starken Atembeschwerden und dem unangenehmen Gefühl, meine eigenen Beine laufen ohne mich weg, zu kämpfen. Wir konnten keine Hilfe holen, weil wir zu weit entfernt von menschlicher Zivilisation waren und keiner in der körperlichen Verfassung war zu segeln. Von uns vieren war einzig Luggi in einer einigermaßen normalen Verfassung und konnte uns manchmal einen Tee kochen. Nach zwei Tagen fürchterlichem Leiden hing ich an seinem Hals und weinte bitterlich. »Luggi, mir ist so schlecht, mir geht’s so dreckig, ich möchte sterben«, um ein paar Minuten später wieder an seinem Hals zu hängen und zu jammern, »Luggi ich möchte nicht so weit weg von zu Hause allein auf der Insel sterben«. Eine Woche vegetierten wir vor uns hin, überlebten aber diese Dummheit.
Zwei Wochen später sind wir in Suva, der Hauptstadt des Fiji-Archipels angekommen. Bald musste ich mich, wie vereinbart, von Burghard, Helga und Luggi verabschieden. Zunächst jedoch trafen wir uns jeden Abend mit anderen Yachteignern im Royal Suva Yacht Club zum Klönen und Billardspielen. Ich nahm an, dass es über diese Abende ein leiser Abschied für immer war, doch die Seglerwelt ermöglicht einem die Weite des Ozeans und ist dabei recht überschaubar. Zufällig unterhielt ich mich auf einer Veranstaltung im Royal Suva Yacht Club mit einem Mitarbeiter der Hanns-Seidl-Stiftung. Er arbeitete an einem Projekt bezüglich Entwicklungshilfe in ländlichen Gegenden zur Fischereientwicklung. Er bot mir an, für ihn die Projektbeschreibung vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Ein sehr interessanter Job, der mit etwas Einblick in die Entwicklungshilfe gab und mir einen guten Verdienst bescherte. Gleichzeitig hat mir sein Freund Werner, der für den Deutschen Entwicklungsdienst Handwerker ausbildete, angeboten, dass ich während dieser Zeit bei ihm übernachten könne.
Werner hatte drei junge Frauen bei sich wohnen, die ihm abwechselnd das Haus reinigten und ihn abends, wenn er nach Hause kam, mit einer Rundum-Verpflegung das Leben angenehmer machten. Mit einer dieser Frauen (ihren Namen weiß ich leider nicht mehr) hatte ich mich angefreundet. Nachdem das Projekt beendet war, lud sie mich ein mit ihr zusammen ihre Familie in einem kleinen Dorf im Norden von der Insel für eine Woche zu besuchen. Zu dem Dorf führte keine Straße hin. Wir mussten zuerst mit dem Bus in die Nähe des Dorfes fahren, von dort wurden wir von einem befreundeten Fischer mit einem kleinen Fischerboot abgeholt. Im Dorf war ich junge europäische Frau eine kleine Sensation, wahrscheinlich war ich die erste weiße Frau, die sie zu sehen bekommen hatten. Es gab weder Elektrizität geschweige denn Fernsehen oder Radio. Es gab eine Dusche mitten im Dorf, und wenn immer ich zum Duschen ging, stand fast das ganze Dorf drumherum zum Zuschauen. Der Chief des Dorfes (vergleichbar mit unserem Bürgermeister) lud mich zu sich ein, Kava – ein Getränk, das aus dem Wurzelstock des Rauschpfeffers hergestellt wird –, mit Ihm zu trinken. Eigentlich war es sonst nur Männern vorbehalten, Kava zu trinken. Es war eine große Ehre für mich und das erste Mal, dass ich diese einfache Lebensweise hautnah miterleben konnte - es hat mich sehr beeindruckt. Sowohl auf Französisch Polynesien als auch auf Samoa war die Entwicklung deutlich weiter vorangeschritten, und dass es in der Entwicklung in Fiji großen Handlungsbedarf gab, hatte ich ja schon durch meine Arbeit bei der Hanns-Seidl-Stiftung oder in Gesprächen mit Werner mitbekommen. Eine Woche hatte ich nur Zeit zu bleiben, da ich bereits einen Flug von Fiji zu den Neuen Hebriden gebucht hatte. Ich hätte es auch noch länger dort ausgehalten. Da kein Fischer in der Nähe war, nahm mich die Mutter der Bekannten kurzerhand auf ihr Pferd und ritt mit mir bis zu nächsten Busstation, was einen halben Tag in Anspruch nahm. Mein Hintern war so wund, ich konnte am Ende des Tages fast nicht mehr laufen geschweige denn sitzen, aber ich musste noch bis nach Nadi mit dem Bus fahren.
Von Nadi flog ich nach Port Vila auf die Neuen Hebriden, einer Inselgruppe von 83 Inseln (Heute heißt dieser Staat übrigens Vanuatu, wo angeblich die glücklichsten Menschen der Welt leben. Die Neuen Hebriden sind nicht zu verwechseln mit den Hebriden an der Nordwestküste Schottlands). Dort mietete ich mir ein Hotelzimmer und traf bei einem Spaziergang im Hafen Claude Carson von der SY Entropy wieder, den ich ja auf Suwarrow kennen gelernt hatte. Claude war ein Einzelgänger und Einhandsegler. Sein Schiff hatte die Größe eines Wohnwagens und war entsprechend ausgestattet. Für das Bett wurde der Tisch versenkt, was sich Claude in der Regel sparte und im Vorschiff schlief. Er kam gebürtig aus Ohio, war Vietnam Veteran und hatte Dinge erlebt, die man nur erahnen konnte, über die er nie sprach. Sein schlanker Rücken war von einer großen Narbe übersät. Von der Regierung hatte er, nachdem er aus Vietnam zurückgekommen war, Geld bekommen, mit dem er sich das Schiff kaufte. Seit vier Jahren segelte er allein und wollte nicht viel von den Menschen wissen. Frauen hielten es nicht lange bei ihm aus, weil keine von ihnen ein solches Leben auf Dauer ertrug. Ich spürte seine verletzte Seele, wie gern hätte ich mit jeder Berührung seine Erinnerung weggeküsst. Aber was waren meine Küsse für das Erleben der menschlichen Finsternis. Ich brachte kein Licht in diese Welt, die hermetisch in seinem Inneren verschlossen war. Wir unterhielten uns über Musik, die Südsee, und konnten miteinander den Moment schweigsam verbringen. Eine stille sanfte Übereinkunft, so dass der Abschied nicht rührselig oder traurig war und jeder wieder seiner Wege ging.
Von den Neuen Hebriden flog ich nach Neukaledonien. Vier Tage hatte ich für den Besuch der Hauptstadt Nouméa und der Insel eingeplant. Die Inseln gehören zu Frankreich und Nouméa präsentierte sich nicht wie eine pittoreske Touristenstadt am Meer, sondern mit modernen Bauten, die neben dem Stadtzentrum über die Inselausläufer verteilt waren. Kaufen konnte ich mir nichts, da ich jeden Groschen und jedes Gramm Gepäck sparen musste. Am letzten Tag setzte ich mich morgens in einen Bus und fuhr vom Süden in den Norden, genoss die vorbeifliegende Landschaft, bis der Busfahrer mir sagte, dass kein Bus mehr zurückging. Das kam mir gelinde gesagt sehr ungelegen, da mein Weiterflug am nächsten Tag gebucht war. Also trampte ich in Kleinstrecken auf verschiedenen Mopeds zurück. Eine bessere Gelegenheit, um mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen, gibt es nicht. Alle Fahrer waren Männer und als blonde, zierliche, allein reisende Frau liegt der Gedanke nahe, dass dies in einem sehr eigennützigen Zusammenhang steht. Und wenn auch. Mein Anliegen war auch eigennützig, denn ich wollte schließlich schnell und günstig mitgenommen werden. Ich fühlte mich immer sicher und kraftvoll in meiner Haltung. Damit ging ich in Kontakt und machte nie eine schlechte Erfahrung, die über Unfreundlichkeit oder eine Absage hinausging. Dort auf den Straßen Neukaledoniens flog ich klammernd wie ein Äffchen an den Rücken eines Melanesiers knatternd an Lagunen mit schneeweißen Sandstränden, lang gezogenen Bergketten und gründurchwirkten Landschaften vorbei. Am Ende musste ich nie bezahlen, weil das als unhöflich empfunden wurde.
Ich bekam meinen Flug am nächsten Tag nach Neuseeland. In Auckland, im Norden, war meine erste Anlaufstelle eine Jugendherberge. Das Schöne am Reisen in Jugendherbergen ist das stetige Wiedertreffen anderer Reisender. So traf ich fast jeden Abend einen Australier, der mit seinem Rad eine Rundreise um Neuseeland machte, ebenso wie ich, nur dass ich bequem mit dem Bus fuhr. Wenn Italien die Form eines Stiefels nachgesagt wird, so ist Neuseeland eine umgedrehte Stiefelette mit einem extra Schaft, so dass wir von Auckland am Spann bis zur Stiefelöffnung nach Wellington fuhren, dort übersetzten in den Schaft, an der Westküste – also dem Schienbein – nach Stewart Island an die Einstiegsöffnung reisten, um dann an der Ostküste wieder hoch an den inneren Sporn bis nach Christ Church zu kommen, wo wir uns trennten und jeder seiner Wege ging. Neuseeland ist einen Besuch wert. Seine Landschaften mit seinen Gletschern und Nationalparks, die mich heute rückblickend an die Fjorde von Norwegen erinnern, empfand ich als ein wunderschönes Gegenprogramm zur Südsee. Einmal stieg ich vom Bus zu einem Mann mit Querschnittslähmung der Mitfahrer suchte ins Auto um, was sehr unterhaltsam war. Er behauptete nicht taub zu sein, was ich nicht glauben konnte, denn er hörte in einer solchen Lautstärke Musik, dass meine Ohren in ein Tonkoma fielen. Aber er war supergut gelaunt, was ansteckend war, und ich fand es sehr berührend zu sehen, dass jeder seine Ideen hat und braucht, sich das Leben unterhaltsam zu machen. Ein anderes Mal fuhr ich mit dem Zug und lernte eine Neuseeländerin kennen, die mich in Wellington für drei Tage zu sich und ihren Eltern einlud, die ebenfalls weltoffen und unkompliziert waren.
Mein Weiterflug wäre nach Australien gegangen, doch ich stornierte kurzfristig und buchte auf die Neuen Hebriden um. Ich wollte Claude nochmal treffen. Er wusste nichts davon, Mobiltelefon gab es noch nicht, und wir trennten uns mit dem Wissen, dass jeder seinem Leben folgte. Wenn er nicht da gewesen wäre, wäre es Pech gewesen, doch zu meiner Erleichterung war er da und sehr überrascht, als er mich wieder am Ufer stehen sah. Doch er freute sich, was mein Herz zu ihm aufs Schiff springen ließ. Ich segelte mit ihm bis kurz vor meiner Abreise an Weihnachten. Ein Tag vor Heiligabend flog ich dann nach Hause in kaltes, unwirtliches Wetter.