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Eines Morgens Anfang Herbst schien die große rote Sonne von Darkover am Eingang zum Turm Arilinn schräg auf den Hof. Polierter Granit, in den durchscheinende blaue Steine eingefügt waren, bildete den Boden und zwei Mauern. Alles war so kunstvoll geformt und zusammengesetzt, dass nicht einmal ein Grashalm oder eine Efeuranke Wurzeln schlagen konnte. Steil aufragend, bildeten die Mauern eine Schlucht, in der die Kälte der Nacht erhalten blieb. Auf der anderen Seite umschloss ein anmutiger Torbogen den bunten Schleier, der nur jenen mit echtem Comyn-Blut, Angehörigen der mit psychischen Kräften gesegneten darkovanischen Adelsschicht, den Zutritt gestattete. In dem indirekten Licht des Morgens ähnelte der Schleier einem Wasserfall aus den zerfallenden Farben des Regenbogens.

Als er sich in der finstersten Stunde der Nacht in den Hof geschlichen hatte, war Varzil Ridenow darauf bedacht gewesen, dem Schleier nicht zu nahe zu kommen. Selbst hier, in der Ecke, in der er sich zusammengerollt hatte, um dösend den Tagesanbruch abzuwarten, spürte er, wie dessen Macht an seinen Nerven zerrte.

Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben ...

Die Worte hallten in seinen Gedanken wider wie der Refrain einer Ballade. Er war ein Ridenow und besaß die Gabe des Laran, die wahre Donas. Er wusste es schon, seit er zum ersten Mal die Ya-Männer ihre Klagelieder in den fernen Hügeln unter den vier Mittsommermonden hatte singen hören. Damals war er acht Jahre alt gewesen, alt genug, um zu verstehen, dass da etwas war, was man weder sehen noch fassen konnte, und alt genug, um zu wissen, dass er darüber schweigen sollte. Er hatte gesehen, wie sein Vater, Dom Felix Ridenow, bei diesem Thema verstummte und seine Kiefer anspannte. Nun war er sechzehn, älter als die meisten, wenn sie ihre Ausbildung im Turm begannen, und sein Vater hätte die ganze Sache am liebsten vergessen und so getan, als besäße sein jüngster Sohn die Gabe nicht.

Varzil war all die vielen Meilen von seinem Zuhause nach Arilinn gereist, zusammen mit seinem Vater und einigen Angehörigen, um dem Comyn-Rat offiziell vorgestellt zu werden. Sein älterer Bruder Harald, der einmal Klarwasser erben sollte, war vor drei Jahren auf ähnliche Weise begutachtet worden, aber damals war Varzil noch zu jung gewesen, um ihn zu begleiten. Seine derzeitige Anerkennung war eindeutig ein politischer Schachzug, um den Status der Ridenows zu stärken. Viele der anderen großen Häuser betrachteten sie als Emporkömmlinge, kaum zivilisierter als ihre Vorfahren aus den Trockenstädten. Es ärgerte sie, einem Ridenow die Achtung eines Gleichen unter Gleichen entgegenbringen zu müssen.

Der Frieden, den Allart Hastur zwischen seinem Königreich und dem der Ridenows geschlossen hatte, war bisher weder lang noch tief genug gewesen, um die Erinnerung an die blutige Auseinandersetzung, die dem Abkommen vorausgegangen war, vergessen zu lassen. Dom Felix verhielt sich nie anders als ausgesucht höflich gegenüber den Hasturs, aber Varzil spürte ihre Zweifel – ihre Furcht.

Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben ...

Dann hätte er sich nicht zu dieser verbrecherisch frühen Stunde aus der Verborgenen Stadt schleichen müssen, um halb erfroren darauf zu warten, dass jemand im Turm ihn einließ. Er hoffte, dass es bald geschähe, bevor seine Abwesenheit entdeckt und die Jagd auf ihn eröffnet wurde. Die Ratssitzung war beinahe vorüber, und viel galt es nicht mehr zu erledigen. Dom Felix würde nicht zögern, nicht, nachdem Katzenmenschen in den Bergen unweit der Schafsweiden gesichtet worden waren.

Varzil schlang den Umhang enger um seine Schultern und achtete darauf, dass seine Zähne nicht mehr so laut klapperten. Der fein gewobene Zwirn war für die höfische Etikette gedacht, nicht als Schutz gegen die Elemente.

Aldones sei Dank, dass es eine klare Nacht war.

In den langen Stunden spürte Varzil das Wirbeln und Tanzen psychischer Kräfte hinter den Turmmauern. Die blendend grelle Energie des Schleiers peinigte seine Nerven und machte ihn empfänglich für das leiseste telepathische Raunen.

Ein Großteil der Arbeit im Turm wurde verrichtet, wenn gewöhnliche Menschen schliefen, um der psychischen Statik der vielen ungeschulten Gemüter möglichst wenig ausgesetzt zu sein. So nahe der Stadt wurde noch der zufälligste Streustrahl oder Gefühlsausbruch, der es kaum wert war, Laran genannt zu werden, zu einer leichten Störung, die sich mit der Zeit verstärkte, hatte man ihm erzählt. Aus diesem Grund standen Türme wie Hali und der jetzt in Trümmern liegende Tramontana abseits menschlicher Siedlungen. In den langen Stunden der Dunkelheit schickten begnadete Arbeiter per Relais Botschaften über hunderte von Meilen und luden gewaltige Laran-Batterien auf, die unzähligen Zwecken dienten, darunter der Energieversorgung von Luftwagen, der Beleuchtung der Königspaläste und dem Abbau kostbarer Minerale; ja sie ermöglichten sogar die behutsame Heilung von Körper und Geist.

Varzil war in dieser Nacht schon ein Dutzend Mal eingenickt und wieder aufgeschreckt. Bei jedem Erwachen schienen seine Sinne schärfer geworden zu sein. Kraft seines Geistes spürte er Farben und Melodien, von deren Existenz er nicht einmal etwas geahnt hatte. Er vernahm Stimmen, ein Wort hier und da, Redewendungen, die befrachtet waren mit geheimer Bedeutung und ihn nach mehr lechzend zurückließen. Der regenbogenartige Schleier funkelte nicht mehr in der Ferne, sondern ging ihm widerhallend durch Mark und Bein.

Eine Bewegung erregte Varzils Aufmerksamkeit, ein Schatten unter Schatten. Schlank, in grauen Pelz gekleidet, vorgebeugt wie ein verhutzelter kleiner Mann, schlüpfte eine Gestalt durch den Schleier. Sie blieb stehen, einen leeren Korb fest in den Klauen, und starrte ihn an.

Varzil setzte sich aufrecht und zog den dünnen Umhang noch enger um seine Schultern. Er erkannte in dem Wesen einen Kyrri, die Serrais, das Oberhaupt der Ridenows, sich in geringer Zahl als Diener hielt. Sie sollten telepathisch sehr begabt sein, aber auf jede Annäherung heftig reagieren. Bei seiner Vorbereitung auf den Besuch in Arilinn hatte sein Vater ihn vor ihren schützenden elektrischen Feldern gewarnt. Dennoch streckte er die Hand nach ihm aus.

»Schon in Ordnung«, murmelte er. »Ich tue dir nicht weh.«

Etwas strich über Varzils Hinterkopf, gleichzeitig federleicht und unangenehm, als streichele jemand seine Haut. Aber nein, es geschah im Innern seines Kopfes. Plötzlich durchlief ihn ein Gefühl der Neugier, das ebenso rasch, wie es gekommen war, wieder verflog.

Das Wesen musterte ihn. Wollte es etwas von ihm? Er hatte nichts zu essen – und dann begriff er, dass er als Tier von ihm dachte und nicht als intelligentes, wenn auch nicht unbedingt menschliches Wesen.

Ohne einen Laut eilte der Kyrri davon. Varzil sah, wie er den äußeren Hof überquerte und in eine Seitengasse abbog. Er hatte den Eindruck, auf geheimnisvolle Weise einer Prüfung unterzogen worden zu sein, und wusste nicht, ob er bestanden hatte.

»Sieh doch – da unten!«, rief über ihm eine Stimme. »Irgendein Taugenichts lagert auf unserer Schwelle!«

Varzil reckte den Hals und starrte zu einem Balkon hoch, der zu beiden Seiten des Schleierbogens um den Turm herumführte. Zwei ältere Jungen beugten sich vor und deuteten auf ihn. Sie schienen noch nicht ganz zwanzig zu sein; die Stimmen waren schon tief, die Taillen und Hüften schlank, aber sie hatten noch die Schultern junger Männer.

»Du da! Kerl! Was hast du hier zu suchen?«

Etwas an der Stimme nervte Varzil. Aber vielleicht war es auch nur die Verwirrung über die Begegnung mit dem Kyrri, die ihn zu der gereizten Antwort verleitete: »Was geht euch das an? Ich bin hier, um den Bewahrer des Turms Arilinn zu sprechen, und der seid ihr nicht!«

»Wie kannst du es wagen, so mit uns zu reden!« Der Jüngling auf dem Turm beugte sich weiter vor. »Du unverschämter Nichtsnutz!«

Der zweite Junge zog seinen Freund zurück. »Eduin, du hast nichts davon, ihn zu verspotten. Da unten kann er uns nichts anhaben, und er ist eindeutig kein Straßenbettler. Diese Worte sind deiner nicht würdig.« Er sprach mit dem Akzent eines Tiefland-Aristokraten.

Varzil rappelte sich mit pochendem Herzen auf. Ein Dutzend Entgegnungen kam ihm in den Sinn. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er biss weiter fest die Zähne zusammen, obwohl der Atem durch sie hindurchzischte. Er hatte nicht den größten Teil seines Lebens damit verbracht, weitaus schlimmere Beleidigungen über sich ergehen zu lassen, um jetzt die Nerven zu verlieren.

Was fiel dem Lümmel ein, ihn so herauszufordern? Was stimmte mit ihm nicht? Höflichkeit kostete nichts, aber durch Beleidigungen konnte man sich Feinde machen. Wenn er Erfolg hatte, würden diese Jungs vielleicht seine Mitschüler werden. Aber es spielte ja nur die Meinung einer einzigen Person wirklich eine Rolle – die des Bewahrers.

Er beschloss, kein weiteres Wort darüber zu verlieren, und verbeugte sich vor ihnen. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, wenn er die Situation nicht verschlimmern wollte.

Der Junge namens Eduin zog sich von dem Balkon zurück und murmelte etwas über angemessenen Respekt gegenüber der Würde des Turms. Varzil riss sich so sehr zusammen, seine Zunge im Zaum zu halten, dass er nicht jedes Wort mitbekam. Aber der andere Jüngling, der, der sich wohlweislich zurückhielt, blieb vor Ort.

Varzil hob den Blick. Die Sonne glitzerte im strahlenden Rot der Haare des anderen Jungen, ließ seine grauen Augen und die regelmäßigen Züge aufleuchten. Beide Turmjungen trugen schlichte Kleidung, Tuniken mit breiten Ledergürteln, ohne einen Hinweis auf ihren Clan oder Rang.

»Kerl«, rief er nach unten, und diesmal war nichts Beleidigendes an dem Wort. Seine Stimme war kräftig und klar, als wäre er als Sänger ausgebildet worden. »Was willst du vom Bewahrer des Turms Arilinn?«

»Ich bin hier ... um dem Turm beizutreten.« Es war heraus.

Für einen langen Moment musterte der Jüngling ihn weiter. Mit einem Nicken und den Worten »Warte hier« verschwand er wieder im Turm.

Varzil ließ den Atem entweichen, von dem er gar nicht gemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte. Während er sich zu beruhigen versuchte, schimmerte der Schleier und teilte sich wie ein irisierender Wasserfall. Ein Mann im lose fallenden weißen Gewand eines Überwachers trat hindurch. Grau beherrschte sein kastanienbraunes Haar, und sein Mund wurde von Linien eingerahmt, die auch unter seinen Augen verliefen. Einige Schritte hinter ihm folgte der Jüngling vom Balkon. Auf diese Nähe erschreckte Varzil die herrische Ausstrahlung des anderen Jungen.

Der Mann im weißen Gewand blieb stehen, und sein Blick schweifte über die Farben von Varzils Umhang, das Gold und Grün seines Clans.

»Vai dom ...«, brach Varzil schließlich das Schweigen. »Ich bin Varzil Ridenow, der jüngere Sohn des Dom Felix von Klarwasser. Ich bin gekommen, um hier eine Ausbildung anzutreten. Wollt Ihr so freundlich sein und mich zum Bewahrer begleiten?«

Der strenge Mund entspannte sich zum Ansatz eines Lächelns. »Junger Sire, nichts hielte ich für angemessener. Ich kann mich ganz sicher nicht erdreisten, die Entscheidung zu treffen, was mit Euch geschehen soll.«

Auf eine entsprechende Geste des Weißgewandeten näherte Varzil sich dem Schleier. Noch nie war er einem so mächtigen Matrixgebilde dermaßen nahe gewesen, nur persönlichen Sternensteinen oder dem telepathischen Dämpfer, den die Leronis im Haushalt der Ridenows immer verwendete, wenn seine Mutter wieder einen ihrer Ohnmachtsanfälle hatte.

Er hob eine Hand, die Finger ausgestreckt, wagte es aber noch nicht, den Schleier zu berühren. Wozu diente er, abgesehen von seiner Schönheit? Zwei Personen – drei, wenn er den Kyrri mitrechnete – hatten ihn passiert, als wäre er ein Gespinst aus Watte.

Er wandte den Kopf und sah, dass der Überwacher ihn eindringlich musterte. Also eine weitere Prüfung. Er hob das Kinn und schritt voran.

Der Schleier sah wie ein dünner Regenbogennebel aus, und er hatte erwartet, dass er sich kühl und vielleicht feucht anfühlte. Sobald er ihn berührte, wallte er vor ihm auf und schloss ihn ein. Er keuchte auf, sog jäh den Atem ein, der den metallischen Beigeschmack eines Gewitters hatte. Seine Haut kribbelte am gesamten Körper, jedes Härchen stellte sich auf. Die kleinen Muskeln um seine Augen zuckten. Er spürte seine Fingerspitzen nicht mehr.

Im nächsten Augenblick stand er zitternd in einem fensterlosen Würfel. Obwohl er sich nicht länger direkt in einem Matrixfeld befand, spürte er die Energie in dem kleinen Raum, als handele es sich ebenfalls um ein Laran-Gebilde. Als er sich umwandte, machte er verschwommen und schattenhaft einige Schemen aus. War das so etwas wie eine Falle? Eine weitere Prüfung?

Dann trat der weiß gewandete Überwacher durch den Regenbogenschleier. Der Jüngling folgte ihm grinsend.

»Ich hab’s dir doch gesagt«, meinte der Jüngling.

Was gesagt?, überlegte Varzil.

Der Mann bewegte die Hände, als bediene er etwas, und Varzils Magen sackte durch. Nein, er stand noch auf festem Boden, aber der Raum selbst stieg empor. Im nächsten Augenblick hörte es wieder auf, und sie traten durch einen Torbogen in einer Wand. Der beleuchtete Raum dahinter öffnete sich zu einer breiten Terrasse hin.

So prächtig konnte nicht einmal der Ballsaal der größten Burg auf Darkover sein, dachte Varzil. Wandteppiche bedeckten die Wände, leuchteten in satten Farben und zeigten Szenen mit Jagdgruppen, Chieri, die im Wald unter den vier Monden tanzten, Adler, die hoch über den Hellers ihre Kreise zogen. Die Bodenfliesen bildeten ein kompliziertes Mosaik, das sich dem Blick reichhaltig und beruhigend darbot. Am anderen Ende des Raums verbreitete ein Feuer Wärme und den Geruch von Räucherwerk.

Armsessel und eine lange Bank, auf der sich Kissen türmten, verliefen in einem Halbkreis vor der Feuerstelle. Eine Frau und zwei Männer saßen dort und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Der Blick der Frau begegnete Varzils. Sie war ungefähr in dem Alter von Varzils Lieblingstante, klein und gedrungen, ohne dick zu sein, und die Falten um ihre Augen erweckten den Eindruck, als wolle sie jeden Moment in Gelächter ausbrechen. Sie stand auf und schickte die Männer mit einer Geste weg, etwas, was keine Frau in Varzils Familie jemals gewagt hätte.

»Auch du, Carlo, fort mit dir«, sagte sie zu dem rothaarigen Jüngling.

»Aber ...«, protestierte er.

Sie verschränkte die Arme vor der ausladenden Brust, die mit einem Schal drapiert war, und brachte ihn zum Schweigen. »Was jetzt geschieht, geht dich nichts an.«

Der Jüngling verbeugte sich mit akurater Höflichkeit und verließ den Raum durch den Torbogen gegenüber, aber nicht, ohne kurz in Varzils Richtung gezwinkert zu haben.

Varzil stockte der Atem. Nach den Jahren der Sehnsucht, den Monaten des Planens, der nächtlichen Flucht und den langen Stunden des Wartens geschah alles viel zu schnell.

Einmal, als er auf der Suche nach Adlerfedern die zerklüfteten Berge bei Serrais hinaufgestiegen war, hatte Varzil den Halt verloren und war einen von Geröll bedeckten Hang hinuntergepurzelt. Felsen und Himmel waren durcheinander gewirbelt, während die Steine aus einem Dutzend verschiedener Richtungen gleichzeitig auf ihn herabgeprasselt waren. Schlitternd war er zum Stillstand gekommen und hatte dort lange Zeit gelegen, keuchend und voll blauer Flecke, erstaunt darüber, dass er noch lebte, während er zum wolkenlosen Himmel hinaufstarrte.

So fühlte er sich auch jetzt wieder, obwohl sein Körper nicht schmerzte. Undeutlich hörte er die Stimme der Frau, die von einem warmen Frühstück sprach. Er spürte auf seinen Schultern ihre Hände, die ihn zu einem Stuhl am Feuer führten.

»Himmlische Evanda, du bist ja halb erfroren!«, rief sie. »Ganz zu schweigen von ...« Varzil konnte ihren nächsten Worten nicht folgen. »... Energon-Kanälen – gerade so, als hättest du zwei Nächte lang pausenlos durchgearbeitet!«

Im nächsten Moment drückte sie ihm einen Becher mit dampfendem Jaco in die Hände. Er spürte die Wärme durch die schwere Keramik mit den raffinierten Einlegearbeiten, die Glätte der Lasur. Der Jaco war mit Honig gesüßt und mit einem Kraut versehen, das er nicht kannte. Er schluckte ihn gehorsam, obwohl er auf der Zunge brannte. Erst da wurde ihm bewusst, wie schrecklich er zitterte.

»Hier, iss das«, sagte die Frau und reichte ihm eine Schale mit einer Art Nussbrei, über den Sahne gegossen war. »Kannst du einen Löffel halten?«

Varzils Finger krampften sich um den Griff. Seine Hand zitterte, aber es gelang ihm, einen Mund voll zu sich zu nehmen. Was auch immer geschah, er würde nicht zulassen, dass man ihn wie ein Kleinkind fütterte.

Der Brei erwies sich als Mischung aus Hafer, Haselnüssen und getrockneten Äpfeln, mit Zimt gewürzt. Er schmeckte köstlich und verband das Erdige des Weizens mit der Knackigkeit der Nüsse und der Saftigkeit von Obst.

Varzils Sicht klärte sich wieder, und seine Hände beruhigten sich. Er dankte der Frau und fügte hinzu: »Das schmeckt großartig.«

»Soll es auch«, sagte sie, was ihn abermals an seine Tante erinnerte. »Iss alles auf. Herr des Lichts, Junge, du siehst aus, als hättest du seit einem Zehntag keine anständige Mahlzeit mehr bekommen!«

Varzil ließ den Löffel sinken. »Ich bin Euch dankbar, Vai domna, aber ich bin nicht hier, um eine Mahlzeit zu erbetteln.« Er hielt ihr die Schale hin.

»So einen stolzen Unfug will ich nicht hören«, entgegnete sie. »Ich bin die Hausmutter aller Novizen hier, und wenn ich sage, esst, dann essen sie. Auch die königlichen. Ist das klar?«

Varzil hatte erst zwei oder drei weitere Löffel genommen, als die Tür gegenüber sich öffnete und ein hoch gewachsener Mann mit breiten Schultern den Raum betrat.

Rost und Silber mischten sich im ordentlich geschnittenen Haupthaar und Bart. Seine Gesichtszüge waren zu unregelmäßig, um auf herkömmliche Weise schön zu wirken, mit seinen übergroßen Ohren und dem schiefen Mund. Der Blick, der Varzil musterte, kam aus Augen, die so blau und dunkel wie Lapislazuli waren. Eine Aura stählerner Macht umgab den Mann.

Dabei trug er gewöhnliche Kleidung, bequem und warm, eine mit hellen Stickereien gesäumte Lederweste über einer von einem Gürtel zusammengehaltenen Linex-Tunika und eine weite Hose, die in wadenhohen Schnürstiefeln steckte. Eine Kette aus dunkelgrauem Metall hing um seinen Hals, die unter seinem Hemd verschwand.

Durch eine andere Tür betraten zwei weitere Männer den Raum. Einer war der Weißgewandete, der Varzil in den Turm gebracht hatte. Der andere trug einen Umhang von einem weichen Dunkelgrün. Dennoch zweifelte Varzil nicht daran, wer hier das Sagen hatte.

Varzil stand auf und verbeugte sich tief vor dem Mann mit den breiten Schultern.

Du bist also der junge Ridenow, der im Turm Arilinn ausgebildet werden will? Die Stimme klang grell wie ein Schwert auf dem Amboss. Noch nie hatte jemand so unmittelbar zu Varzils Geist gesprochen oder mit solch kristallener Klarheit. Selbst die Haushalt-Leronis, die ihn ansatzweise im Gebrauch seines Sternensteins unterrichtet hatte, hatte immer gedämpft geklungen, wie aus einem anderen Zimmer, wenn sie mit ihrem Laran zu ihm gesprochen hatte. Varzil erkannte, dass von allen Prüfungen, die er vielleicht noch ablegen musste, dies die ausschlaggebende und schwerste war. Erneut verbeugte er sich.

»Vai dom, der bin ich.«

»Dann setz dich, damit wir dich ein wenig näher kennen lernen können. Weißt du, wer ich bin?«

»Sire, Ihr seid Auster Syrtis, der Bewahrer des Turms Arilinn.«

»Jedenfalls einer von ihnen.« Ein Lächeln umspielte kurz die Mundwinkel des Mannes. »Wie kommst du darauf, dass ich das bin? Was macht dich so sicher?« Er deutete mit einer Hand auf seine Kleidung, als wolle er auf das Fehlen des traditionellen scharlachroten Gewandes hinweisen.

Hält er mich für einen so blinden Narren?, fragte sich Varzil. Seine Empörung wich, als der Mann unter schallendem Gelächter den Kopf nach hinten riss.

Während der nächsten Stunde saß Varzil vor dem angenehmen Feuer und beantwortete die Fragen der drei Männer. Die Frau, deren Name Lunilla war, saß schweigend in ihrem Sessel und bot den Männern manchmal Jaco und Varzil etwas zu essen an, in einer zeitlichen Abfolge, die nur für sie einen Sinn ergab. Niemand verlor ein Wort darüber.

Varzil zeigte ihnen den Sternenstein, den ihm die Haushalt-Leronis gegeben hatte, einen hellblauen Kristall von der Größe seines Daumennagels. Wie es ihm beigebracht worden war, bewahrte er ihn eingewickelt in Seide auf. Als er ihn herausnahm und in seinen bloßen Fingern hielt, erwachten die verdrehten Fäden der Helligkeit in seinem Innern lodernd zum Leben. Das Muster war zum ersten Mal erschienen, als er sich auf den Stein eingestellt hatte. Nun, unter dem anhaltenden Einfluss der psychischen Energien des Schleiers und des Kreises, spürte er ihn wie ein Lebewesen, das auf seine Berührung reagierte. Der Stein sang ihm etwas vor, tanzte mit ihm.

Varzil beantwortete Fragen und vollführte einige schlichte Laran-Übungen, die sehr denen ähnelten, die ihm die Leronis der Ridenows beigebracht hatten. Ohne seinen Sternenstein war er nicht sehr psychokinetisch begabt, obwohl er durch Konzentration eine kleine Feder zum Erzittern bringen konnte. Es bereitete ihm keine Mühe, Fragen zu verstehen, die lediglich gedacht und nicht laut gesprochen wurden. Gefühlsmäßige und Stimmungsschwankungen erschienen ihm so klar und deutlich wie auf verschiedenen Instrumenten gespielte musikalische Phrasen.

Als die Prüfung ihren Verlauf nahm, spürte Varzil, dass den unschuldig klingenden Fragen ein bedenklicher Unterton anhaftete. Bei ein oder zwei Gelegenheiten schnappte er im Ansatz einen rasch wieder verborgenen Gedanken auf und begriff, dass es nicht um die Qualität seines Laran ging.

Immer wieder drehten sich die Fragen darum, wie er hierher gekommen war und ob sein Vater von diesem Besuch wusste und seinen Segen erteilt hatte. Der Bewahrer fragte nie direkt, und doch haftete seinen Worten Misstrauen an. Vielleicht fürchteten sie, dass er aus einem anderen als dem genannten Grund gekommen sein könnte – um sich bei ihnen einzuschleichen, ihre Geheimnisse zu erfahren oder sie auf sonst eine Weise zu schwächen.

Aber sie mussten in seinen Gedanken doch die Wahrheit lesen ...

Allmählich dämmerte es ihm. Ja, sie waren misstrauisch, aber nur deshalb, weil sie ihn für krank hielten, und fürchteten, dass er der harten Ausbildung nicht standhalten könnte. Da Varzil ein Sohn Ridenows war, konnte sein Tod schwere Folgen haben. Seine Familie könnte sich gegen Hastur oder Asturias wenden, Vergeltung üben und so das Gleichgewicht der Macht zerstören. Seit den letzten Kriegen waren die politischen Verhältnisse prekär. Arilinn könnte in die Auseinandersetzung hineingezogen werden ...

Ich lasse mich nicht zu einer Schachfigur im Spiel eines kleinen Lords machen!

Mitten in einer Frage des Grüngewandeten erhob Varzil sich und verbeugte sich.

»Vai dom’yn«, sagte er in einem so ernsten Ton, dass der Mann sich im Satz unterbrach. »Ich beantworte gern alle Fragen zu meinem Hintergrund oder meiner Eignung für die Turmarbeit. Ihr habt ein Recht, solche Dinge zu wissen. Aber ...« Und hier verließ ihn beinahe der Mut. »... aber Ihr müsst mich auf der Grundlage meiner Fähigkeiten ablehnen oder zulassen. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen, niemand hat mich geschickt. Andere mögen ihr Laran missbrauchen, um Intrigen zu schmieden und zu spionieren, aber ich nicht«, sagte er und starrte Auster eindringlich an.

»Kinder wenden sich nicht auf diese Art an einen Bewahrer des Turms Arilinn!«, keuchte Lunilla. Der Grüngewandete runzelte die Stirn, aber Auster beugte sich vor und musterte Varzil noch eingehender mit diesen durchdringend blauen Augen.

»Nein, schon in Ordnung«, sagte Auster. »Er hat wie ein Mann gesprochen, also verdient er auch die Antwort eines Mannes. Junger Ridenow, du hast unleugbar Talent, aber du bist auch aus eigenem Antrieb, ohne Erlaubnis deines Vaters und gegen seinen Wunsch, zu uns gekommen. Wir sind nicht darauf vorbereitet, dir unter diesen Umständen hier einen Platz anzubieten. In diesen schwierigen Zeiten können wir nicht einfach jeden aufnehmen, der Laran besitzt. Wir von den Türmen müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um uns von den größeren Ereignissen der Welt fern zu halten.«

Hoffnungslos erkannte Varzil, dass er richtig vermutet hatte. Um zum Turm Arilinn zugelassen zu werden, bedurfte es weit mehr als des Wunsches und der Fähigkeiten. Nichts, was er sagte, konnte daran etwas ändern.

»Du scheinst von den Krankheiten, die beim Erwachen des Laran so häufig auftreten, verschont geblieben zu sein«, sagte der weißgewandete Überwacher, »sodass es nicht dringend geboten erscheint, durch die Ausbildung dein Leben oder deine geistige Gesundheit zu retten. Es liegt auch keine Notsituation vor, die es rechtfertigen würde, sich über die Wünsche deines Vaters hinwegzusetzen. Die Ausbildung, die du bereits durch die Leronis in eurer Familie erfahren hast, müsste genügen.«

Auster erhob sich und gab damit das Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Benommen stand Varzil da, als die Leronyn den Raum verließen, alle bis auf den Weißgewandeten. Er bedeutete Varzil, ihm zu folgen. Sie kehrten auf dem gleichen Weg zurück, begaben sich wieder in den seltsamen, von der Matrix errichteten Schacht wie zuvor, geleitet von rituellen Handbewegungen.

Beim Abschied sagte der Überwacher mit leiser Stimme zu Varzil: »Es war mir eine Freude, mit dir zu frühstücken. Mit dem Segen der Götter wird es dir wohl ergehen. Du wirst viele Söhne zeugen und deiner Familie Ehre machen.«

Aber die Vergeudung meiner Fähigkeiten ... Jäh schloss der Mann seine geistigen Pforten.

Ungeachtet persönlicher Gefühle würde der Laranzu sich nie gegen das Urteil des Bewahrers aussprechen.

Varzil schoss durch den Kopf, dass er den Turm im nächsten Augenblick verlassen würde. Er musste einen Weg zurück finden. Er wollte so viele Fragen stellen, so viel wissen! Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als die Sekunden verrannen. Plötzlich stellte er fest, dass er am Eingang des Turms Arilinn stand und das Morgenlicht die Straßen der Stadt erfüllte. Als er sich umdrehte, hatte sich das Tor geschlossen.

Zandrus Schmiede

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