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ОглавлениеVon seinem Turmfenster aus beobachtete Carolin Hastur, den die meisten immer noch wie in der Kinderzeit Carlo nannten, den seltsamen jungen Mann, der vor dem Tor von Arilinn stand. Der Junge stand aufrecht da, hatte die Fäuste geballt und atmete schwer. Carolin selbst war nicht dazu berufen, im Turm zu arbeiten, aber er konnte dieses Talent in anderen erkennen. Und er hatte nie zuvor solche Leidenschaft, solche Intensität gesehen wie bei diesem schlanken Jungen dort drunten.
Carolin verfügte nur über geringes Laran und war ohnehin nicht sonderlich daran interessiert, sich in einem Turm einzuschließen. Er war hier nur für kurze Zeit, denn sein Schicksal war bereits am Tag seiner Geburt beschlossen gewesen. Man hatte ihn im Frühjahr, als er siebzehn geworden war, nach Arilinn geschickt, damit er dort die Ausbildung erhielt, die einem jungen Mann seines Standes angemessen war.
Als er nun den Jungen dort unten sah, sah, wie die knochigen Schultern sich hoben und senkten, wie jeder einzelne Muskel angespannt war, wusste Carolin, dass der Junge für den Turm geboren war wie er selbst für den Thron. Er erinnerte sich daran, wie er mit den Kyrri gesprochen hatte, nicht nur in Worten, sondern auch mit einer sanften geistigen Berührung, die selbst Carolin spüren konnte. Hatte man ihn wirklich endgültig weggeschickt? Für gewöhnlich wurde jeder potenzielle Schüler, der sich im Turm meldete, gastfreundlich aufgenommen und begutachtet. Carolin wusste von einem oder zwei Fällen, in denen die Bewahrer einen begabten Jungen zu einem anderen Turm geschickt hatten. Jeder Kreis strebte nach einem Gleichgewicht unterschiedlicher Fähigkeiten und Begabungen.
Der Bewahrer muss einen guten Grund gehabt haben, ihn einfach so wegzuschicken, dachte er. Und wenn ich danach frage, würde er mir nur sagen, dass ich mich aus Dingen heraushalten soll, die mich nichts angehen. Er setzte sich auf die Fensterbank und wünschte sich, es wäre wirklich so einfach, diese schlanke, entschlossene Gestalt aus seinen Gedanken zu verbannen.
Die Außenwand seines Zimmers war gekrümmt wie der Turm, und das Bett war in die einzige gerade Wand eingebaut. Zwischen den beiden Fenstern befanden sich Haken, an denen Umhänge und andere Kleidungsstücke hingen. Eine kleine Truhe aus geschnitztem Schwarzdornholz bot mehr als genug Raum für Carolins Habe. Weil er ein Hastur war, verfügte er auch über ein kleines Kohlebecken und einen Schreibtisch. Anders als die meisten anderen Novizen konnte er lesen, und man hatte ihn auch in anderen Dingen unterrichtet, die ein Prinz wissen musste. Ein Luftwagen stand ihm zu Verfügung, in einem Stall drunten im Ort wartete ein Pferd, und er hatte viele andere seinem Rang entsprechende Privilegien.
Eine Ausgabe von Roald Mclnerys Militärstrategie lag offen auf dem Schreibtisch. Carolin ging zum Tisch und klappte das Buch zu, denn der schwerfällige Stil ärgerte ihn. Der Inhalt an sich war recht interessant, wenn man sich erst einmal durch die antiquierte Sprache gekämpft hatte. Mclnery hatte vernünftige Ideen über Befestigungsanlagen, Nachschublinien und die Aufstellung von Truppen. Aber er hielt Laran-Waffen auch für eine vollkommen natürliche Erweiterung der üblichen Bewaffnung. Einige der Waffen, die er beschrieb, kannte Carolin nicht, aber andere waren einem königlichen Erben in diesen chaotischen Zeiten nur zu gut vertraut. Telepathisch mit ihren Ausbildern verbundene Vögel konnten die Position einer feindlichen Armee ausspähen, Haftfeuer verwandelte Mensch und Tier in lebendige Fackeln, Relais übermittelten Botschaften schneller, als es mit Hilfe von Pferden oder sogar Luftwagen möglich gewesen wäre, und kleine Kreise von Leronyn konnten sogar den Geist des Feindes beherrschen.
Aber selbst die mächtigen Türme von Neskaya und Tramontana hatten sich nicht vor den Auseinandersetzungen und dem Chaos der Außenwelt schützen können. Sie hatten sich Generationen zuvor auf den Befehl ihrer jeweiligen Lehnsherren in den Krieg eingemischt und sich schließlich gegenseitig zerstört. Die meisten ihrer hervorragend ausgebildeten und hochbegabten Arbeiter waren getötet oder geistig verkrüppelt worden.
Niemand war vollkommen sicher, wie das geschehen war, aber die Balladen berichteten, dass Neskaya dabei gewesen war, eine neue, Schrecken erregende Waffe zu entwickeln, die durch eine kritische Auseinandersetzung versehentlich ausgelöst worden war. Es hieß, dass in den Trümmern immer noch unheimliche bläuliche Flammen zuckten, die von der Substanz der Steine lebten.
Carolin hatte einmal eine Überlebende dieses schrecklichen Kampfes kennen gelernt, eine entfernte Hastur-Base, die Leronis in Tramontana gewesen war. Die alte Lady Bronwyn war dem Schlimmsten entkommen, aber als Carolin sie nach den Ereignissen fragte, hatte sie ihn derart verzweifelt angesehen, dass es sein kleines Jungenherz beinahe zerrissen hätte. Sie hatte nicht geantwortet; ihre Miene hatte genügt.
Geschichten darüber, wie die Türme in den Krieg zwischen Hastur und einem skrupellos ehrgeizigen Nachbarn, Deslucido von Ambervale, hineingezogen worden waren, kursierten immer noch in den Schlafsälen der Jungen. Es hieß, der Bewahrer von Neskaya sei in eine Leronis von Tramontana verliebt gewesen und hätte sich den Befehlen seines Herrn zum Trotz geopfert, um seine Geliebte zu retten; aber dieses Opfer war vergeblich gewesen, denn beide waren verbrannt. Carolin wusste immer noch nicht, ob das stimmte oder ob die anderen Geschichten, die in den langen Winternächten im Flüsterton an der Feuerstelle erzählt wurden, zutrafen, aber er wünschte sich, es wäre so.
Auch nach dem Sieg über Ambervale und alle von ihm eroberten Provinzen herrschte auf Darkover nur ein recht unbehaglicher Friede. Es gab immer noch hundert einzelne Königreiche. Die größeren versuchten, die kleineren zu erobern, und zersplitterten sich dann wieder in endlosen Erbfolgeauseinandersetzungen und Aufständen. Von frühester Kindheit an hatte Carolin gehört, wie die Lords seiner eigenen Familie sich stritten, debattierten und sich anstrengten, den schlimmsten Missbrauch von Laran-Waffen zu verhindern. Er erinnerte sich daran, wie sein Onkel Rafael wieder und wieder gesagt hatte: »Es muss doch eine Möglichkeit geben.«
Die Ruinen der Türme und die Verwüstung des Sees von Hali – das Ergebnis einer alten Katastrophe, die als »Zusammenbruch« bekannt war – waren stumme Zeugen des Versagens dieser Vertreter einer gemäßigten Politik. Carolin schüttelte die finsteren Gedanken ab. Er stand vor seiner Tür, die Hand berührte den Riegel, als wäre er schlafgewandelt. Als er wieder ans Fenster zurückkehrte, war der Ridenow-Junge verschwunden, aber Carolin wusste mit untrüglicher Sicherheit, dass sie einander wieder sehen würden.
Er ging die Treppe hinunter und quer durch den Hauptraum in das kleinere Zimmer, wo der Nachmittagsunterricht über die Grundlagen des Überwachens stattfinden sollte. Als er an den älteren Arbeitern vorbeikam, die zusammen vor der kalten Feuerstelle saßen, fing er einen Gesprächsfetzen auf.
»... Ridenow ...«
»... wer ihn wohl geschickt hat?«
Als sie ihn bemerkten, brachen die beiden das Gespräch ab. Die dunkeläugige Marella blickte zu Carolin auf und lächelte. Sie war nur ein paar Jahre älter als er und hatte beim Mittsommerfest, einen Zehntag, nachdem er in Arilinn eingetroffen war, mit ihm geflirtet. Trotz seiner Bemühungen, sich anständig zu verhalten, hatte sie eine Weile in seinen Träumen eine große Rolle gespielt. Carolin wusste, dass sie sich ihrer Wirkung auf ihn vollkommen bewusst war, denn am Hof seines Großvaters war er schon öfter das Ziel weiblicher Verführungsversuche gewesen. Die Kombination von Jugend, gutem Aussehen und einer Krone zog die Damen an wie eine Honigwabe Skorpionameisen. Nur mit seiner Verwandten Maura Elhalyn und mit Jandria, der Base seines Pflegebruders Orain, konnte er unbeschwert umgehen, aber sie waren zu Hause in Carcosa.
Der Mann, mit dem Marella sich unterhalten hatte, ein älterer Arbeiter namens Richardo, der sein steinernes Gesicht nie zu einem Lächeln verzog, stand auf. Er nickte Carolin zu und eilte davon. Marella errötete und folgte ihm, sodass Carolin keine Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen.
Das war vielleicht auch ganz gut so. Er war lange genug in Arilinn gewesen, um zu wissen, dass Telepathen anderen Anstandsregeln folgten als gewöhnliche Menschen. Vieles konnte nicht geheim bleiben, zum Beispiel sexuelle Anziehung. Wenn Menschen in solcher Intimität zusammenlebten, konnte schon ein flüchtiger Körperkontakt ebenso viel Ärger hervorrufen wie ein offener Angriff. Aber keine der Anstandsregeln des Turms half gegen Carolins angeborene Neugier. Es war ein Makel, gegen den er schon lange und ohne großen Erfolg ankämpfte.
Obwohl Carolins Familie, die Hasturs von Carcosa, den Herrn des Lichts anbeteten, wie es sich für Comyn gehörte, hatte er auch die Lehren der Cristoforos studiert. Ein Gebet war ihm im Hinblick auf seinen eigenen Charakter besonders angemessen erschienen: Gewähre mir, o Träger der Lasten der Welt, zu wissen, was zu wissen du mir gewährst ... Manchmal bedeutete das, seine Nase aus Angelegenheiten herauszuhalten, die dieser Nase – oder gar dem ganzen Kopf – gefährlich werden konnten. Bei anderen Gelegenheiten, wie dieser, schien das Gebet nahe zu legen, dass es richtig und verantwortungsbewusst war herauszufinden, was los war, auch wenn es sich über das Wie und Wann ausschwieg.
Am Hof seines Onkels verging kaum ein Augenblick ohne Intrigen. Politische Unterströmungen waren so zahlreich und wechselhaft wie Staubpartikel in der Luft. Carolin hatte gelernt, geduldig zu sein – und dass eine leere, unschuldige Miene recht nützlich sein konnte. Er würde es mit der Zeit schon herausfinden.
Carolin konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag: Sternenstein-Übungen für Anfänger. Der Unterricht fand in einem kleinen, luftigen Zimmer statt, das im Frühsommer, als er in Arilinn eingetroffen war, angenehm gewesen war, sich jetzt aber einfach nur zugig anfühlte. In einem weiteren Monat würden sie hier alle zusätzliche Kleidung gegen die Kälte tragen müssen.
Er nahm zusammen mit den anderen Schülern, drei jungen Männern, die er nicht gut kannte, seinen Platz am Arbeitstisch ein. Ihre Lehrerin war Cerriana, eine junge Frau mit feuerrotem Haar, die keinerlei Interesse an Jungen im Alter ihres kleinen Bruders hatte. Sie arbeitete als Überwacherin, während sie ihre eigene Ausbildung fortsetzte.
Valentina, die jüngste der Novizen, war nicht anwesend. Vielleicht war sie wieder krank. Wie viele aus ihrer Familie, den Aillards, war sie von zarter Gesundheit, und man hatte Valentina in der Hoffnung nach Arilinn geschickt, dass sie die Schwellenkrankheit mit kundiger Hilfe vielleicht überleben würde. Carolin hatte selbst ein wenig unter dieser Krankheit gelitten und ein paar Monate mit Übelkeit, Schwindelgefühl und aufbrausendem Temperament hinter sich. Man hatte ihm erzählt, dass die gleiche Krankheit bei Schülern mit ausgeprägterem Talent oft lebensbedrohlich wurde. Die Kombination von erwachendem Laran und der sexuellen Energie der Heranwachsenden, die durch die gleichen Energon-Kanäle im Körper verliefen, konnte zu fatalen Überladungen führen. Fidelis, der oberste Überwacher, hatte erwähnt, dass Laran sich höchstens ein- oder zweimal in einer Generation schon früher zeigte, und nur wenn es von außergewöhnlicher Kraft war. In diesen Fällen erwachte das Laran bereits in der Kindheit und so vollständig und unbeschwert, dass es keine Probleme gab.
Mit der für sie typischen methodischen Sorgfalt führte Cerriana die Schüler durch die Übungen dieses Morgens. Zunächst holten alle ihre Sternensteine heraus und begannen wie üblich damit, sie einfach nur anzuschauen und die Muster von blauem Licht zu beobachten.
Wie alle Angehörigen seiner Familie hatte Carolin einen Stein von hervorragender Qualität erhalten, von mittlerer Größe, aber schön geschnitten, klar und schwach leuchtend. Als er ihn nun in die nackte Hand nahm, wurde der Stein wärmer. Sein Sternenstein war erheblich heller geworden, seit er in Arilinn war, das Leuchten intensiver. Manchmal spürte er die kristalline Struktur, die seine eigenen natürlichen Fähigkeiten konzentrieren und stärken würde. Cerriana sagte, je mehr er mit dem Stein arbeitete, desto besser würde sich der Stein auf ihn einstimmen.
Nach diesen Vorübungen legte Cerriana ein paar Gegenstände vor sie auf den Tisch, Federn, dünne Silbermünzen, kleine hölzerne Würfel und Pflöcke, und verteilte sie unter die Schüler. Die Aufgabe bestand darin, den Geist mit Hilfe der Sternensteine auf den Gegenstand zu konzentrieren, mit dem Ziel, den Gegenstand entweder schweben zu lassen oder über den Tisch zu schieben.
Carolin als Anfänger arbeitete immer noch mit Federn. Als man ihm die Aufgabe zum ersten Mal gestellt hatte, war es ihm unmöglich vorgekommen, aber nun begann er langsam zu begreifen, worum es ging, obwohl es ihm immer noch nicht gelungen war, die Feder auch nur zum Beben zu bringen. Er hatte den Fehler gemacht, sie direkt anzuschauen, als könnte er sie durch reine Willenskraft schweben lassen. Jetzt sah er sie nur lange genug an, um sich ihr Aussehen einzuprägen: die Größe, die Farbe, die Biegung des Kiels, die Struktur der Daunen. Dann schaute er tief in seinen Sternenstein und schuf ein geistiges Bild der Feder. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Luft darunter sich erhob, ähnlich den Hitzewellen über einem Feld im Sommer.
Die Feder bebte und kippte zur Seite. Carolin spürte winzige Luftströmungen, die sich gegen ihr Gewicht stemmten. Diesmal beschloss er, die Aufmerksamkeit auf die Luft zu richten, die nach oben wirbelte.
Soll die Feder doch gehen, wohin sie will, sagte er sich.
Die Luft fühlte sich heiß und aufregend an. Er dachte an Sturmwolken, Berge aus grau werdendem Weiß, die sich blähten und bald den ganzen Himmel erfüllten. Ein Geschmack und rasches Licht wie von einem Blitz zuckten durch seine Sinne.
»Carolin!«
Er fuhr zusammen, und sein Blick wurde wieder klar. Die Feder lag immer noch auf dem Tisch. Dann begann sie zu brennen.
Herr des Lichts!
Ohne nachzudenken schlug Carolin nach der Feder. Die Flammen gingen sofort aus, aber er verbrannte sich die Finger. Mit einem leisen Aufschrei umklammerte er seine Hand. Sein Sternenstein rollte über den Tisch. Cerriana fing ihn auf, bevor er von der Kante fallen konnte.
Feuer brach in Carolins Schädel aus. Er konnte seine verbrannte Hand nicht mehr spüren. Einen schrecklichen Augenblick erstarrte seine Lunge, und er konnte nicht atmen. In der Ferne hörte er wirre Stimmen.
Im nächsten Augenblick wurde ihm etwas Kleines, Kühles in die Hand gedrückt. Nun konnte er wieder atmen. Auch sein Augenlicht kehrte zurück, und er sah Cerrianas Augen. Sie waren dunkel vor Sorge. Ihre Hand lag auf seiner und bog seine Finger um den Sternenstein.
»Was ...« Was ist geschehen?
»Ich habe deinen Sternenstein berührt. Ich muss dich jetzt überwachen, um mich zu überzeugen, dass du keinen Schaden genommen hast.«
Carolins Augen brannten, und er war zutiefst erschüttert. Er war dankbar, als Cerriana die anderen Schüler wegschickte. Er wollte einfach nur allein sein. Er umklammerte den Sternenstein und drückte ihn ans Herz. Die Finger, mit denen er die brennende Feder berührt hatte, taten weh. Die Muskeln in seinem Bauch zuckten. Aber er war ein Hastur und Erbe des Throns, und es gehörte sich nicht, sich wie ein jammerndes Kind zu benehmen.
Es war nur ein Augenblick vergangen. Cerriana wartete. Als Überwacherin, die in Arilinn ausgebildet worden war, beachtete sie die Regeln peinlich genau. Das hier war kein Notfall; sie würde nicht gegen Carolins Willen in die Energiefelder seines Körpers eindringen. Schließlich hob er den Kopf und bedeutete ihr, dass er bereit war.
Als sie arbeitete, durchfluteten Erleichterung und Wohlgefühl seinen ganzen Körper. Gereizte Nerven entspannten sich, die Verbrennungen an seinen Fingern kühlten sich ab. Sein Herzschlag wurde regelmäßiger, und er konnte wieder freier atmen.
Kurze Zeit später verkündete sie mit einem Lächeln, dass ihm weder das Feuer noch ihr zufälliger Kontakt mit seinem Sternenstein Schaden zugefügt hatten.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Carolin. Körperlich ging es ihm gut genug, wenn man von der schwächer werdenden Hitze an seiner Handfläche einmal absah, aber er konnte immer noch nicht wieder richtig denken. Sein Kopf schien voller Daunen zu sein. »Auch andere haben schon meinen Stein berührt – Hanna zu Hause, du und Fidelis und Auster hier. Es ist nie zu einer solchen Reaktion gekommen.«
»In diesem Stadium ist es auch für gewöhnlich recht sicher«, antwortete Cerriana. »Nur wenige Novizen sind intensiv genug auf ihren Stein eingestimmt, dass es ein Risiko wäre, wenn ein ausgebildeter Überwacher den Stein berührt. Zu Beginn des Unterrichts heute traf das auch für dich zu. Aber was du getan hast, muss den Prozess beschleunigt haben.«
Sie sah nachdenklich aus. »Manchmal gibt es einen Stillstand in der Laran-Entwicklung, und dann einen Kaskaden-Effekt. Der Kontakt mit einem Telepathen, der als Katalysator fungiert, kann so etwas verursachen.«
Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn jetzt wieder etwas gefasster. »Hör gut zu, Carolin. Das hier ist sehr wichtig. Nun, da du auf deine Matrix eingestellt bist, darfst du sie von keinem anderen außer einem Bewahrer berühren lassen, und auch dann sollte es dein eigener Bewahrer sein. Ich kann das nicht deutlich genug betonen. Obwohl ich dazu ausgebildet bin, das körperliche und geistige Wohlbefinden der mir Anvertrauten zu überwachen, bin ich nur eine Überwacherin. Ich hätte dich selbst mit den besten Absichten ernsthaft verletzen können. Der einzige Grund, wieso das nicht geschehen ist, besteht darin, dass ich deinen Stein nur einen kurzen Augenblick festgehalten habe. Verstehst du das?«
»Oh«, sagte er mit einem dünnen Lächeln. »Ich habe nicht vor, diese Erfahrung zu wiederholen.«
Mit immer noch leicht zitternden Händen steckte er den Sternenstein zurück in den Beutel isolierender Seide.
Cerriana nickte ernst. »Ich glaube nicht, dass du die Fähigkeit zur Psychokinese hast. Es bleibt allerdings die Frage, ob du dazu begabt bist, Feuer zu entfachen, oder ob das hier ...« Sie zeigte auf die Überreste der verbrannten Feder auf dem Tisch. »... nur durch die Energien entstanden ist, als du deinen Sternenstein auf dich abgestimmt hast.«
»Nun«, sagte Carolin mit seiner üblichen Unbeschwertheit, »beides wäre allemal besser, als weiter diese verdammten Federn anzustarren.«
Am nächsten Morgen machten sich Carolin und Eduin zusammen mit einem Kyrri auf nach Arilinn-Stadt, wo sie den Markt besuchen wollten. Da nur Nichtmenschen und Comyn den Schleier durchdringen konnten, wechselten sich alle bei den täglichen Haushaltsarbeiten ab, und selbst die jüngsten Novizen machten mit. Der Herbsttag war frisch. Der Regen der vergangenen Nacht hatte allen Staub aus der Luft gewaschen, und die Stadt glitzerte. Hinter ihr ragten die Zwillingsgipfel mit schimmernden Spitzen auf.
Carolin blieb an der Stelle stehen, wo der Ridenow-Junge gestanden hatte. Auf dem von Jahrhunderten glatt geschliffenen Stein war zwar keine sichtbare Spur geblieben, kein Fleck und keine andere Markierung, aber Carolin spürte dennoch so etwas wie eine Präsenz, so intensiv, dass er hätte schwören können, dass sich tatsächlich jemand hier aufhielt. Bilder zuckten durch seinen Kopf, halb Erinnerung, halb etwas anderes. Wieder sah er den Jungen vor sich, nicht so jung, wie er zunächst angenommen hatte, nur dünn und klein für sein Alter, das Gesicht bleich und sehr ernst.
Während Carolin zusah, veränderten sich Varzils Züge zu denen eines älteren Jungen, dann eines reifen Mannes. Er war immer noch schlank, hielt sich aber mit dem ruhigen Selbstvertrauen, das Carolin von erfahrenen Schwertkämpfern kannte. Silber glitzerte in seinem Haar, und er hatte Falten um Augen und Mund. Ein Ausdruck von Mitgefühl, verwoben mit Traurigkeit, lag auf seinen Zügen. Er trug ein dunkles, locker gegürtetes Gewand, aber Carolin konnte die Farbe nicht erkennen, denn nun verblasste die Vision wieder. Varzil hob eine Hand zum Gruß, und ein Edelsteinring blitzte weiß.
Dann verschwand die Vision, und Carolin stand da, mit seinem Marktkorb in der Hand.
»Mach schon, Carlo«, sagte Eduin. Er benutzte den Spitznamen aus Carolins Kinderzeit, obwohl sie einander nicht besonders gut kannten. Carolin war erst ein paar Monate in Arilinn, während Eduin seine Ausbildung bereits vor vier Jahren begonnen hatte. Das hatte genügt, dass Eduin sich seines eigenen Werts sehr bewusst war. Er würde in den Türmen bleiben und wahrscheinlich ein sehr fähiger Matrixmechaniker oder Techniker werden, vielleicht sogar ein Bewahrer, wenn er sich der Disziplin unterwerfen würde.
Carolin blieb zurück. Er zweifelte nicht an dem, was er gesehen hatte. Er war kein Laranzu, aber in seinen Adern floss echtes Comyn-Blut. Die geistige Macht war für ihn ebenso wirklich wie alles, was er anfassen konnte, und daher konnte er jetzt nicht mehr einfach mit den alltäglichen Aufgaben dieses Morgens fortfahren, als wäre nichts geschehen.
»Geh voraus«, sagte er zerstreut. »Ich komme gleich nach.«
»Aber Carlo, wir sind ohnehin schon spät dran! Die besten süßen Kürbisse werden schon weg sein.«
»Nicht, wenn du sie als Erster erwischst!«
Eduin ging davon, und der Kyrri folgte ihm. Ein paar Minuten später war Carolin wieder im Turm und im Flur, der zu den Gemächern des Bewahrers führte. Zwei ältere Techniker wollten gerade hineingehen. Einer war Gavin Elhalyn, dessen Stellung im Turm beinahe der von Auster entsprach. Er war auch ein entfernter Verwandter von Carolin.
»Ich muss mit Auster sprechen«, erklärte Carolin. »Es ist wichtig.«
Gavin verzog das Gesicht, eindeutig hin- und hergerissen zwischen seiner Verantwortung und der Blutsverwandtschaft mit Carolin. Er war Comyn und Laranzu, aber Carolin würde eines Tages König sein.
Lerrys reagierte als Erster. »Was immer es auch sein mag, Junge, es kann warten. Auster persönlich hat uns zu sich gerufen.«
Carolin verkniff sich eine Antwort, erkannte aber zu spät, wie sinnlos das war. Immerhin befanden sie sich in einem Turm, in dem die Leute im Geist so frei sprachen wie mit ihrem Mund. Er verstand langsam, wieso man ihn nach Arilinn geschickt hatte. Es ging nicht darum, sein bescheidenes Laran zu kultivieren, sondern ihn auf die hohen Anforderungen des Königtums vorzubereiten. Zu Hause hatte er gelernt, auf seine Worte zu achten; hier im Turm würde er lernen, sogar seine Gedanken zu beherrschen.
»Schon gut.« Auster öffnete die Tür. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Erschöpfung ab, aber seine Augen strahlten wie stets. »Carlo wird uns nur immer wieder plagen, bis er losgeworden ist, was er sagen wollte. Das liegt in der Familie. Die Hasturs haben nie leicht aufgegeben. Kommt herein, alle, und ich werde den Jungen gleich anhören.«
Auster kehrte zu seinem üblichen Platz, einem gepolsterten Sessel, zurück. Die beiden anderen Männer stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, als warteten sie auf Befehle.
Solange er Auster als einen entfernten Vetter seiner Tante Ramona Castamir betrachtet hatte, hatte Carolin nicht daran gezweifelt, dass er mit seiner Bitte Erfolg haben würde. Aber nun leuchtete Austers scharlachrotes Amtsgewand im Licht, das von den Überresten des kleinen Feuers ausging, welches gegen die Kälte der Herbstnacht entzündet worden war. Carolin erinnerte sich daran, dass er einen der mächtigsten Männer auf Darkover vor sich hatte, und innerhalb der Mauern des Turms war Austers Wort alles, was zählte.
Es gibt mehr als nur eine Art von Macht, sagte er sich. Genau, wie es mehr als nur eine Art von Wahrheit gibt.
Ein vierter Mann wartete bereits im Zimmer und machte einen sehr ungeduldigen Eindruck. Carolin erkannte ihn nicht, bemerkte nur die Qualität seiner Kleidung: eine gesteppte Samtjacke mit Pelzbesätzen, Reithosen aus dicker Wolle über Stiefeln aus butterweichem Leder, feine Spitze an den Manschetten und am Hals sowie eine Kette aus Gold- und Kupfergliedern um seinen Hals. Carolin wusste sofort, dass er einen Mann von Autorität vor sich hatte.
Der Mann selbst bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. Etwas wisperte wortlos durch Carolins Kopf. Die Miene des Mannes veränderte sich nicht, aber Carolin spürte die innere Veränderung, konnte beinahe seine Gedanken hören: Das ist also der Hastur-Welpe.
Carolin, verblüfft über die feindselige Unterströmung, ließ sich einen Moment Zeit, um das Gesicht des älteren Mannes zu betrachten. Hatte er einen Feind vor sich? Seine Lehrer hatten ihm stets eingeschärft, sich sowohl Namen als auch Erscheinungsbild von Menschen zu merken. Aber nein, er konnte keine Spur von etwas Vertrautem erkennen.
In diesem Augenblick verspürte er das Aufwallen angestrengt beherrschten Zorns. Wie können sie es wagen? Wie können sie es wagen, an meinen Absichten zu zweifeln?
Weder Auster noch Gavin ließen sich anmerken, dass sie die Gedanken des Mannes gespürt hatten, aber der ganze Raum vibrierte vor Spannung.
»Ich habe es Euch bereits gesagt«, erklärte der ältere Mann. »Mein Sohn ist aus eigenem Entschluss gekommen, ohne mein Wissen oder meine Zustimmung.« Und nur Aldones weiß, wie viel Ärger wir dadurch haben werden! »Nichts, was Ihr sagen könnt, wird meine Entscheidung ändern.«
»Ihr... Ihr seid der Vater des Jungen, der heute früh hier war, um in den Turm aufgenommen zu werden«, sagte Carolin.
Der Mann nickte und antwortete höflich: »Ich bin Felix Ridenow.«
»Wir danken Euch, dass Ihr so freundlich wart, mit uns zu sprechen«, erklärte Auster. »Und wir werden selbstverständlich alle Faktoren bedenken, die in diesem Fall eine Rolle spielen.«
»Es gibt nichts weiter zu bedenken, Vai Tenerézu. Das unüberlegte Abenteuer meines Sohns ist vorüber. Er kehrt mit mir nach Hause zurück wie geplant. Ich wünsche Euch einen guten Tag.«
Gavin und Lerrys eskortierten Dom Felix mit makelloser Höflichkeit und ebenso unmissverständlichem Misstrauen aus dem Zimmer.
Was war hier los? Mit einem Schaudern wurde es Carolin klar. Ganz gleich, wie begabt dieser Varzil sein mag, sie misstrauen ihm einfach, weil er ein Ridenow ist! Und sein eigener Vater will ihn nicht in den Turm lassen, und das ebenfalls aus politischen Gründen. Diese Fehde hätte schon lange beigelegt werden müssen!
Carolin war mit höfischen Intrigen aufgewachsen, aber er hatte immer geglaubt, dass die Türme über solche Kleinlichkeiten erhaben waren. Die Ungerechtigkeit brannte wie Gift unter seiner Haut.
Varzil war so voller Leidenschaft gewesen. Selbst von seiner Position oben auf dem Balkon hatte Carolin das gespürt. Varzil war durch den Schleier geschritten und hatte auf diese Weise bewiesen, dass er von reinem Comyn-Blut war; und die Kyrri hatten ihm geantwortet. Das taten sie nicht oft. Und nun tat Auster sein Potenzial und all diese Entschlossenheit einfach ab, verhörte diesen würdigen Mann, den Vater des Jungen, und das alles aus politischen Gründen – es war einfach ungerecht! Und mehr als das, es war nicht ehrenhaft.
Auster verlagerte das Gewicht und bedeutete Carolin sich hinzusetzen. »Du machst dir Sorgen um den Ridenow-Jungen?«
Carolin setzte sich und nickte. »Ich weiß, es steht mir nicht zu, Eure Entscheidungen in Frage zu stellen, aber es ist ... es ist falsch, ihn wegzuschicken.«
»Falsch?« Auster zog die Brauen hoch, aber nicht im Zorn.
Carolin, der wusste, dass Auster die Emotion hinter seinem Gedanken auffangen würde, wenn schon nicht die genauen Worte, sah dem Bewahrer direkt ins Gesicht. »Ich denke einfach, dass es ungerecht ist, ihm wegen seiner Herkunft nicht einmal eine Chance zu gehen.«
»Ausgerechnet du, ein Hastur, sagst so etwas?«
Carolin wurde zornig. Kann ich denn nie vergessen, wer ich bin? Muss ich meine Freunde entsprechend ihrer Herkunft wählen statt nach ihrem Charakter? »Ich spreche davon, was richtig ist, nicht unbedingt von dem, was ratsam wäre. Ist es nicht besser, in dieser Sache langfristig zu denken? Immerhin heißt es, die einzige Möglichkeit, einen Feind wirklich zu eliminieren, besteht darin, ihn zu einem Freund zu machen.«
Auster lehnte sich im Sessel zurück. »Es heißt auch, man sollte schlafende Banshees nicht wecken. In diesem Fall hat der eigene Vater des Jungen verboten, dass er herkommt, und wir wagen es nicht, uns dagegenzustellen.«
»Was ist mit Varzils eigenen Wünschen – was ist mit seinem Schicksal? Lasst Ihr, der Bewahrer von Arilinn, Euch von einem schlichten Ridenow-Lord einschüchtern?«
»Carlo, jetzt bin ich es, der dich daran erinnern muss, langfristig zu denken. Sich gegen die ausdrücklichen Wünsche eines Vaters zu stellen, könnte allen Beteiligten unermesslichen Schaden zufügen. Lass die Sache ruhen. Sollen die Gefühle sich ein wenig abkühlen. Halte dich an die Disziplin der Arbeit. In ein paar Jahren wird der Junge seinen Frieden mit der Entscheidung seines Vaters gemacht haben, und kein Schaden wird daraus erwachsen.«
»Im Gegenteil, es wird großer Schaden entstehen!« Carolin schüttelte den Kopf. Wie konnte es möglich sein, dass Auster und die anderen das nicht erkannten? Wenn Varzil ein gewöhnlicher Junge wäre, würde er seinen Kindertraum vielleicht vergessen, aber er war alles andere als das. Carolin hatte die Stärke seines Laran, diese Leidenschaft, genau gespürt, die für Gutes wie für Schlechtes eingesetzt werden konnte.
Er ist wichtig. Für mich und für ganz Darkover.
Etwas in Austers Blick sagte Carolin, dass der Bewahrer den Gedanken gespürt hatte.
Einige Hasturs haben die Begabung der Voraussicht. Nun kommunizierte Auster von Geist zu Geist. Es heißt, dass Allart Hastur, der den Frieden zwischen deinem Clan und den Ridenows geschmiedet hat, in die Zukunft schauen konnte. Hier steht mehr auf dem Spiel als das Schicksal eines einzelnen Heranwachsenden.
Ja!, erwiderte Carolin. Ja, genau! Er holte tief Luft. Und ich werde alle Macht meines Ranges nutzen, um dafür zu sorgen, dass er seine Chance erhält.
Auster schüttelte abermals den Kopf. »Ich rate dir, dich herauszuhalten. Es ist das Beste für alle, diesen Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen.«
»Und zu gestatten, dass die Animositäten längst vergangener Generationen unser gesamtes gegenwärtiges Leben bestimmen?«, entgegnete Carolin heftig.
»Du bist niemand, der es sich leisten kann, nur an sich selbst zu denken«, erinnerte Auster ihn. »In einigen Dingen können nicht einmal die Könige der Hasturs ihren Willen haben. Die Welt wird weitergehen, wie sie will, und nicht wie du oder ich – oder sogar dieser Ridenow-Junge – es haben wollen.«
»Ich verstehe genau, was Ihr sagen wollt, Auster. Ich weiß sehr gut, was hier auf dem Spiel steht, und ich habe nicht vor, das ganze Land mit Krieg zu überziehen. Aber es muss eine andere Möglichkeit geben!«Und ich werde sie finden!
»Bedenke die Konsequenzen. Wenn du dich einmischst, Carolin Hastur, wirst du dafür verantwortlich sein, was dabei herauskommt, sei es nun gut oder schlecht.«
»Dann ist das meine Entscheidung und meine Bürde.« Carolin reckte das Kinn vor. »Kann denn nichts, was ich sage. Euch überzeugen?«
»Oh«, sagte Auster, und der Hauch eines Lächelns zuckte um seine Mundwinkel. »Das hast du bereits getan. Wenn dieser Junge mit dem Segen seines Vaters zu uns zurückkehrt, werden wir ihn selbstverständlich willkommen heißen, ob er nun ein Ridenow ist oder nicht. Gib dich damit zufrieden.«
Carolin wusste, wann er entlassen war. Zumindest hatte Auster ihm eine Spur von Hoffnung gelassen. Wenn er schon das Denken von Auster und Dom Felix nicht direkt beeinflussen konnte, konnte er zumindest jede andere Gelegenheit nutzen, die sich ihm bieten würde. Und er war sicher, dass es davon noch einige geben würde.