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Ein Jahr später kam der Schnee erst spät nach Arilinn. Der Herbst hatte sich lange hingezogen, frostige Morgen waren zu träger Hitze geschmolzen. Auf den Ebenen trocknete das Gras zu blassem Gold. Bauern brachten ihre Ernte ein und ruhten sich dann erfreut in dem milden Wetter aus. Mehrere Hochzeiten, die ursprünglich für den nächsten Frühling geplant gewesen waren, wurden schon jetzt gefeiert, und zwar draußen. Die Familien dankten für die andauernde Fruchtbarkeit der Göttin Evanda. Ein paar Klatschbasen drunten in der Stadt schworen, dass der kommende Winter schrecklich werden würde, aber kaum einer interessierte sich für ihre Warnungen, als sich das Mittwinterfest näherte.

An dem Morgen, als Varzil nach Hali und zum Hof der Hasturs aufbrechen sollte, leuchtete der Schnee wie von einem eigenen inneren Licht. Der Winter war erst im letzten Zehntag eingebrochen, mit fallenden Temperaturen und immer wieder neuem Schnee. Dennoch, in Stadt und Turm herrschte weiterhin ein gewisses Wohlgefühl. Die Getreidespeicher und Silos waren voll, das Vieh war fett, die allgemeine Laune gut.

Varzil trat durch den Schleier und ging die Straße entlang zu dem kleinen Flugfeld. In wenig mehr als einem kurzen Jahr hatte er sich von einem verlegenen Neuankömmling zum aufgehenden Stern, zum Stolz von Arilinn, entwickelt. Er war so rasch vorangekommen, dass man ihn nicht wie üblich zunächst als Überwacher ausbildete und dann die weitere Entwicklung nehmen ließ, sondern Auster hatte beschlossen, direkt mit seiner Ausbildung zum Unterbewahrer zu beginnen. Es gab Gerüchte, dass sich Auster lange geweigert hatte, einen Nachfolger zu bestimmen; jetzt witzelte er, dass er nur auf den richtigen Schüler gewartet hatte.

Carolin, dessen Zeit in Arilinn zu Ende ging, würde an den Hof seines Onkels König Felix in Hali zurückkehren. Als Teil der Mittwinterfestlichkeiten und auch, um den Abschied noch ein wenig hinauszuzögern, hatte er gebeten, Varzil und Eduin für ein paar Tage mitnehmen zu dürfen.

Varzil hätte sich nie träumen lassen, dass seine Freundschaft mit Carolin ihn bis in eine solch erhabene Umgebung führen würde. In Augenblicken wie diesen wusste er nie, ob er wach war oder träumte – eine so großartige Stadt zu besuchen, als Ehrengast der mächtigsten Familie, und gleichzeitig für die Ausbildung zum Unterbewahrer ausgewählt zu werden ...

Es war alles so schnell passiert: Carolins aufgeregte Einladung war nur wenige Tage nach dem Gespräch mit Auster erfolgt. Also hatte Varzil beschlossen, allein zum Stadtrand zu gehen, wo Carolins Luftwagen wartete.

Er trug eine Segeltuchtasche über der Schulter, die seine beste Kleidung und ein paar Geschenke für Carolins weibliche Verwandte enthielt. Sein Festtagshemd war nach städtischen Maßstäben wahrscheinlich viel zu schlicht, aber es war von seiner eigenen Schwester Dyannis mit Liebe hergestellt worden, bestickt im Gold und Grün der Ridenows.

Eines Tages, sagte er sich, werde ich das Scharlachrot eines Bewahrers tragen, und dann wird es nicht zählen, wie teuer der Stoff und wie gut der Schnitt waren.

Er freute sich, und nicht einmal der Gedanke an eine halbtägige Reise auf engem Raum mit Eduin konnte diese Freude verringern. Seit dem ersten Kreis, in dem sie zusammengearbeitet hatten – der Knochenwasser-Heilung vor über einem Jahr –, waren ihre Beziehungen höflich gewesen, manchmal sogar freundlich. Eduin stammte nicht aus einer bedeutenden Familie, nicht einmal aus einer so skandalösen wie den Ridenows, und er hatte außer Carolin kaum Freunde, die ihm helfen konnten, in der Welt aufzusteigen. Ja, sein Laran war stark, aber er hatte keine Hoffnung auf politischen Einfluss. Und mit dieser Unsicherheit kam eine Art von Ehrgeiz, die Varzil spüren, aber nicht verstehen konnte. Sicher war es doch genug, ein Laranzu in Arilinn zu sein, im größten und ruhmreichsten der neuen Türme. Varzil war jedoch vernünftig genug zu begreifen, dass nicht jeder dachte wie er, dass der Traum eines Mannes der Albtraum eines anderen sein konnte.

Es war immer noch früh, als Varzil den gleichen Luftwagen sah, der ihn und seinen Vater damals nach Klarwasser gebracht hatte. Der Landeplatz selbst war kaum mehr als ein begradigtes Feld. Die Männer, deren Aufgabe darin bestand, den Schnee wegzuschaufeln, hatten gerade erst mit der Arbeit begonnen. Mit Eis verkrusteter Schnee knirschte unter Varzils Füßen, als er auf den Luftwagen zuging. Ein Mann war auf das gewölbte Dach geklettert und kratzte den Schnee weg. Varzil blickte mit zusammengekniffenen Augen zu der Gestalt hoch, die sich gegen die Helligkeit des Osthimmels abzeichnete. Der Mann rief ihm einen Gruß zu, sprach ihn mit Namen an, und Varzil erkannte ihn.

»Wie geht es Euch an diesem schönen Morgen?«, fragte Varzil. »Ihr seid doch Jeronimo, oder?«

»Genau. Und es ist kein besonders schöner Morgen, wenn man Schnee und Eis wegkratzen muss, aber ich traue diesen Rabbithornhirnen aus dem Ort nicht, wenn es um meinen Wagen geht.« Der Pilot sprang leichtfüßig vom Dach. In einer Hand hatte er eine Rosshaarbürste mit langem Griff, in der anderen einen Kratzer aus Knochen. Er hatte sich ein Handtuch in den Gürtel gesteckt. Nun grinste er breit. »Und, wie wäre es mit weiterem Flugunterricht? Oder seid Ihr als hoher und mächtiger Laranzu von Arilinn Euch jetzt zu gut dazu?«

»Niemand ist zu gut für ehrliche Arbeit.« Einer von Varzils Mundwinkeln zuckte nach oben. »Es sei denn, Ihr wollt mir sagen, dass das Fliegen eines dieser Dinger keine ehrliche Arbeit ist.«

Jeronimo lachte herzlich. »Mag schon sein. An manchen Tagen fühlt es sich an wie Diebstahl, das Geld meines Herrn für etwas zu nehmen, das ich auch freiwillig tun würde!«

Er griff nach Varzils Tasche, steckte sie ins Gepäckabteil und reichte Varzil die Bürste. »Nehmt Ihr die andere Seite, dann sind wir schneller fertig.«

Sie waren gerade mit dem Luftwagen und dem Austausch von Scherzen zu Ende gekommen, als Carolin und Eduin eintrafen, gefolgt von einem Wagen mit ihrem Gepäck. Zwei der stillen Kyrri trabten daneben her und tätschelten das Zug-Chervine.

»Das ist wieder mal typisch Varzil, als Erster hier zu sein«, bemerkte Carolin grinsend.

Varzil zog den Kopf ein und wollte gerade sagen, dass er die zusätzliche Zeit brauchte, um mit den anderen Schritt halten zu können. Aber Carolin hatte ihn mehr als einmal geneckt, so etwas sei nur falsche Bescheidenheit. Nach Austers Beschluss konnte er nun kaum mehr so tun, als wäre er nur ein gewöhnlicher Schüler; also hielt er den Mund, während die anderen sich weiter unterhielten.

Jeronimo verstaute Carolins Truhen und sorgte dafür, dass sie gut gesichert waren. Es war ein schöner Tag, aber in dieser Jahreszeit konnte es über den Ebenen zu plötzlichen Stürmen kommen. Inzwischen war die Startbahn geräumt. Der Pilot bedeutete den drei Passagieren einzusteigen. Es gab einiges Gedränge, und Varzil erkannte, dass Eduin vorhatte, neben Carolin zu sitzen.

»Wenn es euch nicht stört«, sagte er, »würde ich gerne vorn sitzen, neben dem Piloten, weil ich mehr über den Luftwagen wissen möchte.«

Das schien Carolin nicht zu überraschen, aber Eduin versetzte Varzil einen Blick, der deutlich sagte, wie wenig er von solchen Interessen hielt. Varzil setzte sich vergnügt neben Jeronimo.

Sobald Jeronimo die Laran-Maschine des Luftwagens aktivierte und das Gefährt sich zu bewegen begann, war Varzil verblüfft über den Unterschied zwischen diesem Flug und denen, die er vor einem Jahr erlebt hatte. Damals war ihm der gesamte Prozess geheimnisvoll vorgekommen. Nun, nach Monaten intensiver Ausbildung und nachdem seine Talente durch den Kontakt mit so vielen anderen begabten Geistern geschliffen waren, konnte er jeder Bewegung, jeder Veränderung der Kraft folgen, als würde alles von der hellsten Sonne beleuchtet.

Jeronimo hielt mitten in einer Erklärung inne, um Varzil vollkommen verblüfft anzuschauen. Varzil war in direktem Kontakt mit seinen Gedanken gewesen und ohne Eindringen gefolgt, als der Pilot die Kraft aus den Laran-Batterien zu den Leitungsmechanismen führte. Jeronimo riss die Augen auf. Seine Hände, die mit den komplizierten Gesten beschäftigt gewesen waren, welche seine Gedanken stützten und leiteten, fielen ihm schlaff in den Schoß.

»Habe ... habe ich Euch auf irgendeine Weise beleidigt?«, fragte Varzil erschrocken.

»Wie könntet Ihr mich beleidigen?« Ich habe keine so starke geistige Berührung mehr gespürt, seit ich meinen eigenen Bewahrer verlassen habe. Jeronimo nickte. Vai dom.

Das bedeutete »würdiger Herr« und war eine Anrede, die man gegenüber Personen von erheblich höherem Rang verwendete.

»Jero.« Varzil streckte die Hand aus und berührte den anderen Mann leicht auf dem Handrücken, wie man es im Turm machte. »Ihr seid selbst ein ausgebildeter Laranzu und braucht Euch niemals geringer zu fühlen als ein anderer Mann. Nicht einmal als ein Bewahrer. Denn so, wie jeder Teil des Körpers seine eigene Funktion erfüllt, um das Leben zu erhalten, haben wir alle unsere eigenen Talente. Ich weiß noch nicht einmal, worin das meine besteht, jedenfalls noch nicht ganz. Aber Eures ist nicht geringer wegen irgendetwas, das ich tun könnte. Versteht Ihr das?«

Jeronimo richtete sich ein wenig gerader auf, aber er wich Varzils Blick weiterhin aus.

»Ich danke Euch, dass Ihr Euer Wissen mit mir teilt«, sagte Varzil in die darauf folgende verlegene Stille.

Stunden vergingen, während sich unter ihnen die verschneiten Ebenen erstreckten. Varzil entdeckte eine Reihe lilafarbener Hügel am Horizont. Als er fragte, erklärte Carolin, dass sie sich der südlichsten Spitze der Kilgard-Hügel näherten. Nach Norden, zum Land der Altons hin, wurden diese Hügel wilder, bis sie sich mit den Hellers verbanden. Aber hier, am Rand des Flachlands, wirkten sie zahm und angenehm.

Einige Zeit lang schienen die Hügel nicht näher zu kommen. Dann waren sie plötzlich ganz verschwunden. Varzil, der von seiner Nachmittagsmahlzeit aus kaltem Lammbraten und Brot mit reifem Chervine-Käse aufblickte, dachte zunächst, Jeronimo hätte den Luftwagen in die falsche Richtung gelenkt. Der Himmel selbst war nun verhangen, alle Farbe war verschwunden.

Varzil schauderte. »Müssen wir da durch, um Hali zu erreichen?«

»Das ist nichts, Vai – Lord Varzil«, sagte Jeronimo und folgte Varzils Blick. »Wahrscheinlich nur niedrige Wolken.«

Vom Rücksitz aus sagte Carolin: »Der Winterwind bläst häufig Nebelbänke vor die Hügel. Sie sehen schlimmer aus, als sie sind. Jero ist Dutzende Male hindurchgeflogen.«

Nein, das sind keine gewöhnlichen Wolken. Varzil tastete mit dem Geist, schmeckte die Luft vor ihnen, kalt und feucht und mit einem metallischen Hauch von Ozon. Er hatte nicht den stark entwickelten Sinn für Wetter wie einige andere in Arilinn. Ein ausgebildeter Kreis konnte den Kurs einer regenschweren Wolke ändern, indem er den Wind manipulierte. Es hieß auch, dass Personen von Aldaran-Abstammung nicht nur natürliche Wettermuster dirigieren, sondern neue schaffen konnten, und sie waren in der Lage, Wasserdampf aus Flüssen und Seen zu saugen, aus flauschigen Wölkchen gewaltige Gewitterwolken herzustellen und Stürme dorthin zu bewegen, wo sie sie haben wollten.

In Varzils Geist wurden die Wolken größer, türmten sich aufeinander und wurden schnell dunkler. Er selbst schien über ihnen zu schweben, in sie hinabzutauchen. Er keuchte, betroffen von dem dichten, feuchten Zorn ihres Gewichts und der Quecksilberbeimischung von Elektrizität. Die Wolken bildeten einen Körper, riesig und verzerrt, mit Nerven aus gezackten Blitzen. Varzil selbst fühlte sich wie ein Staubkorn, das in einen Strudel von Weiß und Grau gezogen wurde. Unfähig, sich zu widersetzen, taumelte er durch immer dunkler werdende, engere Kreise, näher und näher zum schwarzen Herzen des Unwetters. Einen Augenblick lang riss die Dunkelheit auf, und er entdeckte tief drunten einen Turm. Er stand makellos und weiß vor dem Schatten, wie von einem einzelnen Sonnenstrahl umrissen.

Energie, scharf und beißend, kondensierte im Licht. Eine Kaskade von Blitzen ergoss sich über den Turm.

NEIN!

Der Aufschrei riss an jeder Faser seines Körpers. Als die Vibrationen geringer wurden, konnte er wieder klar sehen und entdeckte unter sich nichts weiter als die verschneiten Ebenen von Arilinn und sanfte Hügel. Nebel, weich und durchscheinend, hatte sich in den Tälern zu ihren Füßen gesammelt. Der Luftwagen schaukelte wie eine Wiege.

»Wie ich schon sagte«, erklärte Jeronimo. »Ein kleiner Wind, nichts weiter. Es gibt Leute, deren Magen so etwas nicht gut verträgt, aber das ist keine Schande. Ist es bei Euch so?«

Varzil schüttelte den Kopf und wünschte sich, es wäre wirklich eine so einfache Sache wie ein empfindlicher Magen. Er hatte einen Sturm gesehen, einen schrecklichen Sturm, mit Blitzen, die auf einen Turm niedergingen. Vielleicht war es nur in seiner Phantasie so gewesen, beflügelt von Geschichten über die Zerstörung von Neskaya. Aber noch während er das hoffte, wusste er, dass es nicht so war. Er hatte einen echten Sturm gesehen, an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit.

Aber wo? Und wann?

Hali sah aus der Luft aus wie ein glitzernder Berg aus Türmen und Türmchen. Ein vereinzelter Turm erhob sich nicht weit von der Stadt entfernt. Verhangen in der Ferne, unsichtbar in der wachsenden Dunkelheit, lag der berühmte See.

Der Luftwagen begann mit dem Abstieg, und der Turm war nicht mehr zu sehen. Die Spätnachmittagssonne spiegelte sich rötlich blitzend in den unzähligen Fenstern der Stadt und tauchte die Gebäude in ein dunstiges Glühen. Als sie näher kamen, bemerkte Varzil Fahnen, die wie bunte Wimpel an den Türmen hingen und von andauernden Festlichkeiten kündeten. Er starrte auf die Häuser aus Stein und Holz. Menschen zu Fuß, Reiter und Fahrzeuge jeglicher Art füllten die Straßen, von schlichten Heuwagen bis hin zu eleganten Kutschen und Sänften. Er sehnte sich danach, diese Straßen entlangzugehen, alles selbst zu sehen, zu berühren und zu schmecken.

Jeronimo lenkte den Luftwagen direkt ins Herz der Stadt und landete ihn in einem großen Hof des zweifellos größten, großartigsten Herrenhauses der Stadt. Als der Wagen zum Stehen kam, blieb Varzil reglos und vollkommen überwältigt sitzen.

»Wach auf, Klotzkopf!« Carolin streckte den Arm aus und tippte ihm auf die Schulter. »Wir sind zu Hause.«

Als die Tür aufging und sie aus dem Wagen stiegen, war dieser bereits von einer kleinen Menschenmenge umgeben.

»Carlo!« Das kam von einer jungen Frau mit rotgoldenem Haar in einem Gewand aus hellem Graugrün; ein Tuch in der gleichen Farbe hatte sie um die Schultern geschlungen. Sie hatte ein wenig von den anderen entfernt gestanden, mit einer Haltung, die auf weit über ihre Jahre hinausgehende Selbstbeherrschung hinwies, aber als sie Carolin sah, eilte sie doch nach vorn. »Du hast uns so gefehlt! Ich kann kaum glauben, dass du wieder hier bist!«

Carolin ergriff ihre ausgestreckten Hände. »Du hast mir auch gefehlt, Maura. Mehr, als ich sagen kann – und du«, sagte er und wandte sich dem hageren Mann an ihrer Seite zu. »Orain. Sind deine Frau und dein Sohn auch hier? Alderic ist inzwischen sicher schon ein großer Junge.«

»Es geht ihm gut, danke.«

»Jandria«, fuhr Carolin fort. »Wie schön, euch alle wieder zu sehen. Hier – das sind meine Freunde Eduin und Varzil.«

Orain verbeugte sich höflich; sein Gesicht mit dem kantigen Kinn zeigte wenig Gefühle. Jandria grinste breit und knickste, und Maura nickte würdevoll. Ihre Haltung war nicht unfreundlich, sondern einfach reserviert. Varzil kannte solche Zurückhaltung von Turmarbeitern. Sein Geist streifte den ihren. Ihre Augen blitzten plötzlich auf.

»Varzil von Arilinn!« Sie streckte zwar nicht die Hand zum Gruß aus, aber ihre ganze Gestalt begann vor Freude zu leuchten. »Und Eduin! Selbstverständlich! Verzeiht, dass ich euch nicht erkannt habe!«

»Wir Euch auch nicht«, sagte Eduin freundlich. »Obwohl wir so oft über die Relais miteinander gesprochen haben.«

»Wir haben alle angenommen, dass Carlo ein paar seiner Saufkumpane aus der Stadt mitbringt.« Jandria grinste boshaft. »Nicht solche Gefährten! Ich hoffe, Ihr seid nicht zu wichtig, um zu tanzen, oder das ganze Fest wird so finster ausfallen wie bei den Cristoforos!«

Maura wandte sich Varzil zu und senkte schüchtern den Blick. »Wir sind auch entfernt miteinander verwandt, wusstet Ihr das? Meine Mutter war eine Ridenow. Als sie meinen Vater heiratete, empörte sich die Hälfte des Elhalyn-Clans, und dann haben sie die ganze Geschichte vertuscht. Sie hat es danach vorgezogen, möglichst wenig von ihrer Familie zu sprechen.«

Mit einem Kopfschütteln machte sie deutlich, was sie von diesen Dingen hielt. »Unser Vetter Ranald war letztes Jahr hier zu Besuch, aber diesmal werdet Ihr ihn wohl nicht treffen können.«

»Davon wusste ich nichts«, sagte Varzil. »Ich dachte ...« Ich dachte, das alte Misstrauen zwischen Ridenow und Hastur hätte so etwas unmöglich gemacht.

»Wo ist mein Vetter Rakhal?«, warf Carolin ein und sah sich in der Menge von Dienern um, die nun das Gepäck ausluden und zum Haus trugen. »Ist er krank, oder warum ist er nicht hier, um uns zu begrüßen? Und Lyondri?«

»Oh!« Jandria verzog das Gesicht und hakte sich bei Carolin ein. »Sie sind drinnen und warten deinem Onkel auf. Als könnte der König ohne ihre Hilfe nicht einmal eine Entscheidung über das Menü fürs Abendessen treffen!«

»Essen!« Carolin drückte dramatisch die Hand auf den Magen. »Ich bin am Verhungern!«

Sie gingen weiter auf das Schloss zu. Maura setzte sich an Varzils Seite. »Ihr habt es vielleicht noch nicht gehört: Eure Schwester Dyannis ist gerade zu uns nach Hali gekommen, um ihre Ausbildung zu beginnen.«

Varzil freute sich. Sein eigener Kampf um die Erlaubnis seines Vaters hatte also unerwartete Frucht getragen. Ansonsten hätte Dom Felix Dyannis sicher zu Hause behalten, bis er einen angemessenen Ehemann finden konnte, der das Prestige der Familie erhöhte. Er hatte ein Bild von Türen vor Augen, die sich in alle Richtungen öffneten: Hastur und Ridenow als Verbündete, die Beilegung von Schwierigkeiten an Ratstischen anstatt in blutigen Fehden ...

»Dyannis ist sehr begabt«, fuhr Maura mit dieser Direktheit fort, die so charakteristisch für eine Turmarbeiterin war. »Und wir können sie wirklich brauchen. Wir können es uns nicht leisten, jemanden mit Talent abzuweisen. Ist es in Arilinn nicht ebenso?«

»Man hat gerade beschlossen, dass Varzil zum Unterbewahrer ausgebildet werden soll«, erklärte Carolin, als sie die breite Treppe zum Schlosstor hinaufgingen.

»Tatsächlich?« Maura drehte sich zu Varzil um, die grauen Augen bewundernd aufgerissen. »Das sind wunderbare Nachrichten! Und Ihr, Eduin! Wir haben auch gehört, was für ein mächtiger Laranzu Ihr geworden seid.«

Aber kein Bewahrer. Noch nicht.

Varzil spürte die Bitterkeit in Eduins unbewachtem Gedanken.

Maura fuhr unbeschwert fort. »Carlo, was meinst du? Soll ich die Bewahrer fragen, ob Dyannis zu uns kommen darf? Dann können die Geschwister die Feiertage gemeinsam verbringen.«

»Es ist typisch für dich, Maura, so aufmerksam zu sein.«

»Und so diktatorisch«, neckte Jandria, »alles auf ihre eigene Weise zu arrangieren! Es ist gut, dass Frauen keine Bewahrer sein können, oder sie würde uns alle im Kreis tanzen lassen!«

»Janni!«, rief Orain mit der unbeschwerten Vertrautheit eines Verwandten. »Das war eine sehr unangemessene Bemerkung.«

»Oh, das stört mich nicht«, sagte Maura gut gelaunt. »Neue Zeiten sind angebrochen, und dass es noch nie weibliche Bewahrer gab, heiß nicht, dass es auch niemals welche geben wird. Was mich selbst angeht, liebe Pflegeschwester, bin ich mit der Gabe des Blicks vollkommen zufrieden.«

Das erklärte Mauras unschuldige Selbstsicherheit. Sie war nicht nur eine Leronis, sondern eine von wenigen ausgewählten Frauen, die wegen ihrer Seherbegabung eine besondere Ausbildung erhielten und Jungfräulichkeit schworen.

Sie kamen durch das massive Tor in eine Eingangshalle. Innerhalb von Augenblicken hatte man sie voneinander getrennt und führte sie zu ihren Gemächern. Varzils Zimmer in Arilinn war geräumig, aber schlicht möbliert, ein Ort ruhiger Zurückgezogenheit, der nicht dazu diente, irgendwelche Unterhaltung zu bieten. Nun stand er in einem Vorzimmer, das zu einer ganzen Reihe von Räumen führte, die mindestens so groß waren wie die gesamte Ridenow-Wohnung in der Verborgenen Stadt.

Wandbehänge schmückten jede Wand, und viele zeigten Szenen aus der »Ballade von Hastur und Cassilda«, ein Tribut an die ehrenwerten Ahnen des Hauses. Jedes Möbelstück schien geschnitzt, vergoldet oder mit Perlmutt eingelegt zu sein. Das Bett im Schlafzimmer stand auf einer Plattform, hatte eine Decke aus weinrotem Brokat und hätte leicht einem Trockenstädter mit all seinen Frauen und Konkubinen Platz geboten. Daneben standen ein Kleiderschrank, groß genug, um ihn begehen zu können, und eine schwere, üppig geschnitzte Kommode mit einer Marmorplatte, die so glänzend poliert war, dass Varzil sein Spiegelbild darin sehen konnte. Das Waschbecken und der Krug mit rosenduftendem Wasser bestanden aus teurem, wunderschön bemaltem Porzellan. Varzils einzelne Tasche lag schlaff am Fuß der Plattform. Er hob sie auf, trug sie zum Kleiderschrank und legte vorsichtig seine wenigen Kleidungsstücke auf die Regale. Das Holz im Schrank roch angenehm nach Zeder und Lavendel, was aber nicht so recht zum Duft des Waschwassers passen wollte. Wenn er zwischen so vielen nicht zusammenpassenden Gerüchen schlafen musste, würde er mit Kopfschmerzen wie aus Zandrus Hölle aufwachen.

Er zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Ein Mann in einer schönen Jacke und Kniehosen in Hasturs Blau und Silber trat ein. Varzil starrte ihn an. Der Bursche konnte kaum älter als er sein, aber seine natürlichen Züge waren hinter einer dicken Schicht Puder versteckt und seine Wangen und Lippen scharlachrot bemalt. Und ganz bestimmt wuchs natürliches Haar niemals in dieser Messingfarbe, und es glänzte auch nicht wie lackiert. Der Höfling roch nach einem weiteren Duft, diesmal einer Mischung aus Weihrauchharz und etwas Moschusartigem. Mit einer respektvollen Halbverbeugung erklärte der Höfling, wenn der junge Herr sich vorbereiten wolle, würde Seine Majestät ihn kurz vor dem Abendessen empfangen. Er warf einen Seitenblick zu dem offenen Kleiderschrank und fügte hinzu, dass für alle Gäste angemessen höfische Kleidung zur Verfügung gestellt werden könnte.

Varzil war empört, strengte sich aber an, sich zu beherrschen. Seine Ehrfurcht davor, sich inmitten solch offensichtlichen Wohlstands zu befinden, verschwand in einem einzigen Augenblick. Er wusste, was der Höfling sah: einen armen Jungen, unterernährt und schlecht erzogen, einen Niemand aus Nirgendwo, der nur dank Carolins Freundlichkeit hier war, weil der Junge die Feiertage mit den weniger Begünstigten teilen wollte.

Ich bin ein Laranzu von Arilinn, und ich bin ein Ridenow und aus einem adligen Haus. Ich werde nichts davon verbergen und ganz bestimmt nicht hinter geborgter Kleidung!

Er sagte so höflich er konnte: »Ich danke Euch für diese Freundlichkeit, aber ich bin mit dem, was ich habe, zufrieden.«

Der Mann riss ungläubig die Augen auf. Varzil hätte beinahe laut über sein sichtliches Unbehagen gelacht, als er sich abermals verbeugte und zurückzog.

Varzil zog sein bestes Feiertagshemd und eine Weste mit den Ridenow-Farben an, und dann kam ein Page, jung und mit einem Mädchengesicht, um ihn zum Thronsaal zu eskortieren. Varzil hörte die Menschenmenge, bevor er die Treppe noch ganz heruntergestiegen war. Der König hatte offenbar seinen Audienztag, und Bittsteller, Höflinge, Zuschauer, Schlossdiener und Wachen in den Hastur-Farben füllten den gewaltigen Raum. So viele Menschen an einem Ort! Nicht zum ersten Mal segnete Varzil die Ausbildung, die ihn vor diesem Ansturm schützen würde. Jeder besaß ein kleines Maß an Laran, was sich bei gewöhnlichen Menschen in Form von Intuition oder Mitgefühl zeigte oder manchmal in der Fähigkeit, gut mit Tieren oder Sprachen zurechtzukommen. Bei einer solchen Versammlung mit so vielen Hastur-Verwandten und geringeren Clansleuten würde die Summe all dieser kleinen Portionen von Laran ausreichen, um einen empfänglichen Geist zu erdrücken. Es wäre undenkbar unhöflich, die Gedanken zu lesen, die ihn umschwirrten, aber Varzil wusste darüber hinaus nur zu gut, dass es ihn rasch in den Wahnsinn treiben würde, sich gegenüber all diesem Geschwätz und der Flut von Gefühlen zu öffnen. Er holte tief Luft, berührte den Seidenbeutel mit seinem Sternenstein, um sich zu konzentrieren, und dachte an Steinmauern. Es war eine Technik, in der Auster ihn unterwiesen hatte, denn je lebhafter und detaillierter die Visualisierung war, desto fester war die Barriere. Varzils Bild schloss die Fugen zwischen den grauen Steinen ein, die vom Wetter angegriffenen Steinoberflächen, die Flecken von schwarzem und reflektierendem Glimmer, einen Streifen aus rosa Granit, der sich durch den Hauptblock zog ...

Der geistige Aufruhr wurde zu einem leisen Summen. Varzil konnte unbeschwerter atmen, und seine Schultermuskeln entspannten sich. Er ging die beiden letzten Treppenfluchten hinab und durchquerte die weite Eingangshalle zum Thronsaal. Bevor er von der Menge von Höflingen verschlungen wurde, entdeckte er Carolin ganz vorn in der Nähe des Throns.

Der große, gut aussehende Carolin mit dem makellos geschnittenen, flammend roten Haar wäre ohnehin sogar in dieser eleganten Versammlung aufgefallen. Er trug einen Anzug aus taubengrauem Wildleder mit blauen Paspeln, die mit dem Weißtannenwappen der Hasturs bestickt waren. Der Anzug schien ein wenig zu schimmern, verlieh ihm eine subtile Aura von Macht, oder vielleicht lag es auch an seiner würdevollen und stolzen Haltung und dem Kontrast, den er zu den grell gekleideten Höflingen bot. Ein Stück entfernt stand Orain neben einer kleinen Frau in extravagant geschichteter vergoldeter Spitze. Sie schien erheblich älter zu sein als er und wäre ohne die Falten um Augen und Mund hübsch gewesen. Sie hielt die Hand eines lächelnden Jungen, der immer wieder zu Orain aufblickte. Der Kleine konnte nicht älter als neun oder zehn sein, aber das Versprechen seines Laran umgab ihn wie ein unsichtbarer Strahlenkranz.

Ein Herold rief Varzils Namen und den von Eduin. Varzil eilte vorwärts. Die Menge teilte sich vor ihm, als hätte ein unsichtbarer Schild sie aus dem Weg gedrängt.

Eduin hatte weiter vorn gestanden, bereit, vor den König zu treten in seiner eleganten Jacke und passenden Kniehosen aus glänzendem elfenbeinfarbenem Brokat und einem Hemd aus schönem Trockenstädter Linex, das an Hals und Manschetten mit Spitze besetzt war. Selbst seine Stiefel aus butterweichem Leder waren die eines adligen Höflings. Aber aus der Nähe sah Varzil die Nadeln in der Jacke und die in Eduins Waden einschneidenden Stiefelstulpen.

Carolin, der vor dem Podium stand, lächelte freundlich und winkte die beiden nach vorn. Varzil holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, König Felix Hastur kennen zu lernen, den mächtigsten Mann von Darkover.

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