Читать книгу Zandrus Schmiede - Marion Zimmer Bradley - Страница 18
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ОглавлениеEin gewaltiger altersdunkler Thron stand auf dem Podium und ragte über der versammelten Menge auf. Eingelegter Silberdraht betonte an den Armlehnen und an der Rückenlehne die geschnitzte Weißtanne der Hasturs und kontrastierte mit den dicken blauen Kissen.
Der Thron war so riesig, dass die Gestalt darauf aussah wie eine Puppe, die ein Kind vergessen hatte. Einen Augenblick konnte Varzil kaum glauben, dass dieser alte Mann tatsächlich Felix Hastur sein sollte, der Herrscher des mächtigsten Königreichs auf Darkover. Er hatte jemanden von heroischerem Aussehen erwartet, aber was wusste er schon von Königen? Wie jeder andere hatte er Geschichten darüber gehört, dass Felix Hastur emmasca war, weder männlich noch weiblich. Solche Personen lebten oft lange und waren hoch begabt, aber sie waren steril. Daher musste Felix’ Erbe der älteste Sohn seines nächstjüngeren Bruders sein, weil er selbst keine Kinder hatte. Seine beiden Ehen hatten zu keiner einzigen Schwangerschaft geführt, und es hatte auch niemand je davon gehört, dass er einen Nedestro-Sohn gezeugt hätte.
Es war schwer zu glauben, dass Carolins Vater der Bruder dieses uralten Königs gewesen sein sollte, obwohl Carolin schon erklärt hatte, dass zwischen den beiden ein Altersunterschied von beinahe zwei Jahrzehnten lag. Deren Vater, der vor Felix in Carcosa geherrscht hatte, hatte mehrere Frauen überlebt und noch Söhne gezeugt, als Männer gleichen Alters längst im Grab lagen.
König Felix mochte einmal ein imponierender Mann gewesen sein, aber nun hing die Haut über seinen Knochen wie ein zu großes Kleidungsstück, das man gepudert und zum Trocknen aufgehängt hatte. Hinter ihm stand in respektvoller Haltung eine Reihe von Würdenträgern. Die meisten waren grauhaarig und ernst und trugen Gewänder aus Pelz und edelsteinfarbenem Samt.
Das mussten seine Berater sein, dachte Varzil, oder Verwandte, besonders die beiden jungen Männer mit dem roten Haar der Comyn, die ihm am nächsten standen, wo Felix sie gut hören konnte. Irgendwie erinnerten sie Varzil an ein Rudel von Hunden, das einen alten Wolf umkreist, aber nicht recht weiß, wie stark das Tier noch ist, und kein Risiko eingehen will, sondern wartet. Wartet ...
Der König richtete sich in seinem Thron auf. Er hob eine altersfleckige Hand und zeigte mit dem knochigen Finger auf Eduin und Varzil. Es wurde still im Raum.
»Wo ist mein Bruder Gerrel?«, fragte König Felix nörgelnd. »Warum ist er nicht hier, um mir aufzuwarten?«
Einer der jungen Männer neben dem Thron beugte sich näher zu dem alten Mann. Sein hervorragend geschnittener Samt konnte nicht ganz seinen kräftigen Körperbau verbergen, und erst recht nicht die Röte seiner Wangen und die geschwollene Haut unter seinen ruhelosen Augen. Obwohl er leise und beruhigend sprach und seine Worte nur für den König gedacht waren, begriff Varzil, was er sagte: »Euer Majestät mögen sich erinnern, dass Prinz Gerrel seit zwölf Jahren tot ist. Das hier sind Prinz Carolins Freunde, die aus Arilinn mit ihm gekommen sind, um das Mittwinterfest mit uns zu feiern.«
»Oh?« Etwas flackerte in den verschwiemelten Augen, und Varzil spürte die scharfe Aufmerksamkeit, das Selbstvertrauen von einem Jahrhundert oder mehr unwidersprochener Herrschaft. »Ja, selbstverständlich. Wir müssen die Gastfreundschaft der Hasturs demonstrieren und sie angemessen willkommen heißen. Carolin, mein Junge, komm her. Du bist zu lange weg gewesen.«
Carolin blieb vor dem Podium stehen und verbeugte sich mit makellosem Respekt, dann stieg er hinauf und küsste König Felix auf die Wange. Seine natürliche Unbeschwertheit und die deutliche Zuneigung zu dem alten Mann glätteten den Augenblick des Unbehagens.
»Jetzt bin ich zu Hause, Onkel. Ich habe meine Zeit in Arilinn abgeschlossen und alles gelernt, was sie mir beibringen konnten, wie es sich für einen Prinzen von Hastur gehört. Deshalb hast du mich schließlich dorthin geschickt. Ich habe meine neuen Freunde mitgebracht, um sie dir vorzustellen.« Carolin winkte Varzil und Eduin zu, sich dem Thron zu nähern.
Das Gesicht des alten Mannes hatte bei Carolins ersten Worten aufgeleuchtet, aber nun starrte er die beiden jungen Männer an. Seine Augen waren beinahe farblos, was auf die legendäre Chieri-Abstammung der Hasturs hinwies.
Er ist lange schon König, dachte Varzil. Es steht mir nicht zu, jemanden zu verurteilen, auf dem das Gewicht so vieler Jahre so schwer lastet.
So alt und müde er sein mochte, um Hasturs und daher ganz Darkovers willen musste dieser gebrechliche alte Mann irgendwie die Kraft aufbringen weiterzumachen, bis sein Neffe in der Lage war, den Thron zu übernehmen. Es war schon öfter passiert, dass junge Männer wie Carolin plötzlich Machtpositionen einnehmen mussten und den Intrigen jener zum Opfer gefallen waren, deren Ehrgeiz weit über ihren Stand hinausging. Carlo ist zu vertrauensselig, dachte Varzil. Und dieser Hof ist nicht der richtige Platz für ein so großzügiges Herz. Er wird treue Freunde brauchen. Aber wer in dieser gelackten, parfümierten Menge konnte schon als Freund zählen?
Wieder sagte König Felix etwas, und Varzil konzentrierte sich auf ihn. Es dauerte einen Augenblick, bis die Menge still genug war, dass er seine Worte hören konnte.
»... königliches Vergnügen anzukündigen, dass die Hochzeit von Prinz Carolin und Lady Alianora Ysabet Ardais beim nächsten Mittsommerfest stattfinden wird...«
Varzil warf seinem Freund einen Blick zu. Ein ältlicher Höfling wandte sich an seinen Nachbarn und sagte: »Was für eine Erleichterung, dass es jetzt endlich beschlossen ist! Selbstverständlich ist sie eine hervorragende Partie. Sie wird das gesamte Grenzland am Scaravel erben.«
»Ja, das wird die Region stabilisieren«, erwiderte sein Bekannter nickend.
An diesem Punkt erhob sich spontaner Jubel. Carolin wandte sich der Menge zu und verbeugte sich. Varzil konnte die Gedanken seines Freundes nicht spüren und nichts hinter diesem strahlenden Lächeln erkennen.
Carolin war wie jeder junge Mann seines Standes verlobt worden, sobald es sicher war, dass er die Kindheit überleben würde. Sein Pflegebruder Orain war nicht nur verheiratet, sondern hatte bereits einen Sohn. Varzil selbst hatte man nur wegen seiner kränklichen Konstitution noch nicht verlobt. Wäre die Rettung Haralds vor den Katzenwesen nicht dazwischengekommen, hätte sich sein Vater vermutlich kurz nach seiner Präsentation beim Comyn-Rat daran gemacht, eine angemessene Verbindung für ihn zu finden. So ging es in der Welt nun einmal zu.
Carolin hatte die Verlobung nie erwähnt, was annehmen ließ, dass er das Mädchen kaum kannte. Auch das entsprach dem allgemeinen Brauch. Varzils Eltern hatten einander vor ihrem Hochzeitstag nie gesehen und dennoch gut miteinander gelebt und sechs Kinder gehabt, von denen vier überlebt hatten. In solch unsicheren Zeiten konnte man nicht mehr erwarten. Zumindest, wenn man ein gewöhnlicher Mann war.
Aber Carolin war nicht gewöhnlich. Er hatte genug Laran, um in einem Turm ausgebildet zu werden, und sein ganzes Wesen – leidenschaftlich, idealistisch, der Ehre und dem Lernen verpflichtet –unterschied ihn vom Durchschnitt.
Varzil hatte zwar in Arilinn noch keine Geliebte gefunden, aber er wusste, wie unmöglich es war, dass ein Telepath körperliche Intimität erreichte, wenn es keine Sympathie des Geistes gab, keine direkte Kommunikation des Herzens. Es wäre, als würde man sich mit einem Tier vereinen. Er wusste, dass er zu so etwas nicht imstande sein würde.
Varzil sah zu, wie Carolin die Glückwünsche seiner königlichen Vettern entgegennahm, und verspürte Enttäuschung und Trauer. Sein Freund hatte sich bereits über die Welt hinausbegeben, die sie geteilt hatten, und befand sich an einem Ort, an den er ihm nicht folgen konnte und wollte.
Nachdem der Empfang noch einige Zeit weitergegangen war, zog sich der König schließlich in seine Gemächer zurück, wo er später an diesem Abend mit seiner Familie und seinen Gästen das Abendessen einnehmen würde. Die Höflinge und Festtagsgäste, die im Schloss wohnten, würde man im alten Stil an Dielentischen bewirten, die in dieser Haupthalle aufgestellt würden. Sobald König Felix den Saal verlassen hatte, begannen Diener, eifrig hin und her zu eilen und dies vorzubereiten. Maura, Jandria und Orain verschwanden im Gedränge.
Höflinge standen in kleinen Gruppen beieinander, und Varzil bemerkte, dass alle auf irgendwelche Vorteile aus waren. Es gab sehr subtile Unterscheidungen, wer wen grüßte oder wer sich als Erster zurückzog. Er belauschte Gesprächsfetzen. Zwei elegant gekleidete Damen mit dem Tartan der Hasturs von Carcosa spekulierten mit schrillen Stimmen über die Probleme genetisch rezessiver Züge der Scaravel-Ardais.
»Zumindest ist bei dieser Verbindung Inzucht kein Thema«, erklärte eine.
»Anders als bei Prinz Rakhal und Lady Maura, denn immerhin sie ist eine Elhalyn und daher eine Verwandte.«
»Aber nicht so eng«, sagte die erste Dame und tippte ihrer Freundin mit dem gefalteten Fächer auf den Arm. »Und aus dieser Verbindung kann ohnehin nichts werden, ehe sie aus dem Turm entlassen wird, und wenn Ihr mich fragt, ist das in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Es ist kein Wunder, dass er seine Aufmerksamkeit umherschweifen lässt.«
»O je! Ich war so sicher, dass sie füreinander bestimmt waren; schließlich sind sie zusammen aufgewachsen.«
»Ich bin überzeugt, wenn sie lange genug zögert, wird der König für ihn eine andere finden. Es würde mich nicht überraschen, wenn wir demnächst eine ganze Reihe von Hochzeiten sehen. Der König scheint von seiner Idee ganz begeistert zu sein. Ich muss mindestens ein Dutzend neue Kleider bestellen ...« Der Blick der Dame glitt über Varzil, als sie vorbeikam. Sie hob das Kinn, drehte sich um und schritt durch die Menge.
Der kräftige junge Mann, der König Felix an den Tod von Carolins Vater erinnert hatte, drängte sich nun durch die Menge, um Carolin zu begrüßen. Sie umarmten sich wie Verwandte.
»Das hier sind meine Freunde aus Arilinn. Mein Vetter Rakhal.« Carolin beugte sich zu Rakhal, damit dieser ihn hören konnte, ohne dass er schreien musste. »Mein Onkel – wie lange geht das schon so?«
»Es wird ihm besser gehen, wenn du jetzt hier bist«, antwortete Rakhal ebenso leise. »Ich muss ihm jetzt in seinen Gemächern aufwarten. Die Aufregung dieses Tages war eindeutig zu viel. Du weißt, er ist nicht besonders kräftig. Er hat den ganzen letzten Zehntag jeweils Stunden hier gesessen und sich Fälle angehört, die eigentlich vor die Cortes gehören. Aber ein wenig Fürsorge wird ihn schon wieder in Ordnung bringen.« Rakhal verbeugte sich und eilte zurück zum Podium.
Der zweite junge Mann blieb zurück. Varzil sah ihn neugierig an, denn die Ähnlichkeit sowohl zu Carolin als auch zu Rakhal war intensiv und ging weit über das leuchtend rote Haar hinaus. Aber er hatte sich geirrt: Diese drei waren vielleicht Blutsverwandte, aber ähnlich waren sie sich nicht. Während Carolin sich mit unbewusster Anmut hielt und Rakhal unerschütterlich wirkte und ohne Selbstbeherrschung und Bewegung vielleicht einmal fett werden würde, war dieser junge Mann dünn und nervös und wirkte unsicher. Varzil dachte, dass er von einer Ausbildungszeit in einem Turm nur profitieren könnte.
Jandria erschien Arm und Arm mit Maura, als wären sie Schwestern. Sie warf einen Blick zum leeren Podium. »Wir werden Rakhal heute Abend kaum zu sehen bekommen. Er hat fast alle persönlichen Pflichten eines Friedensmannes des Königs übernommen«, sagte sie.
»Du sagst das, als wäre das keine gute und edle Sache«, stellte der zweite junge Mann fest.
»Sei nicht so empfindlich, Lyondri!«, erwiderte Jandria.
»Wir wissen alle, wie pflichtbewusst Rakhal ist«, sagte Maura zur gleichen Zeit.
»Und falls einer von uns das zufällig vergessen sollte«, fuhr Jandria fort, ohne Atem zu holen, »wirst du uns sicher gern daran erinnern. O je! Es wird mindestens eine Stunde dauern, bis hier und in den Gemächern des Königs alles vorbereitet ist. Suchen wir Orain und machen uns davon.«
»Ich bin hier«, sagte Orain von irgendwo hinter Carolin. Er hatte sich so lautlos bewegt und war so still stehen geblieben, dass Varzil ihn nicht bemerkt hatte. Höflinge schoben sich an ihnen vorbei und murmelten Entschuldigungen.
»Rakhal lässt alle grüßen und bittet uns, ohne ihn weiterzumachen.«
»Dann lasst uns hier verschwinden, bevor wir niedergetrampelt werden.«Maura zuckte sichtlich zusammen, als ein Höfling sie streifte. »Wir sind hier direkt im Weg des Küchenverkehrs.« Sie wandte sich Lyondri zu. »Kommst du mit?«
Lyondri nickte und bot ihr seinen Arm. Jandria folgte allein, Orain ging neben Carolin her und überließ es Varzil und Eduin, ihnen zu folgen.
Eine junge Dienerin mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht sprang beiseite, um den mit Bändern verzierten Röcken einer Dame auszuweichen, und stolperte unter dem Gewicht eines riesigen Steingutkrugs. Dabei stieß sie mit Eduin zusammen, und aus dem Krug spritzte Wein in alle Richtungen, bevor das Gefäß auf den Boden krachte und dabei wunderbarerweise nicht zerbrach. Die Dienerin fiel auf die Knie und zog den Krug in eine aufrechte Position, aber es war bereits eine Lache roter Flüssigkeit entstanden. Dann blickte sie auf und sah die dunklen Flecken auf Eduins schönem Linex-Hemd und der Jacke.
»Oh!«, rief sie, und ihr Gesicht rötete sich noch stärker. »Es tut mir so Leid, Sire!«
Eduin rieb an seiner Jacke, aber es hatte keinen Zweck, die Tröpfchen waren bereits in den Stoff gedrungen,
»Oh, Sire!« Das Mädchen weinte beinahe und wurde jeden Augenblick verstörter. Mit den Händen versuchte sie, die sich ausbreitende Pfütze aufzuwischen. Dann hob sie die Hände, als wollte sie Eduins Kleidung säubern, aber er zuckte zurück.
»Du dummes ...«, rief Eduin. »Fass mich nicht an! Hast du nicht schon genug angerichtet?«
Das Mädchen wich zurück und schien auf einen Schlag gefasst.
Sie ist schon öfter geschlagen worden. Kein Dienstbote in Klarwasser wurde je geschlagen, ganz gleich, was er angerichtet hatte. Weggeschickt, ja, oder verurteilt und bestraft. Dom Felix hatte auch einmal befohlen, dass ein Mann gehängt wurde, weil er einen Brunnen vergiftet hatte, was zum Tod von zwei Kindern führte. Aber das war ein Akt bewusster Bosheit gewesen. Gegen schlichtes Pech würden Schläge wohl kaum etwas ausrichten.
»Eduin! Du verschreckst das arme Kind«, begann Varzil.
»Sieh dir diese Flecken an! Wie kann ich mit dem König dinieren, wenn ich so aussehe?«
Varzil hatte Eduin noch nie so aufgebracht gesehen, und das wegen einer solch banalen Angelegenheit. Dann erinnerte er sich, wie stolz Eduin zuvor seinen geborgten Anzug vorgeführt hatte. Varzils eigene Familie führte vielleicht ein schlichtes Leben, aber sie hatten Land und Diener, warme Kleidung, anständiges Essen und gute Pferde. Nichts Notwendiges hatte ihnen je gefehlt. Als man ihm dem Comyn-Rat vorgestellt hatte, war er nicht schlechter gekleidet gewesen als die meisten dort, und man hatte ihn als einen Gleichgestellten aufgenommen. Er war nie – und nun betrachtete er Eduin mit neuer Einsicht – arm gewesen.
Dann fielen ihm andere Einzelheiten ein. Eduins obskure Herkunft, die Gerüchte, dass seine Geburt das unwillkommene Ergebnis einer Liaison zwischen einer hochgeborenen Dame und einem Stallburschen war; selbst sein Haar, das schlammig braun war, statt eine der Rotschattierungen aufzuweisen, die bei Menschen mit Laran so verbreitet waren. Kein Wunder, dass er immer so ernst war, ja beinahe grimmig, was seinen Status in Arilinn anging. Kein Wunder, dass er so eifersüchtig auf jede Einmischung in seine Freundschaft mit Carolin reagiert hatte und Varzils schnellen Aufstieg ablehnte. Varzil konnte sich nur vorstellen, welche Narben er hinter dieser polierten Barriere verbarg, welche Angst, dass ihm das wenige, was er im Leben hatte, auch noch genommen würde.
Varzil hockte sich neben das Mädchen und konzentrierte sein Laran durch den Sternenstein. Es war recht einfach, die Oberflächenspannung des Weins zu verstärken. Statt Flüssigkeit, die sich rasch über den Kachelboden ausbreitete, war die Lache nun ein runder Fleck. Nachdem er weiter den äußeren Rand verstärkt hatte, konnte Varzil das Zeug aufheben wie einen großen Beutel Gelee und in den Krug zurückschaffen. Das Mädchen, das mit auf den Mund gedrückten Fäusten staunend zugesehen hatte, stieß einen kleinen Schrei aus. Varzil half ihr, den Krug wieder aufzuheben und auf ihren Armen zurechtzurücken. Mit einem Blick nackter Anbetung eilte sie davon.
»Pass gefälligst auf, wo du hintrittst!«, rief Eduin ihr hinterher. »Varzil, ich bin nicht der Hüter deines Gewissens, aber du hättest dein Laran nicht für so etwas verschwenden sollen. Diese Schlampe war einfach ungeschickt und hätte es selbst aufputzen sollen. Das ist die einzige Möglichkeit, dass solche Leute jemals etwas lernen.«
Varzil bezweifelte, dass öffentliche Demütigung und Schläge dem Mädchen etwas anderes beibringen würden, als dass man Adligen besser aus dem Weg ging. Er erinnerte sich an Lunillas Küchenweisheiten und sagte: »Diese Weinflecke lassen sich sicher leicht entfernen, besonders, wenn wir es machen, bevor sie eingetrocknet sind.«
Er senkte seine Laran-Barrieren als Angebot zusammenzuarbeiten.
»Ich brauche dein Mitleid nicht«, fauchte Eduin. »Und ganz bestimmt nicht deine Hilfe.«
Varzil wich überrascht zurück. Seit sie im letzten Jahr in diesem Kreis zusammengearbeitet hatten, war Eduin höflich, wenn auch nicht übermäßig freundlich zu ihm gewesen. Er hatte keine Ahnung, womit er eine solche Reaktion verdient hatte – vielleicht durch gar nichts. Vielleicht war er einfach nur ein bequemes Ziel gewesen.
Ah, dachte Varzil. Selbst in Zandrus Schmiede kann ein zerbrochenes Ei nicht wieder geflickt und die Sturheit eines Menschen nicht behoben werden, wie sein Vater so gern sagte.
»Soll ich den anderen dann sagen, dass du bald wieder zu uns stoßen wirst?«, fragte er. Unter anderen Umständen wäre er zurückgeblieben, damit Eduin nicht an einem solch verwirrenden Ort allein sein musste. Aber offensichtlich war seine Anwesenheit ebenso ärgerlich wie der fleckige Zustand des elfenbeinfarbenen Brokats.
Varzil ging den Flur zu Carolins Gemächern entlang, vorbei an Wache stehenden Gardisten und verschlossenen Türen. Maura streckte den Kopf aus der größten Tür und winkte ihm zu. »Sean«, sagte sie zu dem Wachtposten draußen, »halte nach Eduin Ausschau.«
Carolins Wohnzimmer war beinahe so groß wie die Versammlungshalle in Klarwasser. Wenn alle Suiten so geräumig waren, war es kein Wunder, dass das Schloss ein so gewaltiges Gelände bedeckte. Varzil betrachtete staunend die kunstvoll gemusterten Teppiche aus Ardcarran, die Scheiben aus hellblauem durchsichtigem Stein, so glatt und gut zueinander passend, dass sie nur durch Matrixarbeit entstanden sein konnten, die dick gepolsterten Sessel und das Sofa, den niedrigen Tisch aus Schwarzdornholz mit Einlegearbeiten in Esche und Perlmutt. Die Feuerstelle hatte ein Marmorsims mit einem lebensgroßen Relief von Aldones, dem Herrn des Lichts, und seinem Sohn, dem ersten Hastur, der um der Liebe der gesegneten Cassilda willen sterblich geworden war und einen Clan mit seinem Namen gegründet hatte.
Carolin und Orain hatten es sich bereits auf dem Sofa gegenüber der Feuerstelle gemütlich gemacht, und Jandria saß in einem Sessel. Lyondri trat von einem Fuß auf den anderen, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er bleiben sollte. Maura zog einen der verbliebenen Sessel in eine gemütliche Entfernung zum Feuer und bedeutete Varzil, das Gleiche zu tun. Der Sessel war aus Holz, wenn auch von schönem Entwurf und hervorragend gearbeitet, und nur ein besticktes Kissen machte ihn weicher. Maura setzte sich sehr aufrecht hin, die Füße ordentlich unter die Röcke gezogen, die Hände im Schoß gefaltet.
Varzil setzte sich ebenfalls. »Es ist kein Stuhl für Eduin mehr übrig.«
»Wir können Sean nach einem schicken«, sagte Carolin.
»Es ist nicht gerade der Zweck eines Wachtpostens, alltägliche Botengänge zu erledigen«, wandte Lyondri ein. »Vielleicht ist das in Arilinn anders.«
»Ich denke, wir vier zusammen können die Ehre der Damen schon verteidigen, wenn du dir deshalb Sorgen machst«, erklärte Orain lakonisch.
Lyondri verzog das Gesicht und wollte gerade antworten, als Jandria in Gelächter ausbrach und sagte: »Orain, wir können selbst auf unsere Ehre aufpassen.«
Maura fügte unbeschwert hinzu, dass sie mit zweieinhalb ausgebildeten Leronyn – der Halbe war Carolin – oder dreieinhalb, sobald Eduin auftauchte, nichts zu befürchten hatten. »Es wird wohl eher so enden, dass wir den armen Sean verteidigen, und nicht anders herum.«
Aber niemand sagte, dass es hier, im Familiensitz der Hasturs, nichts zu fürchten gab. Das mächtige Königreich von Hastur mochte im Augenblick Frieden haben, aber das garantierte keine persönliche Sicherheit für den König oder seine Erben.
Arilinn mit seinem Schleier, der nur jene einließ, die über Laran verfügten, war eine isolierte Festung. In einem Kreis, in den Ausbildungsräumen und selbst beim abendlichen Beisammensein teilten alle eine gewisse geistige Vertraulichkeit. Kein Außenseiter konnte in diese Gemeinschaft eindringen.
»Was ist denn?« Maura beugte sich zu ihm.
Varzil schüttelte den Kopf. Ein leichter Schauder, eine halbe Vorahnung, hatte seine Schultern zum Beben gebracht. »Ich dachte gerade an Arilinn, das so ... so unabhängig ist.«
Lyondri fragte, wo er gelebt hatte, bevor er nach Arilinn gekommen war. Obwohl es eine sehr höfliche Frage war, lag eine gewisse Schärfe darin, als wäre eine Klinge lautlos aus der Scheide gezogen worden.
Varzil störte sich nicht daran, obwohl er wusste, dass er das eigentlich tun sollte. Es gab hier so viele Unterströmungen wie in einem Fluss mit verborgenen Felsen und Riffen, Untiefen, unerwarteten Strudeln und Stromschnellen, die ein Schiff auf hungrige Felsen werfen konnten. Das sonnige, von Moos überzogene Ufer war wie die üppigen Möbel ein Köder und sollte jene, die nicht wachsam waren, einlullen. Er wusste noch nicht, wer seine Verbündeten waren und wessen geübtes Lächeln Eigensucht oder böse Absichten maskierte.
Er antwortete und tat so, als wäre die Frage nichts weiter gewesen als höfliche Neugier, aber bevor er mehr als ein paar Worte gesagt hatte, traf Eduin ein, gleichzeitig mit Dienern, die Tabletts mit heißem Gewürzwein, Brot, Winterfrischen Äpfeln und Schalen mit honigglasierten Nüssen und Gewürzküchlein brachten. Varzil erkannte diese besondere Mittwinterleckerei mit ihrer Glasur aus glitzernden Honigkristallen. Er sah auch, dass Eduins Jacke wieder makellos sauber war, und spürte die schwachen Spuren der geistigen Kraft, die Eduin verwendet hatte, um die Weinflecke zu entfernen.
»Ah, Eduin, du hast uns vor dem Verhungern gerettet!«, rief Carolin, griff nach der Schale mit den Nüssen und bot sie den anderen an. Maura nahm ein paar, ebenso wie Orain und Lyondri, aber Jandria erklärte, sie würde lieber auf das richtige Abendessen warten.
Als er das Essen roch, wurde Varzil ein wenig übel. Er identifizierte das sofort als eine Mischung aus Erschöpfung nach der langen Reise und der Verausgabung von Laran, als er den Wein aufgehoben hatte. Er biss in ein Stück Gebäck, trank aber nichts, denn er wusste, wie heftig sich der Alkohol auswirken würde, solange er so hungrig war. Das hier war keine Umgebung, in der er seinen Geist betäuben wollte.
Eduin bediente sich ebenfalls bei den Süßigkeiten, nahm aber auch einen Kelch der dampfenden Flüssigkeit entgegen. Einen langen verlegenen Augenblick, nachdem die Diener das Zimmer verlassen hatten, saßen und standen die neuen Freunde da und taten so, als konzentrierten sie sich auf das Essen.
Carolin brach schließlich das Schweigen und wandte sich an seinen Vetter Lyondri. »Rakhal lässt sich heute Abend Zeit. Hat er unserer Gesellschaft vollkommen entsagt?«
»Er hat sich sehr um den König bemüht, seit du nach Arilinn gegangen bist«, sagte Orain mit seltsamem Zögern.
»Du sagst das, als wäre es nicht das angemessene Verhalten für einen Verwandten«, erwiderte Maura spitz. »Aber wer sonst sollte sich um Seine Majestät kümmern, wenn der König Hilfe braucht?«
Carolin stellte die Schale mit den Nüssen neben die andern Gefäße. Er runzelte die Stirn, und seine Stimme klang ein wenig angespannter. »Man hat mich nicht informiert, dass der König krank ist. Warum hat man mir keine Botschaft nach Arilinn geschickt?«
»Er ist nicht krank gewesen, jedenfalls nicht wirklich. Es handelt sich nur um die natürliche Gebrechlichkeit hohen Alters«, sagte Maura. »Es gibt Beschwerden, die man nicht heilen kann.«
»Es gab keinen Grund, dich zu stören«, fügte Lyondri hinzu. »Prinz Rakhal hat persönlich jeden Aspekt der Fürsorge für den König überwacht.«
»Prinz Rakhal?«, fragte Carolin und hob den Kopf. »Sind wir so förmlich miteinander geworden?«
»Er ist der Sohn des jüngsten Bruders des Königs«, sagte Lyondri. »So wie Ihr der des nächstälteren seid, Euer Hoheit. Eure Rückkehr nach Hali hat Euch dem Tag, an dem Ihr den Thron besteigt, einen Schritt näher gebracht. Ihr müsst daher die Würde annehmen, die Eurem Rang zufällt.«
Carolin warf einen Blick von Maura zu Orain und dann zu Jandria, um zu sehen, wer von ihnen diese Aussage ernst nahm.
»Wir sind keine Spielgefährten mehr, die an nichts anderes denken als an die Freuden von morgen«, erklärte Maura ernst. »Lyondri hat ganz Recht.«
»Maura, ich will nie etwas anderes sein als dein wahrer Freund«, sagte Carolin.
»Du wirst eines Tages mein König sein«, erklärte sie. »Und das ist ein Schicksal, dem wir alle nicht entgehen können.«
Carolin setzte sich wieder neben Orain und streckte die Beine zum Feuer hin. »Bitte verschwendet nicht eure Zeit mit Titeln. Es gibt genug Kräfte in der Welt, die selbst Brüder voneinander trennen, ohne dass man noch künstliche Schranken errichten muss. Hier in diesem Zimmer sind wir Verwandte und Freunde. Wir erinnern uns doch sicher alle an die Stunden, die wir als Kinder in diesen Hallen im Spiel verbracht haben. Jetzt komm und setz dich neben mich, Lyondri. Entspann dich. Lass uns diese Feiertage genießen, unsere Verbindung mit alten Freunden erneuern und neue begrüßen. Es wird später noch genug Zeit sein, um über Staatsangelegenheiten zu sprechen.«
Ein seltsamer Ausdruck zuckte über Lyondris Züge, als er sich hinsetzte. Es war ihm zweifellos nicht entgangen, was es bedeutete, dass Carolin ihn bat, sich zu seiner Rechten niederzulassen. Die angespannten Linien um Kinn und Mund glätteten sich, und das gab ihm einen offeneren, großzügigeren Ausdruck.
Und so saßen sie da, unterhielten sich über bedeutungslose Dinge – Orains Lieblingsstute hatte gefohlt; eine Dame, die sichtlich von einem anderen Mann schwanger war, hatte geheiratet; der Versuch des königlichen Kochs, einen Kuchen in Form eines fliegenden Drachen herzustellen, war katastrophal gescheitert –, bis man sie zum Abendessen rief und sie unbeschwert die Treppe hinuntereilten.